Frank Wit­zel: In­ni­ger Schiff­bruch

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch
Frank Wit­zel:
In­ni­ger Schiff­bruch

Die Ka­no­ni­sie­rung des li­te­ra­ri­schen Gen­res der »Au­to­fik­ti­on« schrei­tet schein­bar vor­an. Mit »In­ni­ger Schiff­bruch« legt Frank Wit­zel, der 2015 mit sei­nem Buch­preis-Sie­ger­text »Die Er­fin­dung der Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on durch ei­nen ma­nisch-de­pres­si­ven Teen­ager im Som­mer 1969« schockier­te, über­for­der­te (zu­min­dest mich) und zu­gleich be­ein­druck­te (eben­so), ei­nen stark au­to­bio­gra­phi­schen Pro­sa­text über das Le­ben sei­ner El­tern und – was noch ent­schei­dend sein wird – sei­nen hier­aus ent­stan­den Le­bens­prä­gun­gen vor. Der Ti­tel er­in­nert ein we­nig an »Wunsch­lo­ses Un­glück«, wie Pe­ter Hand­ke 1972 sei­nen Ver­such über den Frei­tod sei­ner Mut­ter (und da­mit über ihr Le­ben) zu er­zäh­len nann­te. Aber die Auf­lö­sung für Wit­zels Ti­tel wird so­fort in der Wid­mung auf­ge­löst: Es han­delt sich um ei­ne For­mu­lie­rung im Ge­dicht »L’in­fi­ni­to« von Gia­co­mo Leo­par­di, über­setzt von Rai­ner Ma­ria Ril­ke. Spä­ter wird der Le­ser er­fah­ren, dass die El­tern bei ei­ner Ita­li­en­rei­se in den 2000er Jah­ren auf Leo­par­di auf­merk­sam ge­macht wur­den und der Va­ter schließ­lich das Ge­dicht »für Alt, Kla­vier und Or­che­ster« ver­ton­te. Und war­um der Mu­sik­leh­rer, Chor- und Or­che­ster­lei­ter Carl Wit­zel (Jahr­gang 1930) dies ge­tan hat­te, er­fah­ren wir auch: »In die­sem sehn­süch­tig ver­zwei­fel­ten Zei­len des Dich­ters, des­sen ‘phy­si­sches Le­ben ein Mar­ty­ri­um war, nur von we­ni­gen Stun­den re­la­ti­ver Schmerz­frei­heit un­ter­bro­chen’, wie es in ei­nem von mei­ner Mut­ter aus­ge­schnit­te­nen Zei­tungs­ar­ti­kel hieß, schie­nen mei­ne El­tern noch ein­mal un­ab­hän­gig von­ein­an­der auf ei­ne ge­mein­sa­me Sehn­sucht ge­sto­ßen zu sein.«

Wer ge­nau liest stellt sich die Fra­ge: Wor­in liegt denn die »ge­mein­sa­me Sehn­sucht«, die der Er­zäh­ler hier sug­ge­riert? Im Dau­er­schmerz des Dich­ters? In den we­ni­gen Mo­men­ten, in de­nen er schmerz­be­freit war? In ei­ner Art Schmer­zens­ver­wandt­schaft (die Mut­ter wird als Schmer­zens­frau [Rheu­ma] dar­ge­stellt)? Oder geht es um die Sehn­sucht des »Schiff­bruchs«, des Schei­terns?

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Mo­ni­ka Ma­ron: Ar­tur Lanz

Monika Maron: Artur Lanz
Mo­ni­ka Ma­ron: Ar­tur Lanz

»Er war viel­leicht fünf­zig Jah­re alt, von schma­ler Ge­stalt, mit blon­dem, leicht er­grau­tem Haar, das in kur­zen Locken wirr um sei­nen Kopf stand, als wür­de er es stän­dig mit den Hän­den durch­fah­ren.« So be­schreibt die Ich-Er­zäh­le­rin Char­lot­te Win­ter in Mo­ni­ka Ma­rons neue­stem Ro­man die Ti­tel­fi­gur Ar­tur Lanz. Sie sieht ihn vor dem Su­per­markt, dort, wo auch Ob­dach­lo­se zu­sam­men­kom­men. Win­ter sucht ein Ge­spräch mit ei­nem ver­zag­ten Mann, der die Streu­ner fast be­wun­dert: »Die ha­ben es doch gut, die ha­ben es hin­ter sich…Die stel­len kei­ne Fra­gen mehr, die brau­chen kei­ne Ant­wor­ten mehr. Al­le Fra­gen hei­ßen nur noch Schnaps und Bier und al­le Ant­wor­ten auch, bis es end­gül­tig vor­bei ist.«

