Ob törichter Unsinn oder einfach nur anderer Standpunkt: Es geht immer gleich ums Ganze, wenn das Feuilletongericht tagt und ihre Adepten sich empören dürfen.
»So wie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben; und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.«
Kaum ein Wort aus Goethes Gesprächen mit Eckermann dürfte häufiger zitiert worden sein, wenn es wieder einmal darum ging einem Schriftsteller seine politischen Verfehlungen oder einfach nur Fettnäpfchen nachzuweisen. Fast immer gingen solche Vorwürfe damit einher, ihm/ihr auch gleich noch die literarische Reputation in toto abzusprechen.
Betrachtet man nur einmal die letzten einhundert Jahre so ist die Kette der politisch inkriminierten Schriftsteller beachtlich. Man denke nur einmal an die Schriften eines gewissen Thomas Mann 1914, jene »Gedanken im Kriege«, die sich später noch in einem Konvolut mit dem süffisanten Titel »Bemerkungen eines Unpolitischen« erweiterten. Mann war damals – im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich – ein radikaler Verfechter der deutschen »Kultur«, die er der »Zivilisation« beispielsweise der Franzosen als völlig überlegen ansah. Etwas, was heute nichts anderes als Kopfschütteln erzeugt. Hingegen die Frage, welcher der beiden – Thomas oder Heinrich – denn am Ende der sprachmächtigere Dichter gewesen sei, ziemlich eindeutig beantwortet wird.
Die üblichen Verdächtigen
Ich kürze die Diskussion ab und nenne nur die Liste der üblichen Verdächtigen wie Hamsun, Benn, Pound, Céline, Jünger, T. S. Eliot auf der rechten oder Aragon, Bloch, Sartre und Feuchtwanger auf der linken Seite. Ich erläutere nicht im Detail die Nazi-Treue Hamsuns, seinen Hitler-Nachruf, der ihn in Norwegen, seiner Heimat, zur persona non grata machte. Ich diversifiziere nicht Ezra Pounds Mussolini-Faszination, seinen Moderne-Hass, sein Liebäugeln mit dem Faschismus und seine unmenschliche Behandlung, die man ihm danach hat angedeihen lassen. Und ich schwelge auch nicht in Details über die Gulag-Schönredner, die bis in die 1970er Jahre Stalin und Konsorten für die besseren Politiker hielten als die »Imperialisten« in den USA.
Immer nagt da auch der literarische Zweifel: Kann man Hamsuns »Segen der Erde« lesen ohne an Blut und Boden zu denken? Wieviel faschistische Gesinnung steckt in den »Cantos«? 2011 diskutierte das literarische Frankreich mit der üblichen Polemik und Leidenschaft, ob man dem Antisemiten Céline gedenken dürfte. Noch sind die Koalitionen dort so, dass man die Frage beim Stalin-Adepten Sartre nicht stellt.
Die Mentalität
Wie sieht es in Deutschland aus? Entgegen der landläufigen Annahmen setzte früh eine Diskussion unter Literaten im Deutschland nach 1945 ein, welche Schriftsteller für die Bundesrepublik relevant sein sollen. Die Gruppe 47, von Hans-Werner Richter ausgedacht (es war eine informelle Gruppe, die sich mindestens anfangs ausschließlich aufgrund von Richters Präferenzen ergab), widersetzte sich wenn auch sanft der durchaus drohenden Restauration. Die »Mitglieder« der Gruppe 47 verstanden sich als literarische und als politische Akteure. Als unabding- und unbefragbarer Zugangscode zur Gruppe galt eine linksliberale Gesinnung, die Richter »Mentalität« nannte. 1963 brüstete sich Hans-Magnus Enzensberger im Dokumentarfilm zur Gruppe 47 von Sebastian Haffner damit, dass sich in der Gruppe niemand befinde, der ein Hitler-Gedicht geschrieben habe. Dies war eine Anspielung auf Leute wie Gottfried Benn, Gerd Gaiser oder Ernst Jünger. Dass mindestens ein Waffen-SS-Angehöriger und ein NSDAP-Mitglied unter ihnen regelmäßige Gäste waren, wusste er damals noch nicht. Man bekämpfte intellektuell die als spießig verachtete Adenauer-Ära und sympathisierte mit der deutschen Sozialdemokratie (Grass, Richter) oder der APO der 68er (Enzensberger, Böll).
Der politisch engagierte Intellektuelle des 19. Jahrhunderts wurde revitalisiert. Noch heute gilt Émile Zola als das Vorbild hierzu. Zola warf 1898 mit seinem Offenen Brief »J’accuse« dem französischen Präsidenten vor, der Bevölkerung die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu verschweigen, die zahlreichen Justizirrtümer zu vertuschen und mit Dreyfus einen Unschuldigen zu internieren. Die Schriftsteller der Gruppe 47 engagierten sich in Zolas Tradition in den Massenmedien, verfassten Referenden, Resolutionen, Offene Briefe, setzten sich teilweise für oder in Parteien für politische Ziele ein. Am Ende überwölbten bei einigen Protagonisten die politischen Stellungnahmen zu allen möglichen Themen die schriftstellerischen Aktivitäten. Das Goethe’sche Verdikt schien zuzutreffen.1
Die Feuilletons waren spätestens seit den 1970er Jahren stark politisiert. Die Ansichten und Urteile von Schriftstellern zu politischen und sozialen Fragen bekamen Relevanz – je größer die Bekanntheit, desto höher der »Wert«. Häufig wurden Schriftsteller als Verstärker bestimmter Meinungsströme herangezogen; seltener als Provokateure. Im Laufe der Zeit nahm das Interesse an den zuweilen als moralinsauer wahrgenommenen Einwänden jedoch ab. Die 68er hatten den Marsch durch die Institutionen angetreten und waren angekommen. Die Mahner von außen waren obsolet geworden.
Der Dschihad des Feuilletons
Entsprachen die Einwürfe nicht dem gängigen Meinungsstrom und wurden gar die Medien ob einer gewissen Einseitigkeit angegriffen, wurde der vermeintlich begrüsste Einwurf scharf kritisiert. Um nur einige der Erregungen der letzten rund 20 Jahre zu nennen, die nicht nur die Feuilletons beben ließen: Botho Strauß’ »Anschwellender Bocksgesang«, Handkes Jugoslawien-Texte, Walsers Paulskirchenrede, Sloterdijks »Menschenpark«-Aufsatz, Martin Mosebachs Blasphemie-Verbot, Grass’ Israel-Gedicht und jetzt aktuell Sibylle Lewitscharoffs Dresden-Rede.
