Eine neue Studie zur »Lage der Integration in Deutschland«, diesmal vom »Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung« herausgegeben sorgte bereits gestern in Vorabmeldungen für einigen Wirbel. In der Studie »Ungenutze Potenziale« Kurzzusammenfassung, pdf wird ein »Integrations-Index« ermittelt und eine separate Beurteilung der Integrationserfolge nach Herkunftsgruppen vorgenommen.
Die ernüchternde Bilanz: »Zum Teil massive Integrationsmängel bestehen dagegen bei Migranten…vor allem bei der aus der Türkei. Von den hier lebenden 2,8 Millionen Türkischstämmigen ist knapp die Hälfte schon in Deutschland geboren. Diese zweite Generation schafft es jedoch kaum, die Defizite der meist gering gebildeten Zugewanderten aus den Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auszugleichen. So sind auch noch unter den in Deutschland geborenen 15- bis 64-Jährigen zehn Prozent ohne jeden Bildungsabschluss – siebenmal mehr als unter den Einheimischen dieser Altersklasse. Dementsprechend schwach fällt ihre Integration in den Arbeitsmarkt aus.« (Quelle: Abstract der Studie – pdf)
Neben den üblichen Appellen, die ein »offeneres« Zugehen der »Mehrheitsgesellschaft« auf die Migranten vorschlägt, wird durchaus die Notwendigkeit herausgestellt, den »Nutzen einer Qualifikation klarer als bisher zu machen um den Bildungshunger unter den Jüngeren zu wecken.«
Die in der Diskussion übliche Legende, Bildung und Herkunft (oder, auf den Bildungsnotstand deutscher Bürger heruntergebrochen: zwischen Bildung und Einkommen) korrelieren quasi schicksalhaft und unausweichlich, wird mindestens um diesen Punkt ergänzt.
Gänzlich absurd erscheinen solche wohlfeilen Urteile, wenn man die Integrations- und Bildungserfolge der Kinder eingewanderter Vietnamesen betrachtet, wie dies Martin Spiewak in der aktuellen Ausgabe der ZEIT macht. »Das vietnamesische Wunder« überschreibt er seinen Artikel, der feststellt:
Keine andere Einwanderergruppe in Deutschland hat in der Schule mehr Erfolg als die Vietnamesen: Über 50 Prozent ihrer Schüler schaffen den Sprung aufs Gymnasium. Damit streben mehr vietnamesische Jugendliche zum Abitur als deutsche. Im Vergleich zu ihren Alterskollegen aus türkischen oder italienischen Familien liegt die Gymnasialquote fünfmal so hoch. »Die Leistungen vietnamesischer Schüler stehen in einem eklatanten Gegensatz zum Bild, das wir sonst von Kindern mit Migrationshintergrund haben«, sagt die brandenburgische Ausländerbeauftragte Karin Weiss.
Die gängigen Argumentationsketten werden ganz schön durcheinandergerüttelt:
Zugleich stellt der Schulerfolg der Vietnamesen eine ganze Reihe vermeintlicher Wahrheiten der Integrationsdebatte infrage. Wer etwa meint, dass Bildungsarmut stets soziale Ursachen hätte, sieht sich durch das vietnamesische Beispiel widerlegt. Auch die These, Migranteneltern müssten selbst gut integriert sein, damit ihr Nachwuchs in der Klasse zurechtkomme, trifft auf die ostasiatischen Einwanderer nicht zu. Gewiss, vietnamesische Eltern der ersten Generation hatten – anders als die Türken oder Italiener – oftmals selbst einen höheren Schulabschluss. Aber auch sie sprechen meist kaum Deutsch, leben in einer Nische unter sich und bilden so etwas wie eine Parallelgesellschaft.
Vieles spricht dafür, dass es der gesellschaftliche und soziale Stellenwert von Bildung eine Rolle spielt, wie auch schon der ESC-Status der PISA-Studie nahe legt (nur, dass dies kaum jemand zur Kenntnis nehmen will, da liebgewordene Klischees einfacher zu pflegen sind):
Dass ihre Kinder dennoch zu den Musterschülern unter den Migranten wurden, ist der Beleg für die Kraft einer Kultur, deren Strebsamkeit selbst unter widrigen Bedingungen zum Aufstieg führt.
Eine Integrationsdebatte, die sich nur über finanzielle Zuwendungen definiert und keinerlei Ansprüche formuliert, wird scheitern. Integration hat ganz direkt mit Bildung und dessen Stellenwert in der Gesamtgesellschaft zu tun. Das gilt natürlich auch für die »Mehrheitsgesellschaft«, in der das, was man Bildung nennt, inzwischen oft genug ebenfalls eher als »elitär« desavouiert wird.
Interessant
Der Schulerfolg der viatnemesischen Kinder lässt einen provokanten Gedanken zu: Ist wirklich allein unser Schulsystem für die im Allgemeinen schlechteren Leistungen von Migrantenkindern verantwortlich? Oder müssten die Eltern hier nicht auch stärker in die Pflicht genommen werden?
