Oc­cu­p­ied – Die Be­sat­zung (Staf­fel 1 und 2)

Die nor­we­gi­sche Po­lit-Se­rie »Oc­cu­p­ied« (deut­sche Er­gän­zung: »Die Be­sat­zung«) von 2015 spielt, wie es zu Be­ginn heißt, in ei­ner nicht fer­nen Zu­kunft. Der wich­tig­ste Punkt die­ser hoch­ge­lob­ten Se­rie wird gleich am An­fang in ei­nem Halb­satz ab­ge­han­delt: Die USA ist nicht mehr in der NATO. Das Bünd­nis spielt da­her im wei­te­ren Ver­lauf kei­ne Rol­le mehr. Der nor­we­gi­sche Mi­ni­ster­prä­si­dent Berg will sein Wahl­ver­spre­chen ein­lö­sen, ge­gen den glo­ba­len Kli­ma­wan­del vor­an­ge­hen und stoppt al­le Gas- und Öl­lie­fe­run­gen an die EU. Als Al­ter­na­ti­ve wird die so­ge­nann­te »Thorium«-Technik vor­ge­stellt; ei­ne Art grü­ner Atom­strom (pi­kan­ter­wei­se ist hier Bergs Frau in­vol­viert). Der Wi­der­stand ge­gen die­se un­ab­ge­stimm­te ad-hoc-Maß­nah­me ist in Eu­ro­pa ver­ständ­li­cher­wei­se sehr groß. Auch Russ­land hat kein In­ter­es­se an ein so­for­ti­ges En­de der fos­si­len En­er­gie. In ei­ner Al­li­anz zwi­schen der EU und Russ­land wird Druck auf Nor­we­gen auf­ge­baut (nur zur Er­in­ne­rung: Nor­we­gen ist nicht Mit­glied der EU und ist es auch in der Se­rie nicht).

Aber Russ­land geht wei­ter. Man be­setzt nor­we­gi­sche För­der­an­la­gen und Bohr­platt­for­men, um die Wei­ter­ver­sor­gung zu be­trei­ben. Es scheint so, als sei dies mit der EU ab­ge­stimmt. Berg wird zu Be­ginn kurz ent­führt und auf ei­ne Än­de­rung sei­ner Tho­ri­um-Po­li­tik ein­ge­schwo­ren. Das lehnt er zu­nächst ab, beugt sich dann je­doch und fährt die fos­si­len Aus­beu­tun­gen wie­der hoch. Russ­land fin­det im­mer neue De­tails, um ein fe­stes Ab­zugs­da­tum hin­aus­zu­zö­gern. Als sich ein Wi­der­stand for­miert, tritt man als Schutz­macht auf – für Nor­we­gen und die En­er­gie­ver­sor­gung der EU. Berg wird fast schlag­ar­tig zum Re­al­po­li­ti­ker, spielt die rus­si­sche In­ter­ven­ti­on of­fi­zi­ell her­un­ter. Mi­ni­ster tre­ten zu­rück und man legt auch Berg den Rück­tritt na­he, aber da die Par­tei in der Nach­fol­ge­fra­ge zer­strit­ten ist, bleibt er. Zum Ge­gen­part der Re­gie­rung wird die rus­si­sche Bot­schaf­te­rin Si­do­ro­va – an­de­re rus­si­sche Po­li­ti­ker wei­gern sich mit Berg zu re­den (nur ein­mal kommt der Au­ßen­mi­ni­ster kurz ins Spiel).

Ei­ne wei­te­re Haupt­fi­gur ist der Si­cher­heits­mann Hans Mar­tin Djup­vik, der zu Be­ginn der rus­si­schen Bot­schaf­te­rin das Le­ben ret­tet und nun suk­zes­si­ve in­ner­halb des nor­we­gi­schen In­lands­ge­heim­dien­stes PST auf­steigt. Mehr als ein­mal wird er als Ver­mitt­ler zwi­schen Russ­land und Nor­we­gen ein­ge­setzt – was al­ler­dings mit der Zeit er­mü­det. Schließ­lich wird er von Berg als Dop­pel­agent ein­ge­setzt; die­se Sze­nen über­zeu­gen nicht. Auch der In­ve­sti­ga­ti­v­jour­na­list Tho­mas Erik­sen wirkt mit sei­ner ewi­gen Um­hän­ge­ta­sche ein biss­chen kli­schee­be­la­den.