Es dau­ert Mo­na­te, bis sie ihn wie­der­trifft und vom »Dra­ma« er­fährt, dass »in der Män­ner­see­le von Ar­tur Lanz tob­te«. Sein Ein­satz zur Ret­tung sei­nes Hun­des aus ei­nem Raps­feld be­glück­te und ver­än­der­te Ar­tur Lanz’ Sicht auf das Da­sein der­art, dass er al­les hin­ter sich ließ, was sein Le­ben bis­her struk­tu­rier­te. »Ein tie­fes Glück« stell­te sich ein, und sein Kör­per emp­fand ei­nen »sü­ßen Schmerz.« Es ist ei­ner der Schwach­punk­te des Ro­mans: Die Eu­pho­rie Art­urs teilt sich dem Le­ser nicht mit. Man denkt un­will­kür­lich an den groß­ar­ti­gen Dag Sol­stad und ei­ne sei­ner Haupt­fi­gu­ren, die ihr Le­ben än­dert, weil sie ei­nen Re­gen­schirm nicht öff­nen kann.

Hier bleibt das Er­eig­nis Be­haup­tung und die Fol­gen schei­nen eher ab­surd: Ar­tur Lanz ließ sich schei­den, mie­te­te sich ei­ne neue Woh­nung, wur­de herz­krank, und stürz­te sich in ein »wir­res Her­um­den­ken«. Sei­ne Ar­beit als Phy­si­ker ver­rich­tet er oh­ne En­thu­si­as­mus als Brot­er­werb. Und er er­zählt Win­ter von sei­nem Va­ter, den El­tern, der ehr­gei­zi­gen Mut­ter, sei­ner Kind­heit, von der Hy­po­thek, die er durch den Na­men be­kam, den ihm die Mut­ter gab: Ar­tur – der Held der Ar­tus­sa­ge. Wel­che Ver­pflich­tung. Aber, auch hier ernst­haft ge­fragt, sind zum Bei­spiel al­le Fe­li­xe der­art prä­dis­po­niert, wenn sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, nicht per­ma­nent glück­lich sein zu kön­nen?

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519 Ta­ge

John Bolton: Der Raum, in dem alles geschah
John Bol­ton:
Der Raum, in dem al­les
ge­schah

John Bol­tons Er­leb­nis­se als Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter von Do­nald Trump

John Ro­bert Bol­ton, 1948 ge­bo­ren, war ei­gent­lich seit den 1980er-Jah­ren im­mer in der Re­gie­rung der USA, wenn ein Re­pu­bli­ka­ner Prä­si­dent war. Da er un­ter Ge­or­ge W. Bush zum »UNO-Bot­schaf­ter« er­nannt wur­de (per Prä­si­di­al­de­kret, nach­dem er vor­her im Kon­gress, de­ren Mit­glie­der Bol­ton Clowns nennt, durch­ge­fal­len war), wird »Herr Bot­schaf­ter Bol­ton« als An­re­de in der Ad­mi­ni­stra­ti­on ver­wen­det.

Als Trump 2016 Prä­si­dent ge­wor­den war, gab es früh Ge­rüch­te, dass Bol­ton aber­mals ei­ne ge­wich­ti­ge Rol­le im neu­en Ka­bi­nett spie­len soll­te. Ent­ge­gen der An­ti-Estab­lish­ment-Kam­pa­gne Trumps konn­te die­ser na­tür­lich nicht in al­len Po­si­tio­nen neue Kräf­te ein­set­zen. In sei­nem Buch Der Raum, in dem al­les ge­schah, wel­ches im we­sent­li­chen die 519 Ta­ge von April 2018 bis Sep­tem­ber 2019 als Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter der Trump-Re­gie­rung um­fasst, gibt es denn auch ein län­ge­res Ein­lei­tungs­ka­pi­tel, in dem er schil­dert, wie es zu die­ser Er­nen­nung kam.

