Erich Wolf­gang Skwa­ra: Zer­brech­lich­keit oder Die To­ten der Place Bau­doy­er

Erich Wolfgang Skwara: Zerbrechlichkeit

Erich Wolf­gang Skwa­ra: Zer­brech­lich­keit

Am An­fang des Bu­ches sitzt der öster­rei­chi­sche Li­te­ra­tur­pro­fes­sor Stein, der in den USA lebt und ar­bei­tet, im Flug­zeug. Für ihn, dem hei­mat­lo­sen Welt­bür­ger, sind dies fast die schön­sten Stun­den; Hor­te der Ru­he; Zei­ten, in dem von ihm kei­ne Hand­lun­gen, kei­ne Ent­schei­dun­gen ab­ver­langt wer­den. Stein sieht ei­ne po­li­ti­sche Talk­show im Flug­zeug­fern­se­hen. Er nimmt nicht so­fort den Kopf­hö­rer, son­dern schaut nur dem Fern­seh­bild zu.

Dann wur­de ihm plötz­lich die Lä­cher­lich­keit die­ser Fern­seh­run­de be­wusst. Wie we­nig die hier zum Ge­spräch ge­la­de­nen Herr­schaf­ten zu über­zeu­gen ver­moch­ten, so­lan­ge der Ton aus­ge­schal­tet blieb! Al­lein am Ge­hört­wer­den hing ih­re Exi­stenz; wie sie da mit den Hän­den gro­sse Ge­sten in den Raum schrie­ben und mit ih­ren durch­wegs mü­den – denn be­gei­stert war da kei­ner mehr – Ge­sich­tern ein we­nig Lei­den­schaft für ihr The­ma vor­zu­täu­schen ver­such­ten, er­gab ein trau­ri­ges Bild...Das »Welt­ge­sche­hen« be­stand dar­in, dass dar­über ge­re­det wur­de.

Stein, 48 Jah­re alt, ver­hei­ra­tet, hat zwei fast er­wach­se­ne Töch­ter (15 und 19), ei­nen nicht be­son­ders an­stren­gen­den, aber gut do­tier­ten Be­ruf, der ihm al­ler­dings kei­ne Be­frie­di­gung ver­schafft, weil ihm die An­er­ken­nung ver­sagt bleibt (was wohl dar­an liegt, dass er ir­gend­wann schlicht­weg das In­ter­es­se an der Li­te­ra­tur ver­lo­ren hat [in­ter­es­san­te In­nen­an­sicht ei­nes zum Nicht­le­ser ge­wor­de­nen]). Sei­ne Flü­ge nach Eu­ro­pa die­nen meist nur ober­fläch­lich sei­nem Be­ruf; er be­sucht sei­nen Freund Sté­pha­ne in Pa­ris, ein sehr er­folg­rei­cher und be­kann­ter An­walt – in vie­lem das Ge­gen­stück zu Stein. Und er be­sucht sei­ne Ge­lieb­ten. Sté­pha­ne, der dem Be­ruf ver­haf­te­te Mensch, ex­tro­ver­tiert, mit wech­seln­den Frau­en­af­fä­ren, in den Tag hin­ein­le­bend – Stein der Grüb­ler, in­tro­ver­tiert; aber eben­falls mit wech­seln­den Ge­blieb­ten.

Der aukt­oria­le Er­zäh­ler, eher Stein zu­ge­wandt, weiss viel zum Ver­hält­nis der bei­den zu er­zäh­len – bis zur Fra­ge, was sie denn tat­säch­lich als Freun­de ver­bin­det oder ob es nicht nur ei­ne Art Bin­dung ist, die kei­ner von bei­den bis­her be­en­det hat (aus Be­quem­lich­keit oder Ge­wohn­heit). Frei­lich sind die Ban­de der De­ser­teu­re des Le­bens nicht mit den gän­gi­gen Mu­stern ei­ner nor­ma­len »Freund­schaft« zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Ob­wohl Stein sich dann fast selbst ent­rü­stet zu­sieht, als er Sté­pha­ne zu des­sen 50. Ge­burts­tag ei­nen Flug in die Staa­ten schenkt. Sehn­süch­tig er­war­tet Stein, dass der Flug­gut­schein ver­fal­len mö­ge – kurz vor­her je­doch kün­digt der quir­li­ge Freund sein An­kom­men je­doch an.

Die Er­zäh­lun­gen über Stein und des­sen trost­lo­ses All­tags­le­ben, sein Ver­druss, sei­ne Me­lan­cho­lie, sei­ne Un­be­haust­heit – mit sehr schö­nen Me­ta­phern, nein: Bil­dern, ge­lingt es Skwa­ra die­se Per­son ent­ste­hen zu las­sen, oh­ne sie in Spie­sser­tum, Lan­ge­wei­le oder Lar­moy­anz ent­glei­ten, er­sticken zu las­sen; von De­nun­zia­ti­on na­tür­lich erst recht kei­ne Spur. Herr­lich die Schil­de­rung des Va­ters der 15jährigen Toch­ter ge­gen­über – die Sehn­sucht, sie zu ver­ste­hen, mit ihr ein­mal wirk­lich zu re­den und dann wie­der Steins Un­mög­lich­keit, sol­che Si­tua­tio­nen ent­spre­chend her­bei­zu­füh­ren oder zu­zu­las­sen.

Und im­mer wie­der die Re­mi­nis­zen­zen an die Af­fä­ren, ins­be­son­de­re mit So­phie, die Frau, die sich mehr­mals für ihn um­brin­gen woll­te, weil sie sei­ne Ver­däch­ti­gun­gen und auch De­mü­ti­gun­gen nicht mehr aus­hielt und dann plötz­lich aus sei­nem Le­ben für im­mer ver­schwand. All die­se ge­schei­ter­ten Lieb­schaf­ten, von ihm mi­nu­ti­ös pro­to­kol­liert (je­der Hö­he­punkt schrift­lich fest­ge­hal­ten), da­zu die Ehe mit sei­ner Frau (selt­sam aus­wei­chend und kühl) – Stein scheint nicht nur un­fä­hig Lie­be zu ge­ben, zu zei­gen – son­dern auch noch un­fä­hig Lie­be zu­zu­las­sen.

Nein, es klingt jetzt viel­leicht ein biss­chen nach Gro­schen­ro­man. Das ist es nicht. Wirk­lich nicht. Skwa­ra ge­lin­gen (ins­be­son­de­re im er­sten Teil) For­mu­lie­run­gen von ent­zücken­der Schön­heit.

Wann wur­de ein Mensch alt? Ein Mensch war alt, wenn er sich den neu­en An­fang nicht mehr vor­stel­len konn­te. Wenn er sich ein­ge­stand: ge­lun­gen oder miss­lun­gen, so ist es eben, so bleibt es nun.

Der neue An­fang – das sind sei­ne Lieb­schaf­ten; das ein­zi­ge Ge­biet, auf dem Stein noch so et­was wie In­itia­ti­ve er­greift. Sie en­den im Ver­las­sen­wer­den, und der Selbst­hass wird dann fast ge­nie­sse­risch ze­le­briert. Dem ge­gen­über im­mer der An­ti­po­de Sté­pha­ne und wenn sie dann zu­sam­men sind, re­den sie an­ein­an­der vor­bei, un­fä­hig ein­mal nur mit­ein­an­der zu schwei­gen.

Plötz­lich ein Wech­sel der Er­zähl­per­spek­ti­ve (Das Be­schwö­ren ver­gan­ge­ner Mahl­zei­ten). Ein Ich-Er­zäh­ler in Ita­li­en, in ei­nem Ho­tel, dem Uni­ver­so, dort, wo sei­ne gro­sse Ju­gend­lie­be Gio­van­ni in ein paar Stun­den zum Wie­der­se­hen er­war­tet wird. In­di­zi­en spre­chen da­für, dass hier Stein er­zählt oder ein­fach nur der Be­ginn ei­nes Ro­mans von Stein zu le­sen ist. Was ist es? Ein Traum? Ei­ne Epi­pha­nie?

Und na­tür­lich denkt man an Aschen­bach und sei­nen Tad­zio und das Er­wecken des neu­en Ge­fühls, wel­ches ge­ra­de in der Nicht­er­fül­lung (oder bes­ser: Un­mög­lich­keit) erst gross, ein­zig­ar­tig wird. Aber der Ich-Er­zäh­ler bei Skwa­ra will den neu­en An­fang oder zu­min­dest noch ein­mal die Be­schwö­rung der ver­gan­ge­nen Zei­ten. In der Ho­tel­hal­le trifft er ei­nen Mann, der dort Tag und Nacht sitzt. Sie tau­schen ih­re Ge­schich­ten aus. Pa­ra­bel­haft er­fährt er von dem al­ten Mann und sei­ner Lie­be Ro­san­na, auf die er seit Jahr­zehn­ten war­tet – das War­ten ist zum ein­zi­gen Le­bens­zweck ge­wor­den. Das War­ten als das Ver­spre­chen der Lie­be; der Be­weis, als ein­zi­ger von al­len sie je­mals ge­liebt zu ha­ben.

Die Kon­se­quenz des Grei­ses, das Spie­geln der ei­ge­nen Un­fä­hig­keit zu lie­ben und das Ur­teil des Man­nes über den Ver­such der Wie­der-Ho­lung des Lie­bes­tau­mels mit Gio­van­ni (der nur de­zent an­ge­deu­tet wird) – all das ver­an­lasst den Ich-Er­zäh­ler we­ni­ge Mi­nu­ten vor dem ge­plan­ten Tref­fen zur über­stürz­ten, ja pa­ni­schen Ab­rei­se.

Dia­lo­gisch und at­mo­sphä­risch be­weist Skwa­ra in die­sem Ka­pi­tel die höch­ste Mei­ster­schaft. Ge­schickt chan­giert er zwi­schen Sze­nen von Bern­hard­schem Dia­log­fu­ror zwi­schen den bei­den wartenden(etwa wenn es um ein Gast­spiel ei­nes be­rühm­ten Opern­te­nors geht [zwei­fel­los ist Pa­va­rot­ti hier ka­ri­kiert]), Mann­scher Ver­zückung ei­nes pla­to­nisch-ho­mo­se­xu­el­len Schwär­mens und kaf­ka­es­ker Pa­ra­bel, was die Schil­de­rung der Vor­gän­ge am Ort und spe­zi­ell im Ho­tel an­geht. Das wirkt da­bei mit­nich­ten ek­lek­ti­zi­stisch oder epi­go­nal – im Ge­gen­teil: es ent­steht ein ei­ge­ner Sound, ein fas­zi­nie­ren­der Sog.

Im letz­ten Drit­tel (wie­der aukt­ori­al er­zählt; manch­mal nicht im­mer von der In­ten­si­tät der vor­he­ri­gen Ka­pi­tel) rei­sen Stein und Sté­pha­ne durch die Welt; nach Ita­li­en (Stein will das Grab von Gio­van­ni und sei­ner Gio­van­nis Mut­ter be­su­chen), Spa­ni­en, wie­der zu­rück in den Staa­ten – es bleibt manch­mal un­klar, ob die­se Rei­sen, die­se fort­wäh­ren­de Be­we­gung, nur in der Phan­ta­sie statt­fin­den oder in der Rea­li­tät. Skwa­ra wird sur­re­al – die Ver­wir­rung Steins wird zur Ver­wir­rung des Le­sers.

Zu ei­ner An­nä­he­rung der bei­den Freun­de kommt es nicht – das Re­den hat­te ih­nen doch nicht gut ge­tan und Sté­pha­nes Brief an die Men­schen, in ei­nem Spiel­ca­si­no bei ei­ni­gen Drinks auf ei­nem Zet­tel ge­schrie­ben, ent­wickelt sich zu ei­ner Art Ent­schul­di­gungs­schrei­ben des Sté­ph­an­schen Tem­pe­ra­ments, ein Ein­ge­ständ­nis, nie nach sei­nem Rhyth­mus ge­lebt zu ha­ben – und das in lan­gen, ap­pel­la­ti­ven Sät­zen. Aber auch hier ist nicht klar, was da­von Sté­pha­ne ge­schrie­ben hat und was Stein ein­fach wei­ter­phan­ta­siert.

Am En­de sitzt Stein wie­der im Flug­zeug und denkt an sei­nen ein­zi­gen und letz­ten Con­cor­de-Flug zu­rück, als er um 20 Uhr ab­flog und um 17.40 Uhr an­kam. Wie glück­lich ich an je­nem Tag ge­we­sen bin, dach­te Stein...

Wir müs­sen uns Stein als ei­nen un­glück­li­chen Men­schen vor­stel­len.