Jetzt sind Handkes Berichte über sein zerfallenes Arkadien anders zu diskutieren als Botho Strauß’ Versuch einer geopolitischen Analyse Anfang der 90er Jahre oder Lewitscharoffs Dummheiten. Jedes der aufgeführten Beispiele hat eine eigene Geschichte und müsste separat betrachtet werden. Sie sind auch nur sehr begrenzt miteinander vergleichbar. Aber sie sind kennzeichnend dafür, wie die Bereitschaft, sich mit auch noch so scheinbar abseitig erscheinenden Ansichten und Urteilen zu beschäftigen, funktioniert. Statt eine Art empathischer Exegese zu versuchen – die nichts mit Zustimmung zu tun hat bzw. haben muss – erfolgen sofort Verdammungsurteile. Mit wohl ausgesuchten Zitaten werden die inkriminierten Texte fast immer entkontextualisiert, um sie aufgrund einzelner »weicher« Stellen (Ungenauigkeiten, Polemik) zu skandalisieren und den gesamten Text diskreditieren zu können. Dabei wimmelt es häufig von wohl kalkulierten Missverständnissen, da der Original-Text zumeist nicht mehr herangezogen wird, sondern aus zweiter oder dritter Hand zitiert und hieraus dann geschlossen wird. Es genügt nicht, einen Text einfach nur einmal »töricht« zu nennen. Oder Unsinn. Es geht immer und sofort ums Ganze. Fast immer wird auch gleichzeitig der Dschihad des Feuilletons, der Kulturkampf, herbeigerufen. In einer zweiten Phase wird der Autor, die Autorin, ad hominem angegriffen, das Werk mit einem Federstrich gleich mit diffamiert und unter Generalverdacht gestellt.
Selten findet eine diskursive Aufarbeitung des Skandalons statt, wie zum Beispiel 1998 nach der Walser-Rede, in dem Walser mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, seine strittigen Äußerungen öffentlich diskutierte.2 Am Ende brauchen die Jakobiner übrigens keine Angst zu haben: Gegen sie wird nie ein adäquates Verfahren eröffnet. Wenn ihre Diffamierungsversuche ins Leere laufen, wenn sich ihr Furor als Flatulenz entlarvt, geschieht – nichts.3
Das Feuilletongericht tagt
Die Diskurse im Feuilletongericht werden apodiktisch geführt. Verteidiger gibt es zwar auch und man gesteht ihnen pflichtschuldigst einen Raum zu. Sie werden aber meist wütend verbissen. Hinzu kommt, dass ihnen ihre Verteidigungsreden gegebenenfalls noch in anderen Zusammenhängen vorgelegt werden können. X als Verteidiger von Y – da ist es besser, sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu schlagen oder zu schweigen.
Dabei ist natürlich auch festzustellen, dass es nicht zwingend so zugehen muss. Da gibt es beispielsweise Ingo Schulze, der brav kapitalismuskritische Phrasen rekapituliert und es dabei schon zu einigen Talkshow-Auftritten geschafft hat. Oder Juli Zeh, die sich zusammen mit Ilja Trojanow gegen Vorratsdatenspeicherung und NSA-Überwachung einsetzt. Dabei nehmen Zeh und Trojanow eine Meinung ein, die partei- und medienübergreifend Konsens ist und, nebenbei, auch nicht viel kostet. Sie rennen dabei gerne und publikumswirksam die vielzitierten offenen Türen ein. Auch dieses Vorgehen hat eine gewisse Tradition, wenn man an die zahlreichen Wortmeldungen von Böll, Grass und anderen denkt. Grass wurde nach dem Geständnis seiner Zugehörigkeit zu einer Waffen-SS-Einheit vorgeworfen, er habe sich jahrzehntelang als das moralische Gewissen der Bundesrepublik inszeniert, während er selber dieses dunkle Kapitel seiner Biographie verschwiegen habe. Daraus sprach nichts mehr der enttäuschte Liebhaber, der feststellen musste, dass sein Weltbild eben nicht so schwarz-weiss war, wie es immer schien. Statt die Fehler bei sich selber zu suchen, prügelte man auf den geständigen Grass ein, dem man damit indirekt noch Recht gab: Niemals wäre Grass in der Bundesrepublik derart wahrgenommen worden, wenn er seine Waffen-SS-Geschichte schon 1968 oder 1980 erzählt hätte.
Dies vergegenwärtigend kommt man zum Kern der Malaise: Es kommt nicht darauf, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Dies ist die oberste Maxime des Journalismus und insbesondere des Boulevardjournalismus, zu dem man das Feuilleton im weitesten Sinne subsumieren kann. Literaturkritiker sind beispielweise dann am hilflosesten, wenn sie Texte beurteilen sollen und keine ausreichenden biographischen Daten über den Autor haben. Sie brauchen diese Informationen, weil sich aus Gründen der Einfachheit längst die personalisierte Literaturkritik zu Ungunsten der ästhetischen Durchdringung von Texten durchgesetzt hat.
Bitte (m)ein Machtwort!
Es gibt ihn, diesen journalistischen Drang nach dem Machtwort, welches von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern zu sprechen sei und den gordischen Knoten lösen möge. Die Frage, die die ModeratorInnen in der 3sat-Sendung »Kulturzeit« am häufigsten stellen, lautet: Was sagen die Intellektuellen zum Thema X oder Y? Beziehungsweise, immer leicht vorwurfsvoll: Warum schweigen sie? Als sei die Entäußerung zwingend Pflicht. Journalisten, die in Wirklichkeit keine Instanz ausser sich selber gelten lassen, ersehnen plötzlich das Bekenntnis des Anderen. Dabei ist es allerdings ein Irrtum zu glauben, es ginge ihnen um den neuen Gedanken, die andere Sicht, die außergewöhnliche Verknüpfung. Gefragt ist einzig Affirmation. Der Andere, der Schriftsteller, soll das sagen, was man selber denkt. Die lausigen »my 2 cent«, wie im englischen die billigste Äußerung, die Meinung, genannt wird, soll durch das Statement des Schriftstellers, des Intellektuellen zum Golddollar aufgewertet werden. Es geht darum, dass ihre Meinung autorisiert wird. Sag uns, was wir denken, so lautet die Maxime. Sie predigen den fruchtigen, vollen Wein der Pluralität, wollen aber nur das Wasser der Konformität.