Zu­nächst be­kun­det Bol­ton, dass er im Wahl­kampf 2016 kei­ne be­son­de­re Rol­le ge­spielt ha­be. Er wur­de kalt er­wischt vom Sieg Trumps, was sich dar­in zeig­te, dass er in si­che­rer Er­war­tung von Hil­la­ry Clin­tons Sieg zu Bett ging. Prak­tisch so­fort er­kann­te der Rou­ti­nier die Schwie­rig­kei­ten der Leu­te um Trump, si­che­re Per­so­nal­ent­schei­dun­gen zu tref­fen. So wur­de die UN-Bot­schaf­te­rin von Trump in den Mi­ni­ster­rang er­ho­ben – ein schwe­rer Feh­ler, so Bol­ton, weil da­durch Kom­pe­ten­zen des Au­ßen­mi­ni­ste­ri­ums un­nö­tig ab­ge­ge­ben wur­den. Den­noch wur­de Bol­tons Na­me prak­tisch so­fort ge­nannt, wenn es um die Be­set­zung wich­ti­ger Äm­ter ging. Da­bei war er, wie er ein we­nig ko­kett an­gibt, aus­ge­la­stet: Se­ni­or Fel­low am Ame­ri­can En­ter­pri­se In­sti­tu­te, Kom­men­ta­tor bei Fox News, re­gel­mä­ßi­ger Red­ner, Rechts­be­ra­ter in ei­ner gro­ßen An­walts­kanz­lei, Mit­glied von Un­ter­neh­mens­vor­stän­den, lei­ten­der Be­ra­ter ei­ner glo­ba­len Pri­va­te-Equi­ty-Fir­ma und Au­tor von Mei­nungs­ar­ti­keln mit ei­ner Häu­fig­keit von et­wa ei­nem pro Wo­che. (Be­zeich­nend am Ran­de, dass der Kom­men­ta­tor und Au­tor von Mei­nungs­ar­ti­keln im ge­sam­ten Buch von Jour­na­li­sten als Pres­se­mob oder, leicht mil­der, Pres­se­meu­te schreibt.)

Der Schnurr­bart

Akri­bisch li­stet er al­le for­mel­len und in­for­mel­len Tref­fen mit Trump und sei­nen Be­ra­tern auf, in de­nen es dar­um ging, wel­che Po­si­ti­on er in der Re­gie­rung fin­den soll­te. Bol­ton fa­vo­ri­siert zwei Po­si­tio­nen: Au­ßen­mi­ni­ster oder Na­tio­na­ler Si­cher­heits­be­ra­ter. Ein stell­ver­tre­ten­der Mi­ni­ster­job, der ihm rasch an­ge­bo­ten wird, kommt für ihn nicht in­fra­ge. Das Au­ßen­mi­ni­ste­ri­um müs­se im üb­ri­gen ei­ner Kul­tur­re­vo­lu­ti­on un­ter­zo­gen wer­den, so sein Cre­do. Nach acht Jah­ren Oba­ma wä­re viel zu re­pa­rie­ren, aber auch schon vor­her sei­en in­sti­tu­tio­nel­le Feh­ler be­gan­gen wor­den.

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»Der Welt sind al­le Blät­ter ab­ge­fal­len«

Ei­ni­ge Lek­tü­re­ein­drücke zu Ol­ga Tok­ar­c­zuk

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse
Ol­ga Tok­ar­c­zuk: Ge­sang der Fle­der­mäu­se