In­ter­es­sant ist die Se­rie, an der un­ter an­de­rem auch der Best­stel­ler­au­tor Jo Nes­bø mit­ge­schrie­ben hat­te, im Auf­zei­gen der po­li­ti­schen Es­ka­la­ti­ons­spi­ra­le. Die zu­nächst eher mar­gi­na­li­sier­te Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gung »Fritt Nor­ge« (»Frei­es Nor­we­gen«), die heim­lich von der un­heil­bar kran­ken PST-Che­fin Ar­ne­sen un­ter­stützt wird, er­hält im­mer mehr Zu­lauf. Ge­lun­gen ist die Dar­stel­lung des zu­nächst auf Aus­gleich mit Russ­land be­dach­ten Re­gie­rungs­chefs, der glaubt mit Ent­ge­gen­kom­men die Rus­sen schnell zum Ab­zug be­we­gen zu kön­nen. Durch ge­ziel­ten Ter­ror, der auch vor der Er­mor­dung ei­ge­ner Lands­leu­te nicht zu­rück­schreckt, sa­bo­tie­ren die Rus­sen je­doch jeg­li­chen Aus­gleich. Spä­ter wird Berg be­ken­nen, dass man sei­ne so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Sicht auf Po­li­tik miss­braucht hat.

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Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse
Pa­trick Mo­dia­no: Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se

Seit­dem Pa­trick Mo­dia­no den No­bel­preis zu­er­kannt wur­de, er­schei­nen sei­ne in schö­nem Rhyth­mus al­le zwei, drei Jah­re neue Ro­ma­ne und nach knapp ei­nem Jahr dann in deut­scher Spra­che im Han­ser-Ver­lag. Über­set­ze­rin ist seit mehr als 25 Jah­ren Eli­sa­beth Edl (mit ei­ner Aus­nah­me). Die­se Kon­ti­nui­tät ist wich­tig; bei ei­nem Au­tor wie Mo­dia­no erst recht.

Denn auch im neue­sten Ro­man Un­ter­wegs nach Che­v­reu­se (im Ori­gi­nal von 2021 Che­v­reu­se) fin­det der Le­ser zahl­rei­che Ver­wei­se auf an­de­re, teil­wei­se län­ger zu­rück­lie­gen­de Bü­cher von Mo­dia­no. So ist die Haupt­fi­gur wie schon in Der Ho­ri­zont (2010/2013) er­neut der Schrift­stel­ler Jean Bos­mans. Im Che­v­reu­se-Ro­man er­fährt man, dass er einst auf ei­ner Art Flucht in ei­nem Ca­fé in ei­nem ent­le­ge­nen Dorf sei­nen Erst­ling »Das Schwarz des Som­mers« ver­fasst hat­te. Es ist der glei­che Ti­tel des Erst­lings von Jean Dara­ga­ne aus Mo­dia­nos viel­leicht trau­rig­stem Ro­man Da­mit du dich im Vier­tel nicht ver­irrst (Pour que tu ne te per­des pas dans le quar­tier, 2014/2015) – eben­falls in ei­nem klei­nen Ort ge­schrie­ben. Wie in fünf oder sechs an­de­ren Mo­dia­no-Bü­chern spielt die Rue du Doc­teur-Kur­zen­ne ei­ne Rol­le, ge­nau­er: das Haus Nr. 38. Es ist ei­ne Stra­ße, die tat­säch­lich exi­stiert: in Jouy-en-Jo­sas in der Île-de-France, dem Ort, in dem Mo­dia­no ei­nen Groß­teil sei­ner Kind­heit und Ju­gend ver­brach­te. Schließ­lich kommt auch im neu­en Ro­man wie­der ein ge­wis­ser Guy Vin­cent vor. Mo­dia­no zi­tiert so­gar aus ei­nem (si­cher­lich fik­ti­ven) Brief, »ge­gen En­de der neun­zi­ger Jah­re« er­hal­ten, in dem Jean Bos­mans ei­ne Re­cher­che über Guy bzw. Ro­ger Vin­cent von ei­nem Le­ser er­hält.