Der Intellektuelle soll keinen neuen Diskurs begründen, er soll die Gesinnung des Mainstream besiegeln. Wer dies tut, kann zuverlässig mit der Aufmerksamkeit des Betriebs rechnen. Manchmal drückt man dann auch beide Augen zu, wenn ein eher mediokres Werkchen aus der Druckerei tropft. Man kann das Win-Win-Situation nennen, wenn man böse ist.
Die Gefahr der Präpotenz
Die Schriftsteller sind allerdings alles andere als unschuldige Betroffene. Sie erliegen allzu oft ihrer Eitelkeit, die ihnen jahrelang subkutan in Form von Aufmerksamkeit und Komplimenten injiziert wurde. Sie fühlen sich geschmeichelt, wenn sie zu einem Thema etwas sagen sollen, blühen womöglich in ihrer Rolle auf. Sie trauen sich so irgendwann öffentliche Äußerungen zu Themen zu, die sie normalerweise nur im privaten Rahmen diskutieren würden. Man gibt ihnen das Gefühl: Deine Stimme zählt! Sag was!
Schreiben ist eine einsame Tätigkeit; die Josef Roths, die im Kaffeehaus Weltliteratur schreiben, sind selten. Kaum jemand bekommt die Texte der Schriftsteller vor der Fertigstellung zu sehen. Sie sind gewohnt, für sich zu arbeiten. Ihre Instanz sind sie, sonst niemand. Hier ähneln sie den Journalisten. Der Unterschied ist nur, dass Journalisten Herdenwesen sind.
Schreiben von Literatur ist kein demokratischer Akt. Ich schreibe; niemand »schreibt« mir etwas vor. Man ist zunächst auch noch sein eigener Lektor, korrigiert sich selber. Je nach Prominenz des Schriftstellers fungieren die Lektoren in den Verlagen ja zumeist nur als Gehilfen. Dies lässt den Schriftsteller in seiner Parallelwelt und mit der Zeit präpotent werden. Die Personalisierung von politischen (und auch literarischen) Diskursen (s. o.) tut sein Übriges.
Die Erwartung an das auratische Wort des Schriftstellers ist schließlich auch beim Publikum präsent. Die Komplexität der Welt giert nach Erklärungen, nach Vorbildern. In einer Zeit, in der Schauspieler und Sportler einzig aufgrund ihres Status als Prominenter politische Expertise zugesprochen bekommen, ist dies natürlich kein Wunder. Der Intellektuelle dient dabei noch als Distinktionsfigur: Meine Meinung ist die des Schriftstellers X, der Schriftstellerin Y; ihr Fernsehgucker hoffiert die Anderen. Wehe, die Distinktion muss dann dem Entsetzen weichen. Enttäuschung macht sich breit. Dabei wird vergessen, dass man sich immer nur selber enttäuscht. Wieder eine/r weniger. Nicht nur die Luft wird dünner, auch die Bibliothek.
Die kathartische Wirkung der Empörung
Soziale Netzwerke verstärken das Empören, weil es noch einfacher geworden ist. Man darf das nicht unterschätzen. Wenn es gegen den/die Richtige/n geht, spricht auch kein Arschloch mehr von einem Shitstorm. Fuchsjagden gelten in England ja auch als Sport. In der Empörung über die vermeintliche oder tatsächliche Entgleisung des Intellektuellen liegt immer eine kathartische Wirkung. Man reinigt sich gleich zweifach: Zunächst im Selbst-Bekenntnis zu den Richtigen zu gehören. Und dann in der Dämonisierung des Unartigen. Wie schon gesagt: Ein törichtes Kopfschütteln genügt nicht. Es gilt, den Applaus der Tribüne zu erhalten.
Peter Sloterdijk4 sieht in den fortlaufenden Erregungen, die in den Medien erzeugt werden, eine Art Lagerfeuerfunktion für die ansonsten disparate Gesellschaft. Mit Skandalisierungen wird kurzzeitig etwas zusammengeführt, was ansonsten auseinanderstrebt. Mit der Erregung über die Kälte des vermeintlich fehlgeleiteten Wortes wärmt sich die Gruppe der Gleichgesinnten ihr Wohnzimmer. Erregungswärme beim Mütchen-Kühlen. Für den Nachschub an Heizmaterial plündert man notfalls die Papierkörbe.
Die »Kappe der Borniertheit«, die Goethe dem politisch engagierten Dichter aufsetzte, findet sich am Ende auf dem Kopf so manches Feuilletonisten wieder, der die deutsche Sehnsucht nach dem Sauberen, dem Reinen bedienen möchte. Intellektuelle und Politiker dürfen keine »schwarzen Seite« haben. Der Mann, der in dem Sketch von Loriot am Ende mit einer toten Maus als neuem »Haustier« aus dem Laden geht, nachdem er voller Verzückung das ruhige, ausdrücklich »keinen Schmutz« machende »Tier« als »goldig« bezeichnet hat, ist symptomatisch für diese morbide Sehnsucht und nur ein klein wenig übertrieben. Man braucht sich dann kaum noch zu wundern, warum die Literatur dieser derart dressierten Gesinnungsäffchen so kraftlos und ohne Intensität ist. Dabei ist die Forderung nach einer Repolitisierung der deutschsprachigen Literatur ein perifides Manöver, was ins Bild passt. Literatur liesse sich damit noch einfacher anhand der politischen Aussagen rubrizieren. So kann der Gesinnungsdoktor gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Oder, um im Duktus des Sketches zu bleiben, zwei goldige Tierchen mit nach Hause nehmen. Zum Preis von einem.
Grass suggerierte im Briefwechsel mit Brandt gelegentlich mit einem gewissen Triumph, dass das Diktum bei ihm nicht gelte – er engagiere sich für die SPD und schreibe neue Bücher. ↩
Walser konnte unter Mithilfe von Frank Schirrmacher die Stigmatisierung als Antisemit noch abwenden. 2009 war es dann ebendieser Schirrmacher, der den Vorabdruck von Walsers Roman "Tod eines Kritikers" in der FAZ mit großem Aplomb ablehnte. Walser hatte dort einen Kritiker, der eindeutige Züge von Marcel Reich-Ranicki trug, karikiert und sterben lassen. Schirrmacher bezichtigte Walser nun indirekt des Antisemitismus, wobei er und die anderen Ankläger listig verschwiegen, dass sich am Ende des Romans herausstellt, dass der fiktive Kritiker gar nicht gestorben war und sein Verschwinden nur inszeniert hatte. - Wie absurd die Blüten treiben können zeigt sich an einem Radiogespräch mit Walser anlässlich seines 85. Geburtstags. Die Moderatorin fragte Walser, ob er Antisemit sei. ↩
Georg Diez, einer der grässlichsten Biedermänner im deutschen Feuilleton, beschmiss Christian Kracht folgenlos mit Dreck. Die älteren erinnern sich womöglich noch an Harald Wiesers großaufgezogene Kampagne gegen Walter Kempowski Anfang der 1990er Jahre, als dieser als Plagiator blossgestellt werden sollte. Die Liste liesse sich beliebig verlängern, nicht zuletzt anhand der genannten Beispiele. ↩
über den neulich von den Muftis des "Freitag" eine Art von Fatwa ausgesprochen wurde ↩
Sehr gute Darstellung der Skandalisierungsblasen. In diesem aktuellen Fall hat die Episode allerdings einen untypischen Verlauf. Auslöser war eine »Offene Antwort« eines Dramaturgen, der sich offenbar verpflichtet fühlte, namens des höflich entgeisterten Publkiums die Rede von Sybille Lewitscharoff nicht so im Raum stehen zu lassen, als würde man ihr zustimmen.