Sie haben völlig Recht damit, dass man den Problemen durch finanzielle Zuwendungen nicht beikommen wird. Und die gebündelten Parameter des ESC-Status sind in der Tat aussagekräftiger als das monolithische Kriterium des Geldbeutels. Ferner stimme ich der von Ihnen angedeuteten Meinung zu, dass Bildung in der Mehrheitsgesellschaft keinen allzu hohen Stellenwert besitzt: Die Wirtschaft verlangt nach Spezialkräften mit genau definierten Fähigkeiten, der Mann auf der Straße kultiviert häufig eine populär-populistische Intellektfeindlichkeit.
Wie sehen Ihre Ideen zur Verbesserung der Bildungschancen von Migranten denn konkret aus?
Kritiker tun sich grundsätzlich schwer, Alternativen zu benennen. Streng genommen ist es nicht ihre Aufgabe – aber ich will nicht ausweichen.
Zunächst einmal ist mein Kernargument, dass die Vermittlung des Wertes von Wissen (Schule, Ausbildung) ein wesentliches Problem darstellt, welches nicht durch irgendwelche Massnahmen abgestellt werden kann. Ein Elternhaus, in dem Bücher als »langweilig« oder »überflüssig«, Professoren als »Sesselpupser« und Politiker von Hause aus als »korrupt« gelten wird diese »Werte« in ähnlicher Form an seine Kinder weitergeben. Hier kann man noch so viel tun – eine bestimmte Anzahl von Leuten wird man nie erreichen (und hat man auch nie erreicht). Das hat übrigens primär nichts damit zu tun, ob es sich um Migranten handelt oder nicht.
Da der Staat nur in Ausnahmefällen das Primat der Erziehung haben soll, können nur Massnahmen benannte werden, die in angebotsähnlicher Form maximal »sanften Druck« ausüben.
Folgende Punkte erachte ich für wichtig:
Ob das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft oder ausgesetzt gehört, vermag ich nicht zu beurteilen. Eine Aussetzung darf nicht dazu führen, dass sich eine Klassengemeinschaft ausschliesslich an den schwächsten Schülern orientiert. Diese müssen abseits vom Unterricht gefördert werden
Es gäbe noch viel zu sagen, aber das ist erst einmal ein grober, in Teilen eh illusionärer Ansatz.
Ich weiß nicht so recht mit dieser Studie umzugehen. In ihrer Vollfassung ist sie recht sensibel, auch wenn ich den ein oder anderen Punkt für wissenschaftlich fragwürdig halte: Mit »Migranten« bezeichnet das Berlin-Institut nicht nur die unmittelbar eingewanderten, sondern auch ihren hier geborenen Nachwuchs: “Immer mehr Migranten sind nicht selbst zugewandert”, heißt es auf Seite drei. Aha: Nicht selbst, sondern …? “[U]nter den türkischen und südeuropäischen [... Einwanderern], die zum Großteil als Gastarbeiter kamen, [ist] schon knapp die Hälfte in Deutschland geboren. Dagegen sind die Aussiedler [...] über drei Viertel [sic] selbst nach Deutschland gekommen.”
Das Glossar (Seite 93) formuliert eindeutig schärfer: »Menschen, die selbst zugewandert sind oder von denen mindestens ein Elternteil zugewandert ist, haben einen Migrationshintergrund. Sie sind nichtdeutscher Herkunft – mit Ausnahme der Aussiedler.« Den Verfassern zufolge bin ich also »nichtdeutscher Herkunft« – Nichtdeutscher. Irgendwie löst das ein gewisses Unbehagen in mir aus.
Darüber, wie differenziert die 95 Seiten schlussendlich sind, lässt sich schlussendlich eine ganze Weile streiten – die Redaktionen der Medien allerdings bemühen sich noch nicht einmal in Ansätzen, grundsätzlichere Differenzierungen zu vermitteln. Das wiederum liegt nicht allein an der bevorzugten Pflege »liebgewordene[r] Klischees«, wie Du sie nennst, sondern auch an der achtseitigen Zusammenfassung, aus der viel und gerne zitiert wird. Und die setzt auf der ersten Seite wie folgt an:
“In Deutschland leben rund 15 Millionen Menschen aus anderen Ländern beziehungsweise deren hier geborene Nachkommen. Fast 20 Prozent aller Einwohner haben damit einen so genannten Migrationshintergrund. [...] Weil die Kinderzahlen unter Migranten höher sind als die der einheimischen Deutschen, wächst der Anteil dieser Gruppe, selbst wenn es fortan keine weitere Zuwanderung gäbe. [...] Zugewanderte sind im Durchschnitt schlechter gebildet, häufiger arbeitslos und nehmen weniger am öffentlichen Leben teil als die Einheimischen.“
Ich kann daraus keinen wirklichen Vorwurf ableiten, nur – nochmal – mein Unbehagen zum Ausdruck bringen. Eine sensible Zusammenfassung liest sich anders, und bedient nicht schon im zweiten oder dritten Satz Ängste vor dem demographischen Untergang der Deutschen und den problematischen Türken.
Ratlos _ w
Danke für diesen Kommentar
Dass der Begriff des »Migranten« nicht eindeutig definiert ist, war mir einerseits entgangen, andererseits dachte ich, dass erklärt sei, dass man, obwohl die Leute hier geboren seien, diesen Status sozusagen aufgrund des »Umfelds« weiter fortschreibt. Daher die m. E. gespreizte Formulierung des »Migrationshintergrunds«, wobei zu definieren wäre, wann dieser »Hintergrund« aufhört (und man wäre überrascht, wer noch so alles diesen »Hintergrund« hat). Denkt man drüber nach (was ich vorher hätte tun können und sollen!) ist das natürlich mindestens zweideutig.
Auch in den 50er und 60er Jahren waren die »Migranten« aus aus den ehemaligen deutschen »Ostgebieten« und deren Kinder lange die »Einwanderer«, obwohl sie schnell assimiliert und auch akzeptiert waren.
Heinsohn vertritt die (wohl empirisch nachweisbare) These, dass die Kinderzahl der Migranten spätestens in der dritten Generation auf das (niedrige) Niveau der Mehrheitsgesellschaft runtergeht. Seine These ist, dass Deutschland eben gerade deshalb mehr Einwanderung braucht, weil die ökonomische Kraft mit der demografischen Entwicklung auf Dauer nicht zu halten sein wird.
Ich glaube, in Deutschland hat man sehr lange zwei Fehler gemacht:
Man hat einerseits »Gastarbeiter« herangeholt, die niedrige Arbeiten (Hilfsarbeiten) verrichten sollten. Als diese Hilfsarbeiten durch Automationsverfahren immer mehr überflüssig wurden, hat man es versäumt, Alternativen (Bildungs- und Weiterbildungsangebote) zu machen. Teilweise scheiterte das an den schlechten Sprachkenntnissen, auf denen man keinen Wert von seiten der Mehrheitsgesellschaft legte, weil man eh meinte, die Leute verlassen irgendwann einmal das Land. Die sozialen Probleme, die sich hieraus ergeben, wurden/werden sozialisiert – die Vorteile, die Unternehmen aus den Gastarbeitern zogen, sind privatisiert worden.
Die Regierung Kohl hat dann sehenden Auges an eine Ideologisierung der Debatte festgehalten. Deutschland wurde kein Einwanderungsland (Einwanderungsländer haben feste Regeln – und davor hatte man wohl Angst). Stattdessen saß man die Probleme aus und zog sich auf eine Wagenburgmentalität zurück.
Die Wagenburgmentalität
Urteile ich nach der Art und Weise, wie die Presse die Studie handhabt, kann ich davon ausgehen, dass »die Deutschen« ihre Wagenburgmentalität noch längst nicht abgelegt haben. [Was nicht heißen soll, dass ich allen »Nichtdeutschen« jegliche Verwicklung in dieser Sache abspreche. Aber ich folge grundsätzlich dem »Vorurteil«, dass Minderheiten selten »Schuld« an gewachsenen sozialen Missständen sind. Für mich steht an erster Stelle die Mehrheit in der Verantwortung, den ersten Schritt zu tun – und, wenn sie den versäumt hat, auch in der Nachholarbeit voranzugehen.] Selbst die T.A.Z. gebraucht den Begriff der Assimilation, auch wenn sie ihn in vorsichtige Anführungszeichen setzt. Aber Distanz zur Studie, Infragestellung der Begriffe und Definitionen – niente, nada, zero, null. Das Feld, das sich da quer über alle Berichterstattung skizzieren lässt, ist meiner Ansicht und Sorge nach ein extrem konservatives.
Hm. Ob »die Deutschen« ihre Wagenburgmentalität abgelegt haben oder nicht vermag ich nicht zu beurteilen. Hier jedoch mit dem Geigerzähler noch verstreute Partikel zählen zu wollen – ich weiss nicht, ob das fruchtbar wäre.
Die Diskussion wird sehr wohl geführt, inwiefern die »Mehrheitsgesellschaft« ihre Integrationspflichten vernachlässigt hat. Das Dilemma ist, dass dies teilweise vor dem Hintergrund der (angeblich gescheiterten) Multi-Kulti-Debatte stattfindet, d. h. das konservative Bürgertum nun die Rechnung glaubt präsentieren zu können.
An der Feststellung einer bestimmten Konstellation kann man (sollte man) Sprachkritik üben. Man darf den Tatbestand, dass da etwas im Argen ist, jedoch deswegen nicht leugnen und das gleich wieder als verbotenes Terrain betrachten.
Die Bemerkung, dass »Minderheiten« selten »Schuld« an gewachsenen sozialen Missständen haben, leuchtet mir einerseits ein – finde sie jedoch andererseits ein bisschen zu »politisch korrekt«, da die angesprochene Wagenburgmentalität mindestens teilweise auf beiden Seiten existierte bzw. existiert. Allerdings betrachte ich die Diskussion um Schuld und Nicht-Schuld als arg katholisch und wenig zielführend.