Die Kunst des Über­set­zens – wie die des Le­sens – be­steht dar­in, der Ver­su­chung zu wi­der­ste­hen, aus die­sen Fähr­ten ei­ne Rei­he, ei­ne über­ge­ord­ne­te Er­zäh­lung, zu re­kon­stru­ie­ren. Tat­säch­lich sind sie für das Ver­ständ­nis des je­wei­li­gen Tex­tes un­wich­tig; was auch für die Ex­ege­se von Mo­dia­nos Werk gel­ten dürf­te. Es sind Na­men von Spiel­fi­gu­ren und ‑sze­nen, die sich wie­der­ho­len, aber eben nie decken. Stets ent­ste­hen in den Ro­ma­nen je an­de­re Dy­na­mi­ken. Jean Bos­mans aus Der Ho­ri­zont hat ei­ne an­de­re Ge­schich­te wie je­ner aus dem Che­v­reu­se-Buch. Die Ma­gie des Hau­ses Nr. 38 ist im­mer an­ders.

Ge­mein­sam ist das My­ste­ri­um der Er­in­ne­rung, wel­ches die je­weils aus per­so­na­ler Sicht er­zähl­ten Fi­gu­ren ir­gend­wann über­fällt und nicht mehr los­lässt. Häu­fig läuft dies auf zwei Ebe­nen ab. Im neue­sten Buch sind die Zeit­mar­ken 50 und 15 Jah­re. Jean Bos­mans re­kon­stru­iert sei­ne Ein­drücke von vor 50 Jah­ren und er­in­nert sich dar­an, als er sich 15 Jah­re zu­rück er­in­ner­te. Der Er­eig­nis­kern liegt so­mit rund 65 Jah­re von der Ge­gen­wart (hier die 2010er Jah­re) ent­fernt. Bos­mans lich­tet sei­ne Er­in­ne­rungs­lücken rund um ein Haus im Stadt­teil Che­v­reu­se (eben auf je­ner er­wähn­ten Stra­ße), in dem er sei­ne Kind­heit ver­bracht hat­te. Fünf­zehn Jah­re spä­ter macht er Be­kannt­schaft mit Ca­mil­le, die, war­um auch im­mer, »To­ten­kopf« ge­nannt wird. Sie wie­der­um bringt ihn mit zwei an­de­ren Fi­gu­ren in Kon­takt, die, so ver­fe­stigt sich der Ein­druck, et­was von Jean wis­sen wol­len. Sie füh­ren ihn zu dem omi­nö­sen Haus, wo­bei Jean sich erst wie­der an sei­nen Auf­ent­halt er­in­nern muss – was ihm müh­sam ge­lingt. Aber in­tui­tiv ver­schweigt er sei­ner Be­kann­ten und den bei­den Män­nern sei­ne Er­in­ne­rung und den ein­sti­gen Auf­ent­halt. Die An­ge­le­gen­heit ent­wickelt sich zu ei­nem Kri­mi­nal­fall (mehr soll nicht ver­ra­ten wer­den), denn die Be­kannt­schaf­ten, die er da­mals mach­te, wa­ren nicht zu­fäl­lig. Mo­dia­no fährt ei­ni­ges Per­so­nal auf – der Le­ser muss auf­pas­sen, weil es fal­sche Fähr­ten gibt. Jean be­gibt sich schließ­lich auf ei­ne Flucht und schreibt sei­nen er­sten Ro­man. 50 Jah­re spä­ter kommt er wie­der auf die Zeit mit »To­ten­kopf« und die selt­sa­men Er­eig­nis­se um die­ses Haus zu­rück; der An­lass bleibt un­klar.

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(Ta­ge­buch) Fried­rich Sieburg: Die Flie­ge im Bern­stein

Friedrich Sieburg: Die Fliege im Bernstein
Fried­rich Sieburg:
Die Flie­ge im Bern­stein