Das war aber noch »Debatte«. Danach blies das Netz die Backen auf – die an sich bedeutungslose Sache bekam dadurch erst das Volumen, dass die »Leitmedien« sich auch äußern mussten. »We didn’t start the fire« wäre hier vielleicht außsnahmsweise wahr, allerdings kam es mir dann vor, als würden sich einge Schreiber in einer Art Wettbewerb um die stärkste Hyperbel befinden. Gewonnen hat dann wohl das Begriffsfeld »Klerikal-Faschistin«, die mit ihrer Rede ganz fürchterliche Dinge lostreten würde, vor denen uns ausgerechnet die Literaturkritik warnen muss.
Sie schreiben so schön: »Literaturkritiker sind beispielweise dann am hilflosesten, wenn sie Texte beurteilen sollen ...« – Texte im Gegensatz zu Stories – sehr wahr, ich würde das gar nicht weiter einschränken. Und hier sind sie hilflos, wenn Sie die Bedeutung eines solchen Großrednertums erkennen sollen – die Bedeutung dürfte nämlich mit und ohne aufgepumpter Aufregung bei nahezu Null liegen und ist keiner besonderen Invektive wird.
Da ist ja nichts, woran man sich länger erinnern müsste, kein neuer Gedanke, keine bemerkenswerte Formulierung, die eine neue Perspektive aufreißt.
Ich habe auch etwas getweetet, weil mir a) die Verbindung von naiv-katholischer Frömmigkeit mit Abscheu vor Kindern auffiel und damit auch, dass der Schriftstellerin so etwas selbst nicht bemerkt, und weil ich b) mich wunderte, dass der Dramaturg, der das Feuer entfachte, nicht wusste, wen er da einlädt. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Rede im Wortlaut zu lesen, so weit ich konnte, und habe nach ein paar Seiten abgebrochen, einfach weil mir dieser verbale Murks buchstäblich physisches Unbehagen bereitet. Wenn es wenigstens einfach vom Herzen her geschrieben wäre! Wenn mich der Text irgendetwas spüren lassen würde, wovon Lewitscharoff behauptet, dass sie es spüren würde! Doch L. kann es nicht. Sie schreibt regelrecht dilettantisch. Sie bringt die Stilebenen oft in einem Satz durcheinander, greift statt dem treffenden Wort einfach nach dem Falschesten oder Dümmsten, das sie finden kann, pudelt die Sätze mit überflüssigen Adverbien auf, füllt ständig quälenden Dämmstoff ein, »reichlich, ja überreichlich«, und wenn man dann schaut, was gedanklich unter dem Geholper verborgen liegt, dann sind das nur die trivialen Seufzer, ob das denn alles gut und richtig sei mit der Apparatemedizin. Das ist als Frage ein Gemeinplatz und schon lange ein Thema für die Literatur. David Wagner hat übrigens anhand seiner selbst dazu ein großes Buch geschrieben, da ging es um Rettung vor dem Tod. Man kann oder muss sogar, wenn man schon was sagt zu dem Thema »menschenwürdiges Sterben«, auch an Herrndorf denken.
Vor solchen (und es gibt ja noch viel mehr) literarischen Bezugsgrößen kann ich nur zum Befund kommen, dass es bei Lewitscharoff nur einen literarischen Skandal zu diskutieren gäbe, der allerdings wenig mit der Rede zu tun hat, aber auch viel mit dem Umfeld in den Feuilletons, das Sie ansprechen, und dem ich genau dies auch attestieren würde, nämlich dass Jurys und Kritiker meistensteils geschmacklich höchst unsicher sind und nicht wissen, wie sie etwas finden sollen, es sei denn jemand gibt ihnen schon die Richtung vor, und zwar möglichst simpel. Mal beziehen die inoffiziellen Buchwarenpromoter ihre Voreinstellung direkt von den Verlagen, mal aus dem Tratsch, mal aus dem Netz. So sind sie. Und so geht das dann mit dem Büchnerpreis ...
@Fritz Iversen
Ja, Lewitscharoffs »Fall« ist tatsächlich unüblich. Und auch wieder nicht: Die Rede ist ja tatsächlich ellenlang; die inkriminierten Stellen finden sich ziemlich am Ende. Die gelegentlich gestellte Frage, warum es keinen Protest aus dem Publikum gegeben habe, ist vermutlich einfach zu beantworten: Die Leute haben schlichtweg nicht mehr zugehört, bzw., genauer: abgeschaltet. Ich kenne das selber von mir: Wenn mich etwas überhaupt nicht interessiert, vergesse ich quasi sofort das Gehörte, habe keine Erinnerung mehr daran.
Erinnert wurde ich auch an Walsers Paulskirchenrede, die ich durch Zufall damals live im Fernsehen sah. Auch dort rührte sich am Ende nur Applaus, keine auch nur ansatzweise sicht- bzw. hörbare Empörung wie dann später, obwohl Walser schneller »zur Sache« kam.
Nun sind Dämmstoffe und Aufplusterungen in einer Rede ja durchaus Mittel der Rhetorik. Lewitscharoffs Literatur schätze ich schon, wenn sie auch gelegentlich eine Volte zuviel schlägt. Ich vermute einfach, dass ihr der Büchnerpreis ein bisschen zu Kopf gestiegen ist. Sie glaubte wie weiland Siegfried in Drachenblut gebadet und schier unverwundbar zu sein. Shit happens.
Aber gute Beobachtung Fritz Iversens, dass das eigentlich zuerst mal ein literarischer Skandal ist: Ausgerechnet der für ihre artifizielle Kunst gelobten Sybille passiert ein derart sprachlicher Murks (der sich dann prompt auch noch als denkerischer entpuppt). Mal vu – mal dit.
Ansonsten teile ich die Einschätzungen hier. Ich hatte es auch spontan etwas niedriger zu hängen versucht, à la, dass die Gefeierte sich wohl durch ihre zahlreichen Preise zu einer verirrten General-Kompentenz verführt sah. Sascha Lobo hatte das wegen S. L.s (sic) Wortwahl und Anklang an »Lebensborn« – allein das eine wirkliche Komplettverirrung – aber gleich für »faschistisch« gehalten, und solche Totschlagewörter halte ich dann ihrerseits lieber für eher argumentative »Endlösungen« denn als hilfreiche Qualifizierungen.
Ich frage mich, ob solche Diskurse auch anderswo – und nach ähnlichen Mechaniken – immer in den gleichen Fußangeln und Untiefen hängen bleiben? (Also in Frankreich etwa an Dreyfus, Kollaboration und Algerien.)
Ansonsten meine ich aber auch ein Unbehagen mittlerweile in der hier agierenden »Öffentlichkeit« selbst zu sehen: Zu viele schrille, aber die Aufmerksamkeit nicht werte Stimmen. Eine Art gesellschaftlicher ADHS wirkt da. Und die Ahnung, wie es – ein Neid auf die Ukrainer, die um ungleich Wesentlicheres zu kämpfen haben? – eigentlich um einen nie so genau festzumachen Ersatz von Debatte geht. Jedenfalls weiß man selbst, wie allzu bald entgleisend solche Dispute sind. Und dann sind auch immer die falschen in der Position – aber die ja wohl auch eben deswegen: Diez et. al. – alles entsprechend zuzuspitzen. Es muss das auch ein Dienst am Leser sein.
Interessant finde ich: Sie sprechen den Schriftstellern das Recht zu, sich frei zu äußern, den Feuilletons sprechen Sie dieses Recht aber ab bzw. kritisieren es als »Mütchen kühlen«. Feuilletons haben »ohne Konsequenz« Schriftsteller in den Schmutz gezogen. Was ist denn Martin Walser oder Günter Grass schlimmes passiert? Werden sie nicht auch in Zukunft gut vom Bücherschreiben leben können? Mir scheint, sie messen mit zweierlei Maß.
Pingback: Sonntagsleser: Blog-Presseschau 09.03.2014 (KW10) | buecherrezension
@tbl Der Unterschied zwischen der freien Rede von wem auch immer zu einem Thema und dem Bericht darüber in der Presse ist meist der, dass die Presse die Aufmerksamkeit erben will und deshalb die dafür beste Grundtonart nutzt, die Personalisierung und Moralisierung. Im »Skandal« wird deshalb schnell nur noch über die Person debattiert, nicht das Thema. (Passiert allerdings besonders schnell, wenn am Thema nicht viel dran ist.) Und dann haben wir dieses fürchterliche Setup, bei dem man, egal wie man zu der Person ansonsten steht, eine Wolfsmeute den Einzelnen umstellt. Diese Gefahr geht übrigens in besonderem Maß von den Netz-Diskutanten aus – da bellen dann auf einemal Leute dazwischen, die weder Person noch Text kennen.
Übrigens scheint sich die Presse auch um Fairness bemüht zu haben: Die FAZ hat kritisert, aber auch Raum zur Gegenwehr eingeräumt. Auch das Fernsehen hat die Angegriffene zu Wort kommen lassen. Um so erstaunlicher: Der Verlag hat sich distanziert geäußert im Ton eines Ministeriums (»wie sich unsere Beamten in ihrer Freizeit zu allgemeinen Themen des Lebens äußern tun ... machen wir uns icht zu eigen«). Ging natürlich nicht anders, es dürften sich etliche Kolleginnen und Kollegen »angepisst« gefühlt haben.
Was einige »Antigutmenschen«, also rechte Kreise, die von gar nichts mehr eine Ahnung haben, außer dass da gerade eine öffentliche Moraldebatte läuft, dann auch vorlaut werden lässt, ist der Umstand, der auch mir unangenehm aufstößt: nämlich eine Debatte, deren Ziel Sprachverbote zu sein scheint. Ich bin absolut dafür, dass Lewitscharoff von »Halbwesen« und ihrem Abscheu davor sprechen darf und sogar soll, wenn sie das so meint und so sagen möchte. Und meinetwegen ihre kruden Assoziationen zur in vitro Fortpflanzung und pränatalen Medizin auch noch ausspricht. Ich halte das nicht für eine Gefahr für irgendetwas. Das ist alles von einer so ländlichen Schlichtheit und Unterinformiertheit, dass man da nur den Kopf schüttelt und dann sinkt der Unsinn in den Boden und wird vergessen. Was man von ihr als Büchner-&etc.-Preisträgerin verlangen muss: dass sie mit ihrer Sprache sorgfältig umgeht. Das ist ihr Job. Und das tut sie nicht. Der Text ihrer Rede ist ein einziges literarisches Unglück. Selbst die persönlichen Geschichten, die eben deswegen ja noch berühren können, liegen sprachlich auf Amateur-Niveau: »Mein Vater erhängte sich in seiner Praxis und ließ bei dieser entsetzlichen Art des Todes auch noch zu, dass meine Mutter ihn so finden musste. Er war ein angesehener Arzt, besaß einen großen Freundeskreis und verdiente in den sechziger Jahren sehr gut. Wahrlich, kein Mauerblümchen.« Da müssten gut und gerne 14, 15 Worte weg, damit man den Text jemandem von der schreibenden Zunft zurechnen würde. Mit dieser entsetzlichen Art des Schreibens vors Publikum zu treten, das erfordert allerdings Mut. Aber wahrscheinlich sind die Zuhörer, wie Gregor Keuschnig ganz einleuchtend vermutet, einfach schnell eingeschlafen.
@Herr Jedermann
Ich habe nur rudimentäre Kenntnisse von solchen Diskursen in Frankreich und bekomme immer nur das mit, was BHL und Glucksmann so sagen. Genauer kenne ich es nur, was Handke/Jugoslawien angeht, und das war ja ziemlich erschreckend. Nicht, dass man Handke kritisiert hat, sondern wie man bspw. sein Stück vom Spielplan der Comédie Française absetzte – ein Stück, dass mit der Jugoslawien-Problematik rein gar nichts zu tun hat, Jahre vorher entstanden war, usw. Die Céline-Diskussion 2011 muss heftig gewesen sein – Ergebnis: er wird ins Beschweigen verdammt. Und BHL meldet sich zu allen Themen zu Wort, so etwa neulich, als er den Sportlern der Olympischen Spiele zurief, dass an ihren Medaillen Blut klebe – wegen des Ukraine-Konflikts. Einige Tage später gewann die ukainische Biathlon-Staffel der Frauen die Goldmedaille. Die sahen das anders.
Dieses journalistische bzw. gesellschaftliche ADHS (sehr schöne Formulierung) ist natürlich systemimmanent: Die Seiten der Zeitung und, noch schlimmer, die Kolumnen, müssen gefüllt werden. Ein Herr Lobo mag über seine Themen über Kompetenz verfügen, aber ewig die gleiche Kolumne – das mag er nicht. Hier lassen sich – um noch einmal eine Sportformulierung zu gebrauchen – wichtige Auswärtspunkte sammeln.
Das Unbehagen in der Publizistik ist allerdings da, siehe Poschardt. Dazu muss man aber sagen, das vorher Kämmerlings in der Welt draufgehauen hatte.
@Fritz Iversen
Lewitscharoff hatte den Freitod ihres Vaters ja schon in Apostoloff geschildert – übrigens sehr zurückhaltend und über ihren Vater sehr warm sprechend. Vielleicht ist es wirklich so, dass sie Zaum braucht, sprich: einen Lektor, eine Lektorin, die ihre Wortschaumkronen glättet. Das ist bei der Rede wohl unterblieben.
Das Verhalten des Verlages finde ich sehr schwach. Man hätte auch schweigen können, was man aber aus Angst vor Überidentifikation nicht gemacht hat.
PS @Herr Jedermann: Es muss das auch ein Dienst am Leser sein.
Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Das meine ich im weitesten Sinn mit »kathartischer Wirkung«. Diese gilt nicht nur für den Journalisten/Feuilletonisten, sondern auch für den Leser. In Blogs, sozialen Netzwerke und Onlineforen wird dies nun sozusagen potenziert: Die Empörung wird nicht nur ausgedrückt, sondern auch weiter formuliert. Hierbei entsteht dieses von Fritz Iversen beschriebene »fürchterliche Setup« erst. Der Dienst am Leser besteht darin, dass man die Richtung vorgegeben hat, in der nun die Meute den Fuchs jagt. Das erinnert gelegentlich an Westernfilme, in denen einer auf einen vermeintlichen Pferdedieb zeigt. Erst in diesem Zeigen wird die Menge aufgestachelt.
Dieses Spiel ist altbekannt und wird seit Jahrzehnten praktiziert. Durch die Onlinemedien entsteht allerdings eine neue Dynamik. Ich glaube wirklich, dass es ein »Markt« ist, sich über alles mögliche zu empören. Es schafft neue Zugehörigkeiten, stiftet Gemeinschaften. Diejenigen, die sich dabei um Kopf und Kragen schreiben (Matussek war kürzlich so ein Fall) sind nichts weiter als Kollateralschäden.
@ Iversen @ Jedermann @ Keuschnig
Das sehe ich ganz anders. Ihr habt alle die unziemliche Personalisierung verurteilt, beeilt euch aber im selben Atemzug, Lewitscharoff als mittelmäßige Schriftstellerin einzuordnen. Geht’s noch arroganter?!
Ihre »Leistungen« und der damit verbundene Büchnerpreis sind Schnee von gestern. Der Skandal berührt nicht die Qualität ihrer Literatur. Ja, ich muss annehmen, dass ihr doch ein bisschen mit der Runter-Mache einverstanden seid, weil es die »Richtige« getroffen hat. So was von hyperkritizistisch: »Von einem Literaturpreisträger erwartet man bei einer Rede...«.
Ich kann daraus nur folgern: ihr seid alle der Meinung, es gab keinen Skandal. –Ich sage ich: Doch!, es gab ihn. Er wurde ein weiteres Mal in den bekannten Redaktionen angezettelt, weil der Skandal an sich (Hegel) mittlerweile völlig deren Verfügungsgewalt unterliegt. Er vertieft ein weiteres Mal bis zur endgültigen Feindschaft den Abstand zwischen journalistischer und literarischer Öffentlichkeit.
Kaum der Rede wert?!
@die_kalte_Sophie Moment, Gregor K. findet die Bücher von S. Lewitscharoff eigentlich ganz gut. Ich halte sie für etwas anderes. Und der Skandal wurde diesmal nicht von den Redaktionen angezettelt, sondern lediglich verstärkt, teils reflektiert und nüchterner betrachtet als von der berühmt-berüchtigten »Netz-Öffentlichkeit«. Die Redaktionen sind da nur Nachläufer der öffentlichen Meinung.
»Er vertieft ein weiteres Mal bis zur endgültigen Feindschaft den Abstand zwischen journalistischer und literarischer Öffentlichkeit.« Das ist ein interessanter Gedanke. Wobei ich den Abstand gar nicht so sehr zwischen journalistischer und literarischer Öffentlichkeit sehe, sondern zwischen ... Literatur und Medienkonsumenten. »»They live on another side where beauty goes unrecognized ...«
Da würden wir jetzt aber wieder tief in eine Feuilleton-Diskussion geraten. Die Zeitungen sind doch meistenteils ganz zahm und nett. Das Urteilsvermögen ist bei vielen gering. Wer bei Lewitscharoff immer wieder den abgelatschten Topos von der »Sprachmacht« kolportiert, hat sich in meinen Augen gleich doppelt disqualifiziert. Regelrecht illiterate Schreiber finden sich manchmal bei TAZ und Spiegel (aber auch so etwas gehört dazu, das gab es immer). Die Spannung zwischen den Autoren und wo sie gedanklich stehen auf der einen Seite, den Zeitungsschreibern und der Gesellschaft auf der anderen Seite gab es ja immer. Holthusen und Company in den 50er und immer so weiter.
Mir reicht es, mir vorzustellen, was andere aus dem Thema gemacht hätten. Wie hätten z.B. Jelinik darüber geschrieben? Oder Monika Maron? Das reicht mir, um den Text zum Weinen zu finden.
Ein Nebenaspekt des »Skandals« ist, wie schnell Lewitscharoff zu einer Entschuldigung gedrängt wurde, nachdem Rede und Replik von den sogenannten Qualitätsmedien aufgegriffen wurde. Man schaue sich den Ausschnitt aus dem Morgenmagazin an (läßt sich leider nicht direkt verlinken, es ist aber problemlos in der ZDF Mediathek aufzufinden), in dem Lewitschariff förmlich von dem Interviewer zu einer Entschuldigung gedrängt wurde, und der sich sich selbst danach noch nicht richtig zufrieden gab, so hatte es den Anschein. Ein beschämendes Spektakel.
@ Iversen
Hast Du denn eine Topologie des Skandals?! Schon, was der Dramaturg gemacht hat, erinnert doch an DUNKELSTE Zeiten! Lies mal ein bisschen bei Heiner Müller nach, Skandal um »Die Umsiedlerin«.
Die öffentliche Meinung der »Arbeit« in den Redaktionen voranzustellen, ‑das ist doch konstruiert. Seit wann besteht die öffentliche Meinung denn (kausal) unabhängig von den Medien?!
Ansonsten: d’accord.
Hier geht jetzt aber Etliches durcheinander.
Was der Sprecherin vorzuwerfen ist, dass sie ihre Rolle selber nicht begriffen hat. Als Literatin sehe ich sie kaum angezweifelt.
Ich denke sogar, dass die meisten Foren-Hysteriker sie gar nicht lesen – Bücher, Büchnerpreisträgerin – das ist wie eine Medaille in einer irrelevanten Sportart, also einer, die keine Sponsoren hat.)
(Ich selber finde manche Bücher Lewitscharoffs eher lesenswert, auch wenn ich die Begeisterung über „Blumenberg“ nicht teilen konnte, und die Zustimmung dafür sie, S. L., vielleicht sogar ein bisschen brav gemacht hat, finde ich.)
Dann: Die Öffentlichkeit hat selber erst mal gar keine Meinung. Sie ist bestenfalls ihr Erregungs- und Resonanzraum und schaut der Meinungsbildung mittels prononcierterer und dafür abgeordneter Stimmen zu. Die Redaktionen bedienen hier Bedürfnisse (Information, Unterhaltung, Skandale … und emotionale Farben), aber nicht mal Mehrheiten oder überwiegende Tenöre zeigen die Haltung dieser ominösen Öffentlichkeit selbst auf. Die ist, wenn nicht indifferent, sogar ohnmächtig – ähnlich wie gegenüber Politikern, die viel zu unscharf als Repräsentanten von irgendwas gelten.
Die Entschuldigung aber ist tatsächlich perfider Teil eines öffentlichen Spiels, das mit Hygiene (oder Katharsis) und Einpegelung hin zu einem dann wieder beruhigenden Mittelmaß zu tun hat.
Wenn man nachliest, hat S. L. im Text bereits selber von „Übertreibungen“ gesprochen, die ihr also bewusst waren, und die müssten ihr eigentlich als eingeladene Sprecherin für sich selbst auch zugestanden werden. Und per se muss sie als Künstlerin auch Abweichendes formulieren und vertreten dürfen. Dass gleich ein Standgericht über sie urteilt, hätte sie auch im Falle kompletten Irrens nicht verdient: Ihre Abweichung müsste so oder so bei einer genügend durchlässigen Öffentlichkeit auch durchgehen, und es dürfte NICHT Rolle der „Medien“ sein hier kriecherisch abzuwiegeln oder gar zu vermitteln. Diese Ambition, eines Magazinmoderators als mindest ebenso Unberufener hier Akteur zu werden ist viel verwerflicher als eine Verirrung einer Künstlerin.
Aber so ist es anscheinend nun mal organisiert. Ich halte das für falsch. (Und das Thema selbst, die Aussagen dazu, sind dann noch mal was ganz anderes.)
@ Herr.Jedermann
Ich wusste nicht, dass sie der Moderator sind.
Verzeihung.
Mit »durcheinander« meinen sie sicherlich: all diese Aussagen können unmöglich von ein und demselben Subjekt herrühren, es sei denn, es wäre ein Idiot?!
Da haben sie völlig recht, sogar zweimal, und das ist auch gut so.
Dass sie für uns den Begriff der Öffentlichkeit noch einmal erläutern (es wurde schon häufig getan), ist sehr freundlich. Es führt ein ganz klein bisschen von der Sache weg, kann aber bestimmt nicht schaden.
Ich hätte da übrigens einen Einwand: die personenartigen Attribute, mit denen sie Ordnung in das »Durcheinander« bringen wollten,
sind,
die Öffentlichkeit betreffend,
wie soll ich mich ausdrücken,
völliger Quatsch...
@die_kalte_Sophie
Bitte um etwas Abkühlung. Primär ging es um Ihren Vorwurf, hier würde eine »unziemliche Personalisierung« betrieben und Sie unterstellten den Kommentatoren Arroganz. Das ist – mit Verlaub – Unsinn. Gerade ich plädiere für eine größtmögliche Trennung von persönlichen Schriftstellerallüren und dem eigentlichen Werk. Dabei gibt es Grenzen, und zwar dort, wo Werk und Aussage nicht mehr zu trennen sind, weil sie ineinander übergehen bzw. aufeinander Bezug nehmen. Das ist bei jemandem wie Céline zum Beispiel der Fall; in Grenzen auch bei Pound. Dabei braucht man nicht die Goldwaage herauszuholen um eindeutige Stellen zu finden. Bei Lewitscharoff erkenne ich da noch rein gar nichts, was das Werk inkriminieren könnte. Das hat aber auch niemand gesagt, denn Fritz Iversen mochte das Werl schon vorher nicht (wenn ich ihn richtig verstehe), was selbstverständlich gestattet ist.
In der Causa Lewitscharoff war es ja der Intendant, der mit seinem Offenen Brief die Sache ins Rollen gebracht gebracht hat. Er hat aber weit mehr getan, als sich nur »distanziert«. Er hat sofort den Dschihad ausgerufen und Lewitscharoff in eine Reihe mit Sarrazin und Matussek gestellt. So wesensfremd einem dies erscheinen mag: Auch DAS »darf« er. Hierfür braucht er keinen Redakteur zu fragen.
Das Perfide war, dass damit Lewitscharoff zum Abschuss freigegeben wurde. Ich glaube man nennt so etwas »Briefing«. Jetzt darf man auch DAS: Einige Stellen herausbrechen und ihren Inhalt bewerten. Diese Stellen waren/sind meines Erachtens dümmlich. Nicht mehr und nicht weniger. Hätte sie die Schilderungen in eine Erzählung gepackt oder wäre darüber ein Film gedreht worden – niemand hätte daran Anstoss genommen. Aber sie hat die Vorgänge auch noch moralisch bewertet. Und diese Bewertungen sind der Grund für die Empörung.
Diese freilich geht weit über den eigentlichen Fall hinaus. Und wenn man nun in sozialen Netzwerken die übliche Stammtischfrage hört und liest »Wie konnte so jemand den Büchnerpreis bekommen?« dann ist es exakt das, was ich den Feuilletons dann vorwerfe: Sie erzeugen mit ihrer Draufschlaglust exakt diesen Gestus. Dabei konnten die Preisvergeber vor anderthalb Jahren ja gar nicht wissen, welche Rede von Lewitscharoff im März 2014 halten würde.
So, jetzt möchte mal in ganzen Sätzen und ohne Deklamation wissen, was mit »Öffentlichkeit« denn nun so gemeint sein soll? Ist das ein Verschwörungsdenken? Ich frage aus Interesse.
@ Gregor et alt.
Ja, ich habe übertrieben, aber nur um der Sache willen.
Ich sehe die mediale Öffentlichkeit als ausreichend legitimiert, aber systemisch und moralisch als beschädigt an. Ich weiß, damit setze ich mich in die Nesseln, aber ich sollte ja unverstellt antworten.
In Deutschland ist es unüblich eine wertenden Unterschied zwischen »moralisch« und »legitimiert« zu machen, auch das weiß ich. Lieber redet man schlecht von der Moral.
Ich sehe es aber genau so: wir leben in verrückten Zeiten, und da ist, »was o.k.« ist, nicht unbedingt erlaubt. Ich finde: die Moral muss höher stehen als das Recht. Ich denke nicht daran, den Intendanten zu belangen, aber für mich hat er sich »als Persöhnlichkeit«, d.h. als moralisches Subjekt einer gewissen Kategorie zu erkennen gegeben.
Habe ich übertriebene Maßstäbe?!
Oder sind nun doch alle Menschen »vor dem Gesetz« gleich, d.h vergleichbar moralisch kompetent?!
Ich kann’s nicht mehr hören, Nietzsche steh’ mir bei!
Damit wird vielleicht meine gereizte Indolenz den »berüchtigten Redaktionen« gegenüber klar. Ich habe da kein Theorie-Problem, die Namen stehen auch hier für das Erwartbare. Der Begriff »Öffentlichkeit« indes ist und bleibt abstrakt, es ist ein kultur-immanenter Allgemeinbegriff wie »Volk«, »Recht«, »Land«, etc. Diese bedürfen keiner Erklärung, sie sind durch den Gebrauch »näher zu bestimmen«, bzw. diskursiv zu erörtern. Das geht, wie Herr.Jedermann richtig sagt, bis zum »Durcheinander«, wenn mehr als einer damit hantiert.
[Wer Allgemeinbegriffe fälscht, oder gebrauchte bzw. nachgemachte Allgemeinbegriffe in Umlauf bringt, wird mit utilitaristischer Linguistik nicht unter 2 Semestern bestraft!]
@ kalte_Sophie
Moral höher als das Recht? Da frage ich sofort: Wessen Moral denn, von wem wie bestimmt oder auch nur moderiert? Moral ist oft genug unvernünftig, da braucht es eher Verbindlicheres. Menschen sollen ja eben deswegen vor einer verlässlicheren Instanz – dem Recht – gleich sein, weil sie es in ihren moralischen Belangen oft eher nicht sind. Sonst würden wir ja wirklich alle noch zu Nietzschelinge, die die Fallenden gern auch noch stoßen.
(Nach DER Logik fordere ich – zum Beispiel – als gebürtiger Russe den sofortigen Anschluss der Krim an Russland, egal nach welchem Recht. Ich bin ECHT gespannt auf den Hoeneß-Prozess!)
Aber hier geht es ja doch um ein Problem der Medien, nämlich das handelnder Personen unter der real existierenden Praxis von „Öffentlichkeit“ und der Ingangsetzung ihrer Dynamiken.
(Öffentlichkeit, die als Selektion und Zuschreibung, so oder so, eine abstrakte Instanz mit konkreten Auswirkungen auf die darin Handelnden ist und je und je entsprechend erlebt wird. Ein shitstorm , der von BILD ausgeht ist ein anderer als der auf einer Facebook-Seite: Der erstere erlegt sogar Bundespräsidenten! Wenn Medien aber zu „Agenten“ von Interessen werden bzw. wir gerade erleben, wie sich das mit der Teilnahme von immer mehr Sprechern vermischt, wird auch die Öffentlichkeit zu einer anderen. Überhaupt ist ein Abgleich von Definitionen oft hilfreich.)
In diesem Sinne gehe ich weiter auf das „kultur-immanente Allgemeine“ erst mal nicht ein.
Das Allgemeine müsste nach meinem Verständnis bedeuten, dass darin sämtliche abweichenden Meinungen und Irrtümer erst einmal auch vorkommen dürfen und nicht, wie immer öfter, die genug geballte Mitleidslosigkeit auf sich müssen. Und das bedeutete, eher darüber zu berichten sollende Mittler / Medien müssten da auch duldsamer sein.
@ Herr.Jedermann
Das ist sehr lustig, was Sie schreiben. Sie sollten standup-Philosoph werden.
Richtig: die Moral ist oft unvernünftig, weil... die Vernunft schon ein rechtskonformes Denken ist. Sollten Sie bislang gelaubt haben, die Vernunft erschaffe/formuliere erst das Recht, dann haben Sie nicht besonders aufmerksam »studiert«.
Wessen Moral?!
Sie haben mich verstanden, die Rhetorik ist ganz fehl am Platz.
Ich sagte das schon über den Intendanten, nicht wahr?!
Für die vielen Realitätspartikel, die Sie mir außerdem zudachten (das @Sophie wird arg strapaziert), bin ich Ihnen sehr verbunden. Das wusste ich bereits.
Aber mir scheint, Sie dachten, ich wüsste es nicht.
Ein Problem 3. Grades.
Also, von vorne:
Ich (ich!) bin der Meinung, dass die journalistische Öffentlichkeit die Literatur nur noch beschädigen kann, weil sie selbst defizitär ist. Retten wir nun die Schönheit, oder sind Sie nur zum Diskutieren hier?!
»... dass die journalistische Öffentlichkeit die Literatur nur noch beschädigen kann, weil sie selbst defizitär ist« scheint mir den Punkt ganz gut zu treffen. Vielleicht zu pauschal, aber der Trend scheint mir plausibel. Wenn sich Zeitungen oder TV mit Literatur befassen, dann haben sie oft dabei andere Interessen als literarische – das gilt für Kunst vermutlich genauso.
»Die Öffentlichkeit hat selber erst mal gar keine Meinung« scheