Wenn man historische Begebenheiten literarisch bearbeitet, so gibt es mehrere Fallstricke, in die sich der Autor verfangen kann: Er kann mit seiner These der Ereignisse in einen Furor der Unbelehrbarkeit verfallen – die Geburt der Verschwörungstheorie. Er kann in Einseitigkeit versinken und den notwendigen Abstand vergessen – blinde Parteinahme. Der schlimmste Fall ist aber das Verschwimmen von Fiktion und Dokumentarischem. Indem reale Ereignisse, die mindestens ausschnittweise in einer bestimmten Zeit öffentlich gemacht wurden, als Grundlage literarischer Bearbeitung dienen, ist dem Leser ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr klar, wann die Freiheit des Dichterdenkens beginnt und die Fakten zu diesen Gunsten aufgegeben werden.
Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit
Bereits auf den ersten Seiten wird klar: Christoph Hein be-(oder ver-?)arbeitet den Tod des mutmasslichen Terroristen Wolfgang Grams vom Juni 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Der Ort wird namentlich nicht verfremdet – die Protagonisten sehr wohl. Wolfgang Grams heisst Oliver Zurek; die Hauptprotagonisten dieses Kammerspiels, die Eltern, Richard und Friederike.
kriegen wir Dich doch!« Diesen leicht abgewandelten Werbeslogan könnte man als Fazit unter Harald Stauns Offenen Brief »Unsere Neugier ist grenzenlos« setzen, der am Wochenende in der FASZ zu lesen war. Staun schreibt diesen Brief an Natascha Kampusch und prognostiziert ihr kein Entrinnen aus der medialen Infotainmentkultur und rät zur sofortigen Kapitulation. In der Diskussion ...
Sie sind hier, weil Sie es an Demut, an Selbstdisziplin haben fehlen lassen. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis ist für geistige Gesundheit. Sie zogen es vor, ein Verrückter, eine Minderheit von einem einzelnen zu sein. Nur der geschulte Geist erkennt die Wirklichkeit, Winston. Sie glauben, Wirklichkeit sei etwas Objektives, äusserlich Vorhandenes, aus eigenem Recht Bestehendes. Auch glauben Sie, das Wesen der Wirklichkeit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbsttäuschung hingeben, etwas zu sehen, nehmen Sie an, jedermann sehe das gleiche wie Sie. Aber ich sage Ihnen, Winston, die Wirklichkeit ist nicht etwas an sich Vorhandenes. Die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken und nirgendwo anders. Nicht im Denken des einzelnen, der irren kann und auf jeden Fall bald zugrunde geht: nur im Denken der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Möglichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache müssen Sie wieder lernen, Winston. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes. Sie müssen sich demütigen, ehe Sie geistig gesund werden können.
In einem Punkt ist Orwells Zukunftsphantasie längst Realität geworden: Die Wahrheitsminister sind unter uns. Sie sind so zahlreich und so mächtig, dass sie den Diskurs, das öffentliche Diskutieren kontroverser Themen seit Jahren, seit Jahrzehnten bestimmen. Das Philistertum der Wahrheitsminister ist nicht zu verwechseln mit dem, was man als (wissenschaftlich belegten oder moralisch erarbeiteten) Konsens bezeichnet. Wahrheitsminister begründen Wahrheiten über das konsensuelle einer Gesellschaft hinaus. Sie sind nicht nur die Türhüter, sie sind die Exegeten des Konsens. Sie interpretieren ihn aus, richten dabei über gut und böse, über richtig und falsch. Daumen hoch oder Daumen runter. Wahrheitsminister sind dabei nicht zu verwechseln mit dem vergleichsweise harmlosen Mainstream. Wankelmütig sind sie selten; nur die normative Kraft des Faktischen verleitet sie gelegentlich dazu, ihre Wahrheiten anzupassen.
Mehrere Aspekte sind besonders interessant. Zum einen glaubt Zuckermann eher an einen Affekt der israelischen politischen Klasse, was den Libanon-Krieg angeht und widerspricht damit der These Hershs von einem lange vorbereiteten Schlag. »Time will tell«.
Desweiteren ist Zuckermanns Widerspruch hinsichtlich der Rubrizierung des (sogenannten) Islamismus als »faschistisch« (oder gar »nationalsozialistisch«) interessant:
…und den Tautologien der Justiz, der Sinnlosigkeit des Glaubens des Künstlers als Vorbild, der massenmedialen Bilderbeeinflussung, Deutschland als Schwamm und Handkes desillusionierenden Blick, was den Nobelpreis angeht.
In dem Essay »Die Tautologien der Justiz« beschreibt Handke 1969 als Prozessbeobachter das Vorgehen der (deutschen) Justiz gegen die Hausbesetzer- und Demonstrantenszene. Bereits damals spricht er überaus deutlich dem Gericht die Möglichkeit ab, ein unvoreingenommenes Urteil fällen zu können – woran das liegt, wäre eine separate Erörterung wert…
Es ist eigentlich ziemlich klar woran das liegt. An Vor-Urteilen, die eigentlich nichts mit Gerichtsbarkeit zu tun haben. In den USA ist man, jedenfalls vor einem Gericht, unschuldig bis zum Urteil. Unter dem deutschen Justizsystem ist man, wenn arretiert, erst einmal schuldig bis zum eventuellen Freispruch. Da sind von vornherein die Akzente anders gesetzt.
Das Tautologische von dem Handke da sehr schön beobachtend spricht, hängt also eher mit Habitus, mit Mief, mit dem Obrigkeitsdenken zusammen, die tief in der Volkspsyche verankert sind. Hier ja manchmal auch, wenn man sich das berühmte Gerichtsverfahren gegen die »Chicago Sieben« nach der 68er Democratic Convention ansieht, mit dem Richter Hoffman. Richter, die dann sich eher wie verklemmte Väter/Mütterchen benehmen, und nur aus Zufall Richter sind, oder was man sich davon vorstellt, also dem »gesunde Volksempfinden« Ausdruck verleihen.
Seymour M. Hershs neuester Artikel im New Yorker schreibt seine Iran-Story vom Frühjahr gewissermassen fort. Hersh beschreibt dort in seinem bekannten Stil, wie Israel mehr oder weniger selbständig den Krieg gegen den Libanon aufgenommen hat – lange geplant. Die Entführung der beiden Soldaten war wohl nur der willkommene Anlass.
Washington brauchte, so Hershs Recherchen, kaum Öl ins Feuer zu giessen. Am Ende beschreibt er sogar, wie es zu Spannungen in der Bush-Administration über Ausmass und Fortsetzung der israelischen Aktivitäten gab. Bush und Cheney unterstützten Israels Vorgehen – Rumsfeld war eher dagegen und sah seine Truppe im Irak noch stärker im Fokus des lokalen Terrorismus und Condoleezza Rice sass vermittelnd dazwischen und wollte angeblich direkte Gespräche mit Syrien beginnen (was wohl abschlägig beurteilt wurde). Wenig schmeichelhaftes ist dem Artikel über den britischen Premierminister Blair zu entnehmen. Aber wie sollte man auch...
…und der Handke-Rezeption in Deutschland und den USA, Sezessionen und Freiheitskämpfen, Karl-Heinz Bohrer und der Aussenpolitik der Vereinigten Staaten.
Es gab in den deutschen Feuilletons 1996 kaum Befürworter für Handkes Position; fast nur Häme. Andreas Kilb in der ZEIT damals war recht ausgewogen. Martin Walser hat, glaube ich, auch was positives dazu gesagt. Einige schwiegen. Wilfried F. Schoeller, damals beim Hessischen Rundfunk, sass während der Frankfurter Lesung nur unweit von mir und war sichtlich auf Handkes Seite. Eine Sendung, die Handkes Position mal ausgewogen darstellte, gab es nicht. Wäre die »Winterliche Reise« ohne diese frontale Medienkritik gewesen, sondern ein purer Reisebericht – man wäre nicht so über ihn hergefallen.
Es war, glaube ich, nicht nur die Medienkritik. Das Buch beginnt ja genauso gut begründet wie das »Abschied des Träumers vom Neunten Land«. Handke gibt Rechenschaft ab für seine Position – also man kann ganz vernünftig mit ihm übereinstimmen, oder eben nicht. Ja, dann kommt die Provokation über die Medien, aber soweit ich mich jetzt erinnere, stürzten sich diese Leute doch auf ihn, weil er etwas anderes berichtete, nicht was sie in ihren Verteufelungen bestätigte. »Andersgelbe Nudelnester« war das auslösende Wort worauf sich die Biester stürzten. Kommt mir vor wie bei einer Hexenjagd.
Am Anfang des Buches sitzt der österreichische Literaturprofessor Stein, der in den USA lebt und arbeitet, im Flugzeug. Für ihn, dem heimatlosen Weltbürger, sind dies fast die schönsten Stunden; Horte der Ruhe; Zeiten, in dem von ihm keine Handlungen, keine Entscheidungen abverlangt werden. Stein sieht eine politische Talkshow im Flugzeugfernsehen. Er nimmt nicht sofort den Kopfhörer, sondern schaut nur dem Fernsehbild zu.
Dann wurde ihm plötzlich die Lächerlichkeit dieser Fernsehrunde bewusst. Wie wenig die hier zum Gespräch geladenen Herrschaften zu überzeugen vermochten, solange der Ton ausgeschaltet blieb! Allein am Gehörtwerden hing ihre Existenz; wie sie da mit den Händen grosse Gesten in den Raum schrieben und mit ihren durchwegs müden – denn begeistert war da keiner mehr – Gesichtern ein wenig Leidenschaft für ihr Thema vorzutäuschen versuchten, ergab ein trauriges Bild...Das »Weltgeschehen« bestand darin, dass darüber geredet wurde.
Stein, 48 Jahre alt, verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter (15 und 19), einen nicht besonders anstrengenden, aber gut dotierten Beruf, der ihm allerdings keine Befriedigung verschafft, weil ihm die Anerkennung versagt bleibt (was wohl daran liegt, dass er irgendwann schlichtweg das Interesse an der Literatur verloren hat [interessante Innenansicht eines zum Nichtleser gewordenen]). Seine Flüge nach Europa dienen meist nur oberflächlich seinem Beruf; er besucht seinen Freund Stéphane in Paris, ein sehr erfolgreicher und bekannter Anwalt – in vielem das Gegenstück zu Stein. Und er besucht seine Geliebten. Stéphane, der dem Beruf verhaftete Mensch, extrovertiert, mit wechselnden Frauenaffären, in den Tag hineinlebend – Stein der Grübler, introvertiert; aber ebenfalls mit wechselnden Gebliebten.
Der auktoriale Erzähler, eher Stein zugewandt, weiss viel zum Verhältnis der beiden zu erzählen – bis zur Frage, was sie denn tatsächlich als Freunde verbindet oder ob es nicht nur eine Art Bindung ist, die keiner von beiden bisher beendet hat (aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit). Freilich sind die Bande der Deserteure des Lebens nicht mit den gängigen Mustern einer normalen »Freundschaft« zu charakterisieren. Obwohl Stein sich dann fast selbst entrüstet zusieht, als er Stéphane zu dessen 50. Geburtstag einen Flug in die Staaten schenkt. Sehnsüchtig erwartet Stein, dass der Fluggutschein verfallen möge – kurz vorher jedoch kündigt der quirlige Freund sein Ankommen jedoch an.