Ei­ni­ge Ta­ge vor der Be­kannt­ga­be der Li­te­ra­tur­no­bel­prei­se für 2018 und 2019 tauch­te der Na­me Ol­ga Tok­ar­c­zuk ne­ben den üb­li­chen Ver­däch­ti­gen auf. War da et­was durch­ge­sickert? Ei­ne Über­ra­schung war es dann doch (die grö­ße­re war al­ler­dings die Ver­ga­be für 2019 an Pe­ter Hand­ke). Als die Nach­richt kam, war die Au­torin auf ei­ner Le­se­rei­se durch Deutsch­land. Plötz­lich woll­ten al­le et­was von ihr; es gab ei­ne ei­lig ein­be­ru­fe­ne Pres­se­kon­fe­renz in Düs­sel­dorf. Der Kam­pa-Ver­lag druck­te nach, schien auch Rech­te von Aus­ga­ben von Tok­ar­c­zuks Bü­chern von an­de­ren Ver­la­gen suk­zes­si­ve auf­zu­kau­fen und be­müht sich, das Werk schnell und um­fas­send zu prä­sen­tie­ren. Als Ta­schen­buch­aus­ga­be ist jetzt Tok­ar­c­zuks Ro­man »Ge­sang der Fle­der­mäu­se« von 2009 (erst­mals in Deutsch 2011 bei Schöff­ling) er­hält­lich (Über­set­zung von Do­reen Dau­me). Ein Ein­stieg zu wo­mög­lich an­spruchs­vol­le­ren Tex­ten wie dem nicht zu­letzt von der Aka­de­mie als Opus ma­gnum ge­prie­se­nen »Die Ja­kobs­bü­cher«?

Ich ge­ste­he, dass mich die – so­zu­sa­gen in­of­fi­zi­el­le – Ru­bri­zie­rung »Kri­mi­nal­ro­man« (tat­säch­lich wird »Ro­man« als Gen­re ver­wen­det) für »Ge­sang der Fle­der­mäu­se« ein­ge­nom­men hat. (Was ich erst spä­ter re­cher­chier­te: das Buch bzw. wohl eher der Plot ist be­reits ver­filmt wor­den). Man kann al­so, so die Bot­schaft, sehr wohl ei­nen Kri­mi­nal­ro­man schrei­ben und trotz­dem den No­bel­preis er­hal­ten. Tat­säch­lich ist die­ses un­säg­li­che Schub­la­den­den­ken ge­gen­über der so­ge­nann­ten Genre­li­te­ra­tur fast nur noch in der deutsch­spra­chi­gen Re­zep­ti­on exi­stent. An­ders­wo ist man durch­aus in der La­ge, die Li­te­r­a­ri­zi­tät bei­spiels­wei­se von Kri­mi­nal­ro­ma­nen an­zu­er­ken­nen – so­fern sie denn vor­han­den ist.

Der Ro­man spielt in dem klei­nen Dorf Luf­cug (ein »in­of­fi­zi­el­ler« Na­me) auf ei­nem Hoch­pla­teau an pol­nisch-tsche­chi­schen Gren­ze. Es ist glück­li­cher­wei­se kein dys- oder uto­pi­sches Sze­na­rio; man be­wegt sich in der Ge­gen­wart. Im »Kes­sel« liegt die nächst­grö­ße­re Stadt Glatz (pol­nisch: Kłodz­ko; im Buch fast durch­gän­gig in der deut­schen No­men­kla­tur). Es be­ginnt im ei­sig-kal­ten, wind­um­to­sten Win­ter, als Ma­to­ga sei­nen meh­re­re hun­dert Me­ter ent­fernt woh­nen­den Nach­barn »Big­foot«, ei­nen an­de­ren, ere­mi­tisch-zän­ki­schen Be­woh­ner, tot in sei­nem Haus ent­deckt und Ja­ni­na Dus­ze­j­ko mit­ten in der Nacht auf­weckt. Sie schau­en sich die Lei­che an, su­chen ei­ne To­des­ur­sa­che. Schnell kom­men sie zu dem Schluss, dass er an ei­nem klei­nem Reh­kno­chen er­stickt ist. Für Ja­ni­na ist klar, dass dies die Ra­che der Re­he ist, die »Big­foot« ge­wil­dert hat­te. Er war ein Mann, der von der Na­tur leb­te, »die er aber nicht re­spek­tier­te«.

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Dra­gan Al­ek­sić: Her­ren­fahr­rad »Par­tizan«

Dragan Aleksić: Herrenfahrrad "Partizan"
Dra­gan Al­ek­sić:
Her­ren­fahr­rad »Par­tizan«

Dies­mal sind es 32 Ge­schich­ten auf knapp 180 Sei­ten. Nach den Kür­ze­ster­zäh­lun­gen in »Vor­vor­ge­stern« (2011), die­sen »Ge­schich­ten, die vom Glück han­deln« und dem Ro­man »Zwi­schen Ne­ra und Ka­radsch« (2013) lie­gen nun die neu­en Er­zäh­lun­gen des ju­go­sla­wi­schen Schrift­stel­lers Dra­gan Al­ek­sić, der seit 2006 in den USA lebt, ge­sam­melt vor. Ge­schrie­ben wur­den sie zwi­schen 2014 und 2018; ei­ni­ge wa­ren in Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten oder auch On­line be­reits er­schie­nen. Über­set­ze­rin­nen wa­ren El­vi­ra Ve­se­li­no­vić und Ma­scha Da­bić (es ist ver­zeich­net, wer wel­che Ge­schich­te be­treu­te).

Die Band­brei­te, die hier auf­ge­spannt wird, ist enorm. Die Spiel­or­te rei­chen von Ju­go­sla­wi­en (vor und nach den Welt­krie­gen, vor und nach den Bür­ger­krie­gen) über Deutsch­land, Spa­ni­en bis nach Eri­trea und den USA. Die The­men­pa­let­te ist kom­plex. Mal geht es um ei­ne Kon­ver­si­on vom Chri­sten­tum zum Is­lam, dann um zwei Hem­den aus Deutsch­land, ei­nem Amok­lauf bei ei­ner Hoch­zeit, der wie bei­läu­fig er­zählt wird oder Par­ti­sa­nen, die im­mer erst nach der Er­obe­rung durch die Rus­sen auf der Bild­flä­che er­schei­nen (»Mais­fres­ser« ge­nannt). Oft be­ginnt es harm­los, et­wa mit ei­ner Schach­par­tie, bei der je­mand plötz­lich stirbt. Und dann er­fährt man plötz­lich, dass der Ver­stor­be­ne noch am glei­chen Tag in ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ab­trans­por­tiert wer­den soll­te.

Kei­ne zwei Ge­schich­ten fol­gen glei­chen Ge­set­zen. Tra­gik wech­selt mit Ko­mik. Eben noch Dorf­erleb­nis­se, dann kommt die Welt­ge­schich­te auf die Büh­ne. Da­nach wähnt man sich in ei­nem Mär­chen, et­wa wenn in der Ti­tel­ge­schich­te An­der­sen-haft ein Fahr­rad sein Schick­sal mit un­ter­schied­li­chen Be­sit­zern er­zählt. Oder wenn vom »Kö­nig al­ler Dich­ter« er­zählt wird, der in der Psych­ia­trie lebt. Man­ches ist hei­ter, wie et­wa die »Weih­nachts­ge­schich­te« über das Ehe­paar, das sich kurz vor dem Fest strei­tet und die Frau zu ih­ren Ver­wand­ten fährt. Am Weih­nachts­tag möch­te der Mann die Frau zu­rück­ho­len, aber da ist sie schon un­ter­wegs zu ihm. Manch­mal be­ginnt es fast ein biss­chen kit­schig, et­wa die Lie­bes­ge­schich­te von Da­co und La­mi­ja, um dann um­zu­schla­gen in ein Dra­ma. Oder die Ge­schich­te des Teil­neh­mers am Spa­ni­schen Bür­ger­krieg, der ver­wun­det in ein Haus ei­nes äl­te­ren Ehe­paa­res ge­bracht wird und dort von der 70jährigen Frau nach dem Tod des Ehe­manns ver­führt wird. Hier gibt es ei­ne Poin­te.

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Der schüch­ter­ne Blick auf die Pen­si­ons­gren­ze

Ein Freund hat­te mir ei­nen Text ge­schickt, den ich über­se­hen hät­te, denn er steckt hin­ter ei­ner so­ge­nann­ten »Be­zahl­schran­ke«. Ich neh­me an, er woll­te mich an­sta­cheln, aber weil er mich ganz gut kennt, leg­te er mir nicht na­he, ei­ne Re­plik zu ver­fas­sen, denn er weiß, dass ich das dann ge­ra­de nicht ma­che. Ich er­in­ner­te mich dun­kel. Am Sonn­tag hat­te der schei­den­de Bach­mann­preis-Ju­ror Hu­bert Win­kels die­sen Text ganz kurz er­wähnt. Es han­delt sich um Ri­chard Käm­mer­lings’ »Zehn Grün­de, war­um Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird«, pu­bli­ziert in der »Welt«.

Zu­nächst ein­mal ist in­ter­es­sant, dass in der Druck­ver­si­on und in der URL die Über­schrift ei­ne leicht an­de­re ist. Dort steht: »Zehn Grün­de, war­um un­se­re Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird.« (Her­vor­he­bung von mir.) Der Un­ter­schied ist nur auf den er­sten Blick mar­gi­nal. Das Pro­no­men »un­se­re« er­hebt ei­nen Be­sitz­an­spruch auf das, was man dort be­han­delt. Gleich­zei­tig nimmt es den Le­ser mit in das ima­gi­nä­re Boot. Es wird ei­ne Ge­mein­schaft be­schwo­ren. Und dann er­hebt es sei­nen Ver­fas­ser (und die Boots­in­sas­sen) als ei­ne Art Rich­ter.

Die »zehn Grün­de« ent­pup­pen sich bei nä­he­rer Lek­tü­re als ei­ne Zu­sam­men­stel­lung hin­läng­lich be­kann­ter Krit­te­lei­en, leicht ge­würzt mit dys­to­pi­schem Un­ter­ton, ei­ner Pri­se Ver­gan­gen­heits­ver­klä­rung und ei­nem kräf­ti­gen Schuss Co­ro­na-Wür­ze.

Der er­ste der Grün­de, war­um »un­se­re« Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird ist, laut Käm­mer­lings, die »Buch­mes­se oh­ne Ver­la­ge«. Die­se wür­den die Frank­fur­ter Buch­mes­se im Herbst »im Stich las­sen«. »Buch­hal­ter­köp­fe« hät­ten die Macht über­nom­men. Dass es im Be­trieb ei­ne gro­ße An­zahl Men­schen gibt, die sich auch ei­ni­ge Mo­na­te nach ei­ner viel­leicht halb­wegs über­stan­de­nen Pan­de­mie nicht zehn Stun­den täg­lich in schlecht­durch­lüf­te­ten Mes­se­hal­len auf­hal­ten wol­len, kommt dem Au­tor nicht in den Sinn.

Es wird noch läp­pi­scher, wenn er dann vom »Schwei­gen der Au­toren« spricht. Nein, er meint nicht die fast un­zähl­ba­ren »Co­ro­na-Ta­ge­bü­cher«, die das Netz in den letz­ten Mo­na­ten über­schwemmt ha­ben. Er meint »Of­fe­ne Brie­fe« von Au­toren, bei­spiels­wei­se ge­gen das Schlie­ßen von Buch­hand­lun­gen, ge­gen Ama­zons Ver­sand­prio­ri­tä­ten­li­nie und die Ab­sa­ge der Leip­zi­ger Buch­mes­se. Nun, wer je­mals in Leip­zig war und nicht nur an Ver­lags­stän­den für ein Stünd­chen sei­ne Schnitt­chen und Wein ge­nos­sen hat, kann nur froh sein, dass die­se Mes­se aus­ge­fal­len ist. Egal, Käm­mer­lings be­schwört Frisch, Pe­ter Weiss und den »jun­gen Wal­ser«, die in ähn­li­cher Si­tua­ti­on si­cher­lich da­mals ei­nen »Marsch auf den Bon­ner Kanz­ler­bun­ga­low an­ge­führt hät­ten.«

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Lud­wig Fels: Mond­be­ben

Ludwig Fels: Mondbeben
Lud­wig Fels: Mond­be­ben

Ein Auf­bruch in ein neu­es Le­ben. He­len und Olav Ost­ran­der, viel­leicht ir­gend­wo in den 30ern oder 40ern. Er, frü­her In­kasso­ein­trei­ber im Mi­lieu, der He­len einst vor ih­rem Ehe­mann be­schütz­te, in dem er die­sen kran­ken­haus­reif schlug. Das war un­ver­hält­nis­mä­ßig und gab an­dert­halb Jah­re Ge­fäng­nis. Aber da schwo­ren sich die bei­den schon Treue, hei­ra­te­ten und als er aus dem Knast kam, muss­te He­len noch mal kurz weg. Sie kam zu­rück mit dem un­ver­hoff­ten Er­be des On­kels. Es muss viel Geld sein. Sie sa­hen im In­ter­net in ei­nem fer­nen, war­men, fik­ti­ven Land (Ka­ri­bik? Afri­ka?) ein Haus auf ei­ner vor­ge­la­ger­ten In­sel. Nein, es ist mehr als ein Haus, ein Traum­haus. Der neue An­fang. »Geld war das Ma­te­ri­al, mit dem sich die Exi­stenz pan­zern ließ, war fast schon ei­ne Dro­ge ge­gen den Tod.«

So be­ginnt »Mond­be­ben« von Lud­wig Fels. Fast ein biss­chen wie die­se Do­ku-So­aps über Aus­wan­de­rer, die ihr Glück in fer­nen Län­dern su­chen. Aber es wird dann doch eher ein Da­vid-Lynch-Film. He­len und Olav sind ein biss­chen wie Lu­la und Sail­or – und doch ganz an­ders. Ihr schnip­pi­scher Dia­log­stil ver­birgt nur ober­fläch­lich die Sehn­sucht, es ge­schafft und den rich­ti­gen ge­fun­den zu ha­ben. Der Rest des Le­bens soll sorg­los wer­den. Und so sind die ge­gen­sei­ti­gen Be­schwö­run­gen des Glücks be­son­ders am An­fang in­fla­tio­när, im­mer wie­der Ver­si­che­run­gen »wie schön dies ge­hei­me Glück war«, näm­lich »zum Ver­rückt­wer­den schön«, denn »bald wür­den die Ster­ne ih­re Lie­der sin­gen«.

Und den­noch schwingt von An­fang an so ein un­heil­vol­les Ge­fühl mit. Sor­ge, dass es nicht so wird. Si­cher, Olav trinkt ein biss­chen zu viel, sei­ne Hän­de zit­tern bis­wei­len. Die Hit­ze ist fast un­er­träg­lich und es ist das Land mit den welt­weit größ­ten Rat­ten. Als er im Ho­tel-Re­sort »Ro­se­milk«, in dem die bei­den bis zum Be­zug des Hau­ses un­ter­ge­bracht sind, der Pro­sti­tu­ier­ten As­sump­ta, die von ei­nem Gast ge­schla­gen wird, hilft, be­kommt der schö­ne Schein er­ste Ris­se. Der Ver­tre­ter der Im­mo­bi­li­en­fir­ma (der Mr Mo­ses heißt – über­haupt: die­se Na­men!), ist Olav un­sym­pa­thisch und er lässt es ihm auch an­mer­ken. He­len ist ru­hi­ger, möch­te ih­ren Frie­den. Omi­nös die In­struk­tio­nen zum Geld­trans­fer; der ih­nen vor­ge­stell­te »No­tar« wirkt halb­sei­den. He­len zahlt trotz­dem. Und das Dra­ma be­ginnt.

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Ernst Lo­thar: Das Wun­der des Über­le­bens

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens
Ernst Lo­thar:
Das Wun­der des Über­le­bens

Als Ernst Lo­thar sei­ne Au­to­bio­gra­phie »Das Wun­der des Über­le­bens« pu­bli­zier­te, war er 70 Jah­re alt. 1890 als Lo­thar Ernst Mül­ler in Brünn ge­bo­ren (der Va­ter war Rechts­an­walt, die Mut­ter »hat­te sich das La­chen früh­zei­tig ab­ge­wöhnt«), sie­del­te die Fa­mi­lie (es gab noch zwei äl­te­re Brü­der, Ro­bert, der früh ver­starb und der 1882 ge­bo­re­ne Hanns, der spä­ter als Hans Mül­ler-Ei­ni­gen als Ly­ri­ker und Dra­ma­ti­ker re­üs­sier­te) 1904 nach Wien. Lo­thar stu­dier­te Ju­ra und Ger­ma­ni­stik und pro­mo­vier­te 1914 zum Dr. jur. Aus sei­nen Rei­se­plä­nen nach En­de des Stu­di­ums wur­de nichts. Der Krieg brach aus. Im­mer­hin: Lo­thar wur­de (war­um auch im­mer) für kriegs­un­fä­hig er­klärt und zu ei­nem Staats­an­walt als Ge­hil­fe nach Wels ver­setzt. Er hei­ra­te­te 1914 und die Töch­ter Aga­the (*1915) und Jo­han­na (*1918, ge­nannt »Han­si«) kom­plet­tier­ten die Fa­mi­lie. Lo­thar hat­te be­reits wäh­rend des Stu­di­ums mit dem Schrei­ben an­ge­fan­gen; erst Ge­dich­te, dann Ro­ma­ne. Aus sei­ner Schrift­stel­ler­tä­tig­keit re­sul­tiert die Än­de­rung des Na­mens.

Wenn man die im Zsol­nay-Ver­lag er­schie­ne­ne Neu­auf­la­ge der »Er­in­ne­run­gen« Ernst Lo­thars (so der Un­ter­ti­tel des Bu­ches) ge­le­sen hat, er­kennt man drei Mo­men­te, die sein Le­ben nicht nur ge­prägt, son­dern exi­sten­ti­ell er­schüt­tert ha­ben. Da ist zu­nächst der Zu­sam­men­bruch der Do­nau­mon­ar­chie Öster­reich-Un­garn 1918. Aus 53 Mil­lio­nen wer­den plötz­lich nur mehr 7 Mil­lio­nen, die sich Öster­rei­cher nen­nen (durf­ten). Die »Macht und Herr­lich­keit oh­ne Bei­spiel« der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa« – so eu­pho­risch wird er im Rück­blick – ist zer­stört. Jetzt kann der Le­ser die Epi­so­de zu Be­ginn, die er­ste Kind­heits­er­in­ne­rung, bes­ser ein­ord­nen. Sie be­steht dar­in, dass Lo­thar ei­ne De­mon­stra­ti­on von Tsche­chen in sei­ner Ge­burts­stadt Brünn re­ka­pi­tu­liert, die für ei­ne Se­zes­si­on von Öster­reich-Un­garn ein­tre­ten. Jetzt ist es ein­ge­tre­ten: Sei­ne Hei­mat be­steht nur mehr als ein Tor­so. Er emp­fin­det es nichts we­ni­ger als ei­ne Ver­stüm­me­lung sei­nes Le­bens.

Als »sein« Land zu­sam­men­bricht, ist man im Buch auf Sei­te 30; noch wei­te­re 330 Sei­ten fol­gen. Und wer die­se Art von »hy­ste­ri­scher Lie­be«, wel­che »die Gren­zen des nor­ma­len Pa­trio­tis­mus« streift (so Da­ni­el Kehl­mann im Nach­wort) vor­ei­lig als Na­tio­na­lis­mus oder gar Chau­vi­nis­mus ab­tut, wird mit der wei­te­ren Lek­tü­re Schwie­rig­kei­ten ha­ben. Lo­thars Idea­li­sie­rung der k.u.k.-Monarchie ist nicht pri­mär po­li­tisch zu ver­ste­hen. Er macht sich kei­ne Mü­he, die po­li­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen Öster­reich-Un­garns, die Struk­tu­ren der Min­der­hei­ten in dem Staats­ge­bil­de oder gar die Ur­sa­chen des Krie­ges zu ana­ly­sie­ren. Statt­des­sen sucht er nach dem Krieg Sig­mund Freud auf, um sich er­klä­ren zu las­sen, wie er den Ver­lust sei­ner Hei­mat über­win­den kön­ne. Die Ant­wort Freuds in der Be­schrei­bung die­ses Ge­sprächs ist ei­ner der Hö­he­punk­te des Bu­ches.

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