Fried­rich Sieburg wur­de 1893 ge­bo­ren. 1912 be­gann er Phi­lo­so­phie, Ge­schich­te und Öko­no­mie zu stu­die­ren. Im Er­sten Welt­krieg wur­de er Flie­ger­of­fi­zier. Pro­mo­ti­on 1919 in Mün­ster zum Dr. phil. (im Nach­wort steht irr­tüm­lich 1920). Sieburg stand ei­ni­ge Zeit dem Ge­or­ge-Kreis na­he. Schließ­lich schlug er ei­ne Lauf­bahn als Jour­na­list ein, schrieb u. a. für die »Welt­büh­ne« und vor al­lem bei der »Frank­fur­ter Zei­tung«, für die als Kor­re­spon­dent aus Lon­don und vor al­lem Pa­ris be­rich­te­te. Er war viel­sei­tig, schrieb Li­te­ra­tur- und Thea­ter­kri­ti­ken, Feuil­le­tons, hi­sto­ri­sche Es­says aber auch Ge­dich­te und Rei­se­be­rich­te. Er er­lang­te rasch ei­nen ge­wis­sen Ruhm. Po­li­tisch be­gann er in den 1930er Jah­ren zu­nächst mit den Ideen der »kon­ser­va­ti­ven Re­vo­lu­ti­on« zu sym­pa­thi­sie­ren, spä­ter er­griff er Par­tei für den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. 1932 schrieb er »Es wer­de Deutsch­land«, ein, wie Gun­ther Nickel schreibt, »flam­men­des Plä­doy­er für ei­ne na­tio­na­le Er­neue­rung«. Es er­schien je­doch erst nach der Macht­über­nah­me 1933. Drei Jah­re spä­ter wur­de das Buch ver­bo­ten, weil Sieburg hier­in schar­fe Kri­tik am An­ti­se­mi­tis­mus der Na­tio­nal­so­zia­li­sten ge­übt ha­ben soll. 1940 wur­de Sieburg Bot­schafts­rat der Deut­schen Bot­schaft im be­setz­ten Frank­reich. Ein Amt, wie es heißt »oh­ne je­den Ein­fluß« (Joa­chim Ker­sten). Er de­mis­sio­nier­te zwei Jah­re spä­ter und ging im Fe­bru­ar 1943 zu­rück zur »Frank­fur­ter Zei­tung«, die al­ler­dings im Au­gust des glei­chen Jah­res ver­bo­ten wur­de. Sieburg war nun nicht nur ar­beits­los, son­dern auch noch emo­tio­nal tief mit der Schei­dung von sei­ner zwei­ten Frau Do­ro­thee von Pück­ler, geb. von Bülow, be­schäf­tigt, die er erst 1942 ge­hei­ra­tet hat­te. Die Ehe wur­de im Früh­jahr 1944 wie­der ge­schie­den. Sieburg mie­te­te sich bis auf wei­te­res in Do­ro­thees An­we­sen, dem so­ge­nann­ten Schloss Rüb­sa­men, für 100 RM mo­nat­lich ein. Meist hielt er sich je­doch in ei­ner Woh­nung in Tü­bin­gen im Haus von Paul Kluck­horn auf, der seit 1930 Or­di­na­ri­us an der Uni­ver­si­tät war.

Das ist das Set­ting mit dem die Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen Sieburgs be­gin­nen, die der Wall­stein-Ver­lag un­ter dem Ti­tel »Die Flie­ge im Bern­stein« so­eben erst­ma­lig her­aus­ge­bracht hat. Die Ein­tra­gun­gen be­gin­nen am 23. No­vem­ber 1944 und en­den am 13. Mai 1945; Sieburg ist 51 Jah­re alt. Ob­wohl ge­schie­den, be­schäf­tigt ihn im­mer noch Do­ro­thee. Es kommt zu Be­geg­nun­gen, die re­gel­mä­ssig in Be­schimp­fun­gen und bis­wei­len kör­per­li­cher Ge­walt (von sei­ten der Frau) en­den. Sie ha­be »zwei We­sen« in sich, So Sieburg. Nach heu­ti­gen Maß­stä­ben wür­de man sie ver­mut­lich als bi­po­la­re Per­sön­lich­keit mit Ag­gres­si­ons­po­ten­ti­al ein­stu­fen. Den­noch kann man zwi­schen den Zei­len le­sen, dass es zeit­wei­se zum Sex zwi­schen den bei­den kommt. Die rasch wech­seln­den Stim­mungs­la­gen der Frau de­pri­mie­ren ihn; er be­kennt sei­ne Lie­be, aber auch sei­ne Ver­zweif­lung über das Ver­hal­ten sei­ner Ex-Frau, die dann bei ihm zur »Er­mor­dung« der Lie­be führ­te. Bis­wei­len wer­den die­se Ge­füh­le von Er­in­ne­run­gen an sei­ne er­ste Frau über­la­gert.

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Re­né Pfi­ster: Ein fal­sches Wort

René Pfister: Ein falsches Wort
Re­né Pfi­ster: Ein fal­sches Wort

Re­né Pfi­ster ist seit fast zwan­zig Jah­ren in un­ter­schied­li­chen Funk­tio­nen beim Nach­rich­ten­ma­ga­zin Der Spie­gel tä­tig. 2019 geht er für das Ma­ga­zin in die USA. Do­nald Trump war Prä­si­dent und der Wahl­kampf hat­te be­reits be­gon­nen. Er kam mit sei­ner Fa­mi­lie nach Che­vy Cha­se, ei­nem, wie es heißt, li­be­ra­len Stadt­teil Wa­shing­tons. Hier wird die Re­gen­bo­gen­fah­ne ge­hisst und man ge­niert sich für Trump. Aber rasch be­kommt die­ses pa­ra­die­si­sche Bild Ris­se, et­wa wenn ihm je­mand er­zählt, dass sein Sohn in der Schu­le Pro­ble­me be­kommt, weil er nichts da­bei fin­det, dass Wei­ße Dre­ad­locks tra­gen. Pfi­ster er­kennt, dass die Fas­sa­de von Furcht durch­setzt ist. Es ist die Furcht, et­was Fal­sches zu den­ken und zu sa­gen. Denn so­fort droht die so­zia­le Aus­gren­zung – und even­tu­ell Schlim­me­res.

In den letz­ten Jah­ren häu­fen sich in den so frei­heit­lich ge­ben­den Ver­ei­nig­ten Staa­ten die »Fäl­le«, in de­nen ver­meint­lich un­be­dach­te Aus­sa­gen zu weit­rei­chen­den Fol­gen füh­ren. Pfi­ster bün­delt ei­ni­ge die­ser Er­eig­nis­se in sei­nem Buch »Ein Wort zu­viel«. Es ist, so der An­spruch, ein »Re­port« »wie ei­ne neue lin­ke Ideo­lo­gie aus Ame­ri­ka un­se­re Mei­nungs­frei­heit be­droht«.

Die Ka­pi­tel des Bu­ches sind Re­por­ta­gen, die mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den. Da wird Ian Buru­ma be­sucht, der we­gen des Pro­te­stes über die Ver­öf­fent­li­chung ei­nes Tex­tes von Ji­an Ghome­shi, der zu Un­recht se­xu­el­ler Über­grif­fe an­ge­klagt war, sei­nen Chef­re­dak­teurs­po­sten bei der New York Re­view of Books auf­gab. Der Geo­phy­si­ker Do­ri­an Ab­bot schil­dert sei­ne Aus­la­dung als Red­ner beim MIT, weil er in ei­nem Text Qua­li­tät über »Di­ver­si­tät« stellt. Pfi­ster ana­ly­siert die neue »Cam­pus Cul­tu­re«, bei der Red­ner be­schimpft und ge­stört wer­den, wenn man es nicht ge­schafft hat, sie aus­zu­la­den und ih­re Bei­trä­ge da­mit zu ver­un­mög­li­chen.

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Köl­ner Straße/Markenstraße

All die von der Kreu­zung ab­ge­hen­den Stra­ßen und die vie­len
Mög­lich­kei­ten des Ab­bie­gens, über­all Pfei­le, Schil­der, Men­schen und
Au­tos.

Der in ei­nem T‑Shirt auf ei­nem Pla­stik­stuhl sit­zen­de Mann, sei­ne
Lip­pen schnell und stumm be­we­gend, viel­leicht ein Ge­bet,
viel­leicht ei­nen Gruß spre­chend.

Die Schul­kin­der und ih­re zent­ner­schwe­ren Ruck­säcke; krum­me, nach
hin­ten ge­bo­ge­ne Rücken, Kau­gum­mischmatz­ge­räu­sche; aus Mün­dern
her­vor­tre­ten­de Bla­sen, ro­sa.

Ein auf dem Geh­weg par­ken­der E‑Scooter, ei­ne Mut­ter und ihr Sohn.
Das sich zum Len­ker strecken­de Kind und das lau­te Er­tö­nen der Rol­ler-Hu­pe;
zu­sam­men­zucken­de Kör­per, »Schluss jetzt!«

Die Un­ge­duld der Au­to­fah­rer und ih­re Äu­ße­run­gen dar­über in Form
von Hu­pen und Flu­chen. Her­un­ter­ge­kur­bel­te Fen­ster, Trans­por­ter und
Fahr­rä­der mit An­hän­gern; Kin­der­bring­zeit, über­all Ge­schrei.

Die hin- und her­zucken­den Bil­der des groß­for­ma­tig als Wer­be­flä­che
ge­nutz­ten LED-Bild­schirms, Times Squa­re Ober­bilk, New York
Düs­sel­dorf; kauft, kauft, sonst sind wir ver­lo­ren.

Die sich sta­peln­den Ki­sten der To­ma­ten, Gur­ken und Boh­nen beim
ge­gen­über­lie­gen­den Ge­mü­se­händ­ler und der Va­ter mit sei­nem
La­sten­rad und der ATOM­KRAFT-NEIN-DAN­KE-Flag­ge auf dem
Ge­päck­trä­ger.

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Jo­han­nes V. Jen­sen: Him­mer­lands­ge­schich­ten

Jo­han­nes Vil­helm Jen­sen wur­de 1873 als Sohn ei­nes Tier­arz­tes in Far­sø im jüt­län­di­schen Him­mer­land, Dä­ne­mark, ge­bo­ren. 1894 be­gann er un­ter dem Pseud­onym Ivar Lykke Span­nungs­ro­ma­ne zu schrei­ben, um sein Me­di­zin­stu­di­um zu fi­nan­zie­ren. Die er­sten Ro­ma­ne un­ter sei­nem ei­ge­nen Na­men be­gann er 1896 (spä­ter woll­te er die­se, wie es heißt, eher un­ge­sche­hen ma­chen). Er gab das ...

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Das Re­gime Pu­tin

Be­mer­kun­gen zu sechs Bü­chern

John Sweeney: Der Killer im Kreml
John Sweeney: Der Kil­ler im Kreml

Der Bri­te John Sweeney, jah­re­lan­ger BBC-Re­por­ter und ein er­fah­re­ner Kriegs­be­richt­erstat­ter, ist 64 Jah­re alt. Er hat mehr als 240.000 Fol­lower auf Twit­ter und trägt zu­meist ei­ne oran­ge Müt­ze. Er war im Fe­bru­ar 2022 in der Ukrai­ne, in Kiew (ich blei­be bei die­ser Schreib­wei­se) und er­leb­te den Kriegs­be­ginn haut­nah mit. Sei­ne jah­re­lan­ge Be­schäf­ti­gung mit Wla­di­mir Pu­tin und die Er­fah­run­gen auch in die­sem neu­en Krieg (er fuhr un­ter an­de­rem nach But­cha) hat er nun zu ei­nem mehr als 300seitigen Buch mit dem rei­ße­ri­schen Ti­tel »Der Kil­ler im Kreml« zu­sam­men­ge­fasst. Es wird, so der Un­ter­ti­tel, »Wla­di­mir Pu­tins skru­pel­lo­ser Auf­stieg und sei­ne Vi­si­on vom groß­rus­si­schen Reich«, be­han­delt.

Sweeney kennt Pu­tins Kriegs­füh­rung, war in den 2000er Jah­ren mehr­mals in Tsche­tsche­ni­en, be­rich­te­te von Zi­vi­li­sten, die un­ter Ar­til­le­rie­feu­er flie­hen muss­ten, ob­wohl ih­re Eva­ku­ie­rung an­ge­mel­det war und sich mit wei­ßen Fah­nen be­weg­ten. Er war bei der Ab­schuss­stel­le der MH17 und sah Grau­si­ges. Für ihn ist Pu­tin nie­mand, der sich ver­än­dert hat – sei­ne Bru­ta­li­tät war schon im­mer da. Die Bom­ben­an­schlä­ge auf Wohn­häu­ser in Mos­kau 1999, die Gei­sel­nah­men im Du­brow­ka-Thea­ter 2002 und Be­slan 2004 – al­les Ter­ror­an­schlä­ge, die nach of­fi­zi­el­ler Les­art von tsche­tsche­ni­schen Ter­ro­ri­sten ver­übt wor­den wa­ren, aber, so ei­ni­ge In­di­zi­en Sweeneys, in Wirk­lich­keit »schwar­ze Ope­ra­tio­nen« des rus­si­schen In­lands­ge­heim­dien­stes wa­ren, um die Bru­ta­li­tät im Krieg in Tsche­tsche­ni­en zu recht­fer­ti­gen und Pu­tin als »star­ken Mann« zu zei­gen.

Die The­se, dass die Mos­kau­er An­schlä­ge auf Wohn­häu­ser vom FSB in­sze­niert wor­den sind, wird von der Ge­schich­te um den »ge­schei­ter­ten« An­schlag von Ra­j­san, als Zeu­gen ein­deu­tig rus­sisch-aus­se­hen­de Bom­ben­le­ger iden­ti­fi­zier­ten, ge­nährt. Auch zur Gei­sel­nah­me von 2002 gibt es zahl­rei­che Un­ge­reimt­hei­ten und un­ge­klär­te Fra­gen (die ver­mut­lich der Jour­na­li­stin An­na Po­lit­kows­ka­ya das Le­ben ge­ko­stet ha­ben könn­ten). Sweeneys Ein­las­sun­gen zu Be­slan sind hin­ge­gen eher spe­ku­la­tiv.

Da­mit wird – lei­der – das We­sen die­ses Bu­ches deut­lich. Die­se Bou­le­var­di­sie­rung ist um­so be­dau­er­li­cher, als Sweeney wirk­lich um­fang­rei­che und fak­ten­ba­sier­te In­for­ma­tio­nen über die (Un-)Taten Pu­tins und sei­ner Re­gie­rung chro­no­lo­gisch, al­ler­dings in po­pu­lä­rem Duk­tus vor­legt. Die Li­ste ist lang: An­schlä­ge, merk­wür­di­ge »Selbst­mor­de« von Op­po­si­tio­nel­len, Ver­haf­tun­gen, Mor­de, Ver­gif­tun­gen und Ver­let­zung völ­ker­recht­lich ver­bind­li­cher Gren­zen, völ­ker­mord­ähn­li­ches Vor­ge­hen in Krie­gen und die Ein­lul­lung west­li­cher Staats- und Re­gie­rungs­chefs bis hin zur Un­ter­stüt­zung rechts­na­tio­na­li­sti­scher und lin­ker Par­tei­en in der EU und der Trump-Par­tei­nah­me im US-Wahl­kampf. Das ist al­les nicht neu, aber in der Auf­zäh­lung be­ein­druckend, weil man deut­lich ge­macht be­kommt, wie die­se Vor­ge­hens­wei­sen prak­tisch schon zur Nach­rich­ten­rou­ti­ne ge­wor­den wa­ren, wo­bei die ein­zel­nen Ta­ten kurz­fri­stig für Ent­set­zen sorg­ten, am En­de je­doch wie­der rasch zum All­tag zu­rück­ge­kehrt wur­de. Manch­mal ver­blüfft Sweeney den Le­ser, in dem er schein­bar Un­wich­ti­ges be­rich­tet, wie et­wa die Li­ste der Ver­spä­tun­gen, die aus­län­di­sche Staats- und Re­gie­rungs­chefs auf Pu­tin war­ten muss­ten (man ist über­rascht, wer am läng­sten war­ten muss­te).

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Eight-Six

Im Zug die üb­li­chen Sams­tag­nach­mit­tag-Base­ball­fans in ih­ren ro­ten T‑Shirts, ro­ten Kap­pen, ro­ten Car­di­gans, ro­ten Ta­schen, ro­ten Socken, ro­ten Schlap­fen, al­les rot, nur die Ho­sen nicht, bei den Ho­sen ist grün in Mo­de, das merkt man auch hier. Ah, mein Buch paßt da­zu, die Fahrt­lek­tü­re, ein Ro­man von Phil­ip Roth, na­tür­lich in Rot. Dann Stra­ßen­bahn, Ein­kaufs­stra­ße, Shou­ten­gai, Par­co, das Kauf­haus für jun­ge Leu­te, wo ich frü­her oft ein­kau­fen war, als ich mich noch halb­wegs jung fühl­te, plau­dern mit mei­ner Lieb­lings­ver­käu­fe­rin, die ich neu­lich vor ei­nem Ca­fé ge­trof­fen ha­be, sie ar­bei­tet schon lan­ge nicht mehr in der Bou­tique.

»Und jetzt?«

»Hier in der Ge­gend.«

»Da gibt es doch nichts.«

Sie hat sich schon frü­her für schicke Au­tos in­ter­es­siert, und hier, wo es nichts gibt, gibt es nicht we­ni­ge Zu­lie­fe­rungs­fir­men für Mat­su­da, auf deutsch Maz­da.

Wir lach­ten, gin­gen un­se­rer We­ge. Die Bou­tique im Par­co ist nicht mehr das, was sie war. Die Ge­schäfts­lei­tung der Ket­te, zu der sie ge­hört, woll­ten sie noch mehr ver­jün­gen, jetzt ste­hen dort däm­li­che Jungs mit tou­pier­ten Fri­su­ren als Ver­käu­fer her­um, le­ben­de Schau­fen­ster­pup­pen, we­nig Kun­den. Ich muß oh­ne­hin in den zehn­ten Stock, den letz­ten. Club Quat­tro, hät­te ich im Kel­ler er­war­tet, Goog­le Maps spe­zi­fi­ziert das nicht, ist aber oben über den Dä­chern der Stadt. Was man dann gar nicht merkt, wenn man ein­mal drin ist in der Bu­de. Fen­ster­lo­se Sä­le die­ser Art ha­ben al­le­samt et­was von den al­ten Beat-Kel­lern, Gott hab sie se­lig. Kühl, ge­dämpft, nicht zu groß nicht zu klein, vor­ne Steh­pu­bli­kum, hin­ten Sitz­plät­ze an zwei lan­gen The­ken. An den Sei­ten­wän­den drei ver­grö­ßer­te Fo­tos, die wie Vor­hän­ge wir­ken, rechts die Sze­ne­rie des zer­stör­ten Hi­ro­shi­ma im Au­gust 1945, dar­un­ter ein neu­es Fo­to des­sel­ben Orts, die Dä­cher der Stadt, wie man sie vom Par­co aus sieht, links ein so­fort als sol­ches er­kenn­ba­res Kunst­werk, ei­ne Col­la­ge, die lin­ke Hälf­te des Fo­tos sehr bunt, die rech­te dun­kel, über­wie­gend schwarz we­gen der al­ten Leu­te, die da in Trau­er­klei­dung auf dem Bo­den lie­gen, sich da­bei aber, nach ih­rer Mi­mik zu schlie­ßen, recht gut amü­sie­ren. Auf der lin­ken Hälf­te ste­hen und lie­gen und krab­beln fast nack­te, nur mit Win­deln be­klei­de­te Ba­bys auf der grü­nen Wie­se, ein paar Tie­re sind auch da, ei­ne gro­ße Schild­krö­te, ein Fuchs, ein klei­nes Nas­horn, und in der Mit­te des Gan­zen, schwarz-weiß oder grau-weiß, der Atom­pilz, das Zen­tral­mo­tiv der gan­zen An­ord­nung. Le­ben und Tod? Le­ben und Le­ben. Oder Le­ben und Tod und noch im­mer Le­ben.

Ach ja, das Kon­zert fin­det am 6. Au­gust statt, nicht um 8 Uhr 15, son­dern am Abend. Ab­ge­se­hen von den Vor­hang­fo­tos, die bald im Dun­kel ver­schwin­den wer­den, ist nicht viel da­von zu mer­ken. Der Mo­de­ra­tor sagt pflicht­schul­dig ein paar Wor­te, auch die Jün­ge­ren, auch die Al­ter­na­ti­ven sol­len an die­sem Tag dar­an er­in­nert wer­den und nicht ver­ges­sen, daß es im­mer noch Atom­waf­fen gibt und Krie­ge ge­führt wer­den.

»Wart ihr um acht Uhr schon wach? Habt ihr die An­spra­chen ge­hört? Im Fern­se­hen, ja? Nein? Macht nichts.«

Wei­ter­le­sen ...