Ver­meint­li­che Wahr­hei­ten

Ei­ne neue Stu­die zur »La­ge der In­te­gra­ti­on in Deutsch­land«, dies­mal vom »Ber­lin-In­sti­tut für Be­völ­ke­rung und Ent­wick­lung« her­aus­ge­ge­ben sorg­te be­reits ge­stern in Vor­ab­mel­dun­gen für ei­ni­gen Wir­bel. In der Stu­die »Un­ge­nut­ze Po­ten­zia­le« Kurz­zu­sam­men­fas­sung, pdf wird ein »In­te­gra­ti­ons-In­dex« er­mit­telt und ei­ne se­pa­ra­te Be­ur­tei­lung der In­te­gra­ti­ons­er­fol­ge nach Her­kunfts­grup­pen vor­ge­nom­men.

Die er­nüch­tern­de Bi­lanz: »Zum Teil mas­si­ve In­te­gra­ti­ons­män­gel be­stehen da­ge­gen bei Migranten…vor al­lem bei der aus der Tür­kei. Von den hier le­ben­den 2,8 Mil­lio­nen Tür­kisch­stäm­mi­gen ist knapp die Hälf­te schon in Deutsch­land ge­bo­ren. Die­se zwei­te Ge­ne­ra­ti­on schafft es je­doch kaum, die De­fi­zi­te der meist ge­ring ge­bil­de­ten Zu­ge­wan­der­ten aus den Zei­ten der Gast­ar­bei­ter­an­wer­bung aus­zu­glei­chen. So sind auch noch un­ter den in Deutsch­land ge­bo­re­nen 15- bis 64-Jäh­ri­gen zehn Pro­zent oh­ne je­den Bil­dungs­ab­schluss – sie­ben­mal mehr als un­ter den Ein­hei­mi­schen die­ser Al­ters­klas­se. Dem­entspre­chend schwach fällt ih­re In­te­gra­ti­on in den Ar­beits­markt aus.« (Quel­le: Ab­stract der Stu­die – pdf)

Ne­ben den üb­li­chen Ap­pel­len, die ein »of­fe­ne­res« Zu­ge­hen der »Mehr­heits­ge­sell­schaft« auf die Mi­gran­ten vor­schlägt, wird durch­aus die Not­wen­dig­keit her­aus­ge­stellt, den »Nut­zen ei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on kla­rer als bis­her zu ma­chen um den Bil­dungs­hun­ger un­ter den Jün­ge­ren zu wecken.«

Die in der Dis­kus­si­on üb­li­che Le­gen­de, Bil­dung und Her­kunft (oder, auf den Bil­dungs­not­stand deut­scher Bür­ger her­un­ter­ge­bro­chen: zwi­schen Bil­dung und Ein­kom­men) kor­re­lie­ren qua­si schick­sal­haft und un­aus­weich­lich, wird min­de­stens um die­sen Punkt er­gänzt.

Gänz­lich ab­surd er­schei­nen sol­che wohl­fei­len Ur­tei­le, wenn man die In­te­gra­ti­ons- und Bil­dungs­er­fol­ge der Kin­der ein­ge­wan­der­ter Viet­na­me­sen be­trach­tet, wie dies Mar­tin Spie­wak in der ak­tu­el­len Aus­ga­be der ZEIT macht. »Das viet­na­me­si­sche Wun­der« über­schreibt er sei­nen Ar­ti­kel, der fest­stellt:

Kei­ne an­de­re Ein­wan­de­rer­grup­pe in Deutsch­land hat in der Schu­le mehr Er­folg als die Viet­na­me­sen: Über 50 Pro­zent ih­rer Schü­ler schaf­fen den Sprung aufs Gym­na­si­um. Da­mit stre­ben mehr viet­na­me­si­sche Ju­gend­li­che zum Ab­itur als deut­sche. Im Ver­gleich zu ih­ren Al­ters­kol­le­gen aus tür­ki­schen oder ita­lie­ni­schen Fa­mi­li­en liegt die Gym­na­si­al­quo­te fünf­mal so hoch. »Die Lei­stun­gen viet­na­me­si­scher Schü­ler ste­hen in ei­nem ekla­tan­ten Ge­gen­satz zum Bild, das wir sonst von Kin­dern mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund ha­ben«, sagt die bran­den­bur­gi­sche Aus­län­der­be­auf­trag­te Ka­rin Weiss.

Die gän­gi­gen Ar­gu­men­ta­ti­ons­ket­ten wer­den ganz schön durch­ein­an­der­ge­rüt­telt:

Zu­gleich stellt der Schul­erfolg der Viet­na­me­sen ei­ne gan­ze Rei­he ver­meint­li­cher Wahr­hei­ten der In­te­gra­ti­ons­de­bat­te in­fra­ge. Wer et­wa meint, dass Bil­dungs­ar­mut stets so­zia­le Ur­sa­chen hät­te, sieht sich durch das viet­na­me­si­sche Bei­spiel wi­der­legt. Auch die The­se, Mi­gran­ten­el­tern müss­ten selbst gut in­te­griert sein, da­mit ihr Nach­wuchs in der Klas­se zu­recht­kom­me, trifft auf die ost­asia­ti­schen Ein­wan­de­rer nicht zu. Ge­wiss, viet­na­me­si­sche El­tern der er­sten Ge­ne­ra­ti­on hat­ten – an­ders als die Tür­ken oder Ita­lie­ner – oft­mals selbst ei­nen hö­he­ren Schul­ab­schluss. Aber auch sie spre­chen meist kaum Deutsch, le­ben in ei­ner Ni­sche un­ter sich und bil­den so et­was wie ei­ne Par­al­lel­ge­sell­schaft.

Vie­les spricht da­für, dass es der ge­sell­schaft­li­che und so­zia­le Stel­len­wert von Bil­dung ei­ne Rol­le spielt, wie auch schon der ESC-Sta­tus der PI­SA-Stu­die na­he legt (nur, dass dies kaum je­mand zur Kennt­nis neh­men will, da lieb­ge­wor­de­ne Kli­schees ein­fa­cher zu pfle­gen sind):

Dass ih­re Kin­der den­noch zu den Mu­ster­schü­lern un­ter den Mi­gran­ten wur­den, ist der Be­leg für die Kraft ei­ner Kul­tur, de­ren Streb­sam­keit selbst un­ter wid­ri­gen Be­din­gun­gen zum Auf­stieg führt.

Ei­ne In­te­gra­ti­ons­de­bat­te, die sich nur über fi­nan­zi­el­le Zu­wen­dun­gen de­fi­niert und kei­ner­lei An­sprü­che for­mu­liert, wird schei­tern. In­te­gra­ti­on hat ganz di­rekt mit Bil­dung und des­sen Stel­len­wert in der Ge­samt­ge­sell­schaft zu tun. Das gilt na­tür­lich auch für die »Mehr­heits­ge­sell­schaft«, in der das, was man Bil­dung nennt, in­zwi­schen oft ge­nug eben­falls eher als »eli­tär« des­avou­iert wird.

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  1. In­ter­es­sant
    Der Schul­erfolg der via­tne­me­si­schen Kin­der lässt ei­nen pro­vo­kan­ten Ge­dan­ken zu: Ist wirk­lich al­lein un­ser Schul­sy­stem für die im All­ge­mei­nen schlech­te­ren Lei­stun­gen von Mi­gran­ten­kin­dern ver­ant­wort­lich? Oder müss­ten die El­tern hier nicht auch stär­ker in die Pflicht ge­nom­men wer­den?
    Sie ha­ben völ­lig Recht da­mit, dass man den Pro­ble­men durch fi­nan­zi­el­le Zu­wen­dun­gen nicht bei­kom­men wird. Und die ge­bün­del­ten Pa­ra­me­ter des ESC-Sta­tus sind in der Tat aus­sa­ge­kräf­ti­ger als das mo­no­li­thi­sche Kri­te­ri­um des Geld­beu­tels. Fer­ner stim­me ich der von Ih­nen an­ge­deu­te­ten Mei­nung zu, dass Bil­dung in der Mehr­heits­ge­sell­schaft kei­nen all­zu ho­hen Stel­len­wert be­sitzt: Die Wirt­schaft ver­langt nach Spe­zi­al­kräf­ten mit ge­nau de­fi­nier­ten Fä­hig­kei­ten, der Mann auf der Stra­ße kul­ti­viert häu­fig ei­ne po­pu­lär-po­pu­li­sti­sche In­tel­lekt­feind­lich­keit.
    Wie se­hen Ih­re Ideen zur Ver­bes­se­rung der Bil­dungs­chan­cen von Mi­gran­ten denn kon­kret aus?

  2. Kri­ti­ker tun sich grund­sätz­lich schwer, Al­ter­na­ti­ven zu be­nen­nen. Streng ge­nom­men ist es nicht ih­re Auf­ga­be – aber ich will nicht aus­wei­chen.

    Zu­nächst ein­mal ist mein Kern­ar­gu­ment, dass die Ver­mitt­lung des Wer­tes von Wis­sen (Schu­le, Aus­bil­dung) ein we­sent­li­ches Pro­blem dar­stellt, wel­ches nicht durch ir­gend­wel­che Mass­nah­men ab­ge­stellt wer­den kann. Ein El­tern­haus, in dem Bü­cher als »lang­wei­lig« oder »über­flüs­sig«, Pro­fes­so­ren als »Ses­sel­pup­ser« und Po­li­ti­ker von Hau­se aus als »kor­rupt« gel­ten wird die­se »Wer­te« in ähn­li­cher Form an sei­ne Kin­der wei­ter­ge­ben. Hier kann man noch so viel tun – ei­ne be­stimm­te An­zahl von Leu­ten wird man nie er­rei­chen (und hat man auch nie er­reicht). Das hat üb­ri­gens pri­mär nichts da­mit zu tun, ob es sich um Mi­gran­ten han­delt oder nicht.

    Da der Staat nur in Aus­nah­me­fäl­len das Pri­mat der Er­zie­hung ha­ben soll, kön­nen nur Mass­nah­men be­nann­te wer­den, die in an­ge­bots­ähn­li­cher Form ma­xi­mal »sanf­ten Druck« aus­üben.

    Fol­gen­de Punk­te er­ach­te ich für wich­tig:

    • Vor­schul­ähn­li­che Struk­tu­ren im Kin­der­gar­ten (= bes­se­re Aus­bil­dung der Kin­der­gärt­ne­rin­nen, die nicht nur blo­sse Spiel­mam­sel­len sein sol­len) um die Neu­gier von Kin­dern zu för­dern. (Bei Mi­gran­ten: Pflicht­un­ter­richt der deut­schen Spra­che ab Kin­der­gar­ten)
    • Flä­chen­decken­de Ganz­tags­schu­len (mit Mög­lich­keit ei­ner ko­sten­lo­sen Mahl­zeit) – hier­für müs­sen mehr Leh­rer und Fach­per­so­nal ein­ge­stellt wer­den.
    • In­di­vi­du­el­le­re Nach­mit­tags­be­treu­ung, in der schwä­che­re Schü­ler den Stoff des Vor­mit­tags ver­tie­fen kön­nen (die bes­se­ren kön­nen ihn an­der­wei­tig aus­ar­bei­ten), da­mit in der Klas­se die Ge­fäl­le nicht zu gross wer­den (schwä­che­re Schü­ler nicht mehr mit­kom­men und bes­se­re sich lang­wei­len und un­ter­for­dert sind).
    • Ko­sten­lo­se Schul­bü­cher und Schul­ma­te­ri­al (al­ler­dings nicht in Form von Geld, son­dern Gut­schei­nen [ken­ne ich, was Schul­bü­cher an­geht, noch aus ei­ge­ner Er­fah­rung]).
    • Ver­än­de­rung der Kom­pe­ten­zen, was Lehr­plä­ne an­geht – die Bun­des­re­pu­blik braucht ein Ein­heits­ab­itur. Der Schwach­sinn, ei­nen »Wett­be­werb« zwi­schen Bun­des­län­dern aus­zu­ru­fen, ge­hört ab­ge­schafft. Die KMK ist über­flüs­sig.
    • 13 Jah­re bis zum Ab­itur (die »Ru­he­zei­ten« kom­men eher da­durch zu Stan­de, dass die Kin­der zu spät ein­ge­schult wer­den, weil El­tern glau­ben, ih­nen noch mehr freie Zeit zu­ge­ste­hen zu müs­sen – und das nach dem Ab­itur erst ein­mal »Er­ho­lung« an­ge­sagt ist).
    • Ab­itur nicht um je­den Preis – statt sich in ei­ner Ab­itur­quo­te zu son­nen, soll­te Qua­li­tät wie­der Vor­rang ha­ben.
    • Un­ter­neh­men soll­ten mit dem Wahn­sinn auf­hö­ren, für je­de Stel­le min­de­stens Ab­itur, wenn nicht gar Hoch­schul­ab­schluss zu for­dern. Das hängt na­tür­lich da­mit zu­sam­men, dass das Bil­dungs­ni­veau über Jahr­zehn­te be­trach­tet ge­ne­rell stark ge­fal­len ist. Den­noch soll­ten Ein­stel­lungs­kri­te­ri­en fle­xi­bel und auf die je­wei­li­ge Per­son an­ge­wen­det wer­den. Ein sehr gu­ter Re­al­schü­ler, der ei­ne ho­he so­zia­le Kom­pe­tenz zeigt, ist ge­eig­ne­ter für ei­nen Pfle­ge­be­ruf als ein Ab­itu­ri­ent, der kein Blut se­hen kann (platt for­mu­liert).

    Ob das drei­glied­ri­ge Schul­sy­stem ab­ge­schafft oder aus­ge­setzt ge­hört, ver­mag ich nicht zu be­ur­tei­len. Ei­ne Aus­set­zung darf nicht da­zu füh­ren, dass sich ei­ne Klas­sen­ge­mein­schaft aus­schliess­lich an den schwäch­sten Schü­lern ori­en­tiert. Die­se müs­sen ab­seits vom Un­ter­richt ge­för­dert wer­den

    Es gä­be noch viel zu sa­gen, aber das ist erst ein­mal ein gro­ber, in Tei­len eh il­lu­sio­nä­rer An­satz.

  3. Ich weiß nicht so recht mit die­ser Stu­die um­zu­ge­hen. In ih­rer Voll­fas­sung ist sie recht sen­si­bel, auch wenn ich den ein oder an­de­ren Punkt für wis­sen­schaft­lich frag­wür­dig hal­te: Mit »Mi­gran­ten« be­zeich­net das Ber­lin-In­sti­tut nicht nur die un­mit­tel­bar ein­ge­wan­der­ten, son­dern auch ih­ren hier ge­bo­re­nen Nach­wuchs: “Im­mer mehr Mi­gran­ten sind nicht selbst zu­ge­wan­dert”, heißt es auf Sei­te drei. Aha: Nicht selbst, son­dern …? “[U]nter den tür­ki­schen und süd­eu­ro­päi­schen [... Ein­wan­de­rern], die zum Groß­teil als Gast­ar­bei­ter ka­men, [ist] schon knapp die Hälf­te in Deutsch­land ge­bo­ren. Da­ge­gen sind die Aus­sied­ler [...] über drei Vier­tel [sic] selbst nach Deutsch­land ge­kom­men.”

    Das Glos­sar (Sei­te 93) for­mu­liert ein­deu­tig schär­fer: »Men­schen, die selbst zu­ge­wan­dert sind oder von de­nen min­de­stens ein El­tern­teil zu­ge­wan­dert ist, ha­ben ei­nen Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund. Sie sind nicht­deut­scher Her­kunft – mit Aus­nah­me der Aus­sied­ler.« Den Ver­fas­sern zu­fol­ge bin ich al­so »nicht­deut­scher Her­kunft« – Nicht­deut­scher. Ir­gend­wie löst das ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen in mir aus.

    Dar­über, wie dif­fe­ren­ziert die 95 Sei­ten schluss­end­lich sind, lässt sich schluss­end­lich ei­ne gan­ze Wei­le strei­ten – die Re­dak­tio­nen der Me­di­en al­ler­dings be­mü­hen sich noch nicht ein­mal in An­sät­zen, grund­sätz­li­che­re Dif­fe­ren­zie­run­gen zu ver­mit­teln. Das wie­der­um liegt nicht al­lein an der be­vor­zug­ten Pfle­ge »liebgewordene[r] Kli­schees«, wie Du sie nennst, son­dern auch an der acht­sei­ti­gen Zu­sam­men­fas­sung, aus der viel und ger­ne zi­tiert wird. Und die setzt auf der er­sten Sei­te wie folgt an:

    “In Deutsch­land le­ben rund 15 Mil­lio­nen Men­schen aus an­de­ren Län­dern be­zie­hungs­wei­se de­ren hier ge­bo­re­ne Nach­kom­men. Fast 20 Pro­zent al­ler Ein­woh­ner ha­ben da­mit ei­nen so ge­nann­ten Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund. [...] Weil die Kin­der­zah­len un­ter Mi­gran­ten hö­her sind als die der ein­hei­mi­schen Deut­schen, wächst der An­teil die­ser Grup­pe, selbst wenn es fort­an kei­ne wei­te­re Zu­wan­de­rung gä­be. [...] Zu­ge­wan­der­te sind im Durch­schnitt schlech­ter ge­bil­det, häu­fi­ger ar­beits­los und neh­men we­ni­ger am öf­fent­li­chen Le­ben teil als die Ein­hei­mi­schen.“

    Ich kann dar­aus kei­nen wirk­li­chen Vor­wurf ab­lei­ten, nur – noch­mal – mein Un­be­ha­gen zum Aus­druck brin­gen. Ei­ne sen­si­ble Zu­sam­men­fas­sung liest sich an­ders, und be­dient nicht schon im zwei­ten oder drit­ten Satz Äng­ste vor dem de­mo­gra­phi­schen Un­ter­gang der Deut­schen und den pro­ble­ma­ti­schen Tür­ken.

    Rat­los _ w

  4. Dan­ke für die­sen Kom­men­tar
    Dass der Be­griff des »Mi­gran­ten« nicht ein­deu­tig de­fi­niert ist, war mir ei­ner­seits ent­gan­gen, an­de­rer­seits dach­te ich, dass er­klärt sei, dass man, ob­wohl die Leu­te hier ge­bo­ren sei­en, die­sen Sta­tus so­zu­sa­gen auf­grund des »Um­felds« wei­ter fort­schreibt. Da­her die m. E. ge­spreiz­te For­mu­lie­rung des »Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grunds«, wo­bei zu de­fi­nie­ren wä­re, wann die­ser »Hin­ter­grund« auf­hört (und man wä­re über­rascht, wer noch so al­les die­sen »Hin­ter­grund« hat). Denkt man drü­ber nach (was ich vor­her hät­te tun kön­nen und sol­len!) ist das na­tür­lich min­de­stens zwei­deu­tig.

    Auch in den 50er und 60er Jah­ren wa­ren die »Mi­gran­ten« aus aus den ehe­ma­li­gen deut­schen »Ost­ge­bie­ten« und de­ren Kin­der lan­ge die »Ein­wan­de­rer«, ob­wohl sie schnell as­si­mi­liert und auch ak­zep­tiert wa­ren.

    Hein­sohn ver­tritt die (wohl em­pi­risch nach­weis­ba­re) The­se, dass die Kin­der­zahl der Mi­gran­ten spä­te­stens in der drit­ten Ge­ne­ra­ti­on auf das (nied­ri­ge) Ni­veau der Mehr­heits­ge­sell­schaft run­ter­geht. Sei­ne The­se ist, dass Deutsch­land eben ge­ra­de des­halb mehr Ein­wan­de­rung braucht, weil die öko­no­mi­sche Kraft mit der de­mo­gra­fi­schen Ent­wick­lung auf Dau­er nicht zu hal­ten sein wird.

    Ich glau­be, in Deutsch­land hat man sehr lan­ge zwei Feh­ler ge­macht:

    Man hat ei­ner­seits »Gast­ar­bei­ter« her­an­ge­holt, die nied­ri­ge Ar­bei­ten (Hilfs­ar­bei­ten) ver­rich­ten soll­ten. Als die­se Hilfs­ar­bei­ten durch Au­to­ma­ti­ons­ver­fah­ren im­mer mehr über­flüs­sig wur­den, hat man es ver­säumt, Al­ter­na­ti­ven (Bil­dungs- und Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bo­te) zu ma­chen. Teil­wei­se schei­ter­te das an den schlech­ten Sprach­kennt­nis­sen, auf de­nen man kei­nen Wert von sei­ten der Mehr­heits­ge­sell­schaft leg­te, weil man eh mein­te, die Leu­te ver­las­sen ir­gend­wann ein­mal das Land. Die so­zia­len Pro­ble­me, die sich hier­aus er­ge­ben, wurden/werden so­zia­li­siert – die Vor­tei­le, die Un­ter­neh­men aus den Gast­ar­bei­tern zo­gen, sind pri­va­ti­siert wor­den.

    Die Re­gie­rung Kohl hat dann se­hen­den Au­ges an ei­ne Ideo­lo­gi­sie­rung der De­bat­te fest­ge­hal­ten. Deutsch­land wur­de kein Ein­wan­de­rungs­land (Ein­wan­de­rungs­län­der ha­ben fe­ste Re­geln – und da­vor hat­te man wohl Angst). Statt­des­sen saß man die Pro­ble­me aus und zog sich auf ei­ne Wa­gen­burg­men­ta­li­tät zu­rück.

  5. Die Wa­gen­burg­men­ta­li­tät
    Ur­tei­le ich nach der Art und Wei­se, wie die Pres­se die Stu­die hand­habt, kann ich da­von aus­ge­hen, dass »die Deut­schen« ih­re Wa­gen­burg­men­ta­li­tät noch längst nicht ab­ge­legt ha­ben. [Was nicht hei­ßen soll, dass ich al­len »Nicht­deut­schen« jeg­li­che Ver­wick­lung in die­ser Sa­che ab­spre­che. Aber ich fol­ge grund­sätz­lich dem »Vor­ur­teil«, dass Min­der­hei­ten sel­ten »Schuld« an ge­wach­se­nen so­zia­len Miss­stän­den sind. Für mich steht an er­ster Stel­le die Mehr­heit in der Ver­ant­wor­tung, den er­sten Schritt zu tun – und, wenn sie den ver­säumt hat, auch in der Nach­ho­l­ar­beit vor­an­zu­ge­hen.] Selbst die T.A.Z. ge­braucht den Be­griff der As­si­mi­la­ti­on, auch wenn sie ihn in vor­sich­ti­ge An­füh­rungs­zei­chen setzt. Aber Di­stanz zur Stu­die, In­fra­ge­stel­lung der Be­grif­fe und De­fi­ni­tio­nen – nien­te, na­da, ze­ro, null. Das Feld, das sich da quer über al­le Be­richt­erstat­tung skiz­zie­ren lässt, ist mei­ner An­sicht und Sor­ge nach ein ex­trem kon­ser­va­ti­ves.

  6. Hm. Ob »die Deut­schen« ih­re Wa­gen­burg­men­ta­li­tät ab­ge­legt ha­ben oder nicht ver­mag ich nicht zu be­ur­tei­len. Hier je­doch mit dem Gei­ger­zäh­ler noch ver­streu­te Par­ti­kel zäh­len zu wol­len – ich weiss nicht, ob das frucht­bar wä­re.

    Die Dis­kus­si­on wird sehr wohl ge­führt, in­wie­fern die »Mehr­heits­ge­sell­schaft« ih­re In­te­gra­ti­ons­pflich­ten ver­nach­läs­sigt hat. Das Di­lem­ma ist, dass dies teil­wei­se vor dem Hin­ter­grund der (an­geb­lich ge­schei­ter­ten) Mul­ti-Kul­ti-De­bat­te statt­fin­det, d. h. das kon­ser­va­ti­ve Bür­ger­tum nun die Rech­nung glaubt prä­sen­tie­ren zu kön­nen.

    An der Fest­stel­lung ei­ner be­stimm­ten Kon­stel­la­ti­on kann man (soll­te man) Sprach­kri­tik üben. Man darf den Tat­be­stand, dass da et­was im Ar­gen ist, je­doch des­we­gen nicht leug­nen und das gleich wie­der als ver­bo­te­nes Ter­rain be­trach­ten.

    Die Be­mer­kung, dass »Min­der­hei­ten« sel­ten »Schuld« an ge­wach­se­nen so­zia­len Miss­stän­den ha­ben, leuch­tet mir ei­ner­seits ein – fin­de sie je­doch an­de­rer­seits ein biss­chen zu »po­li­tisch kor­rekt«, da die an­ge­spro­che­ne Wa­gen­burg­men­ta­li­tät min­de­stens teil­wei­se auf bei­den Sei­ten exi­stier­te bzw. exi­stiert. Al­ler­dings be­trach­te ich die Dis­kus­si­on um Schuld und Nicht-Schuld als arg ka­tho­lisch und we­nig ziel­füh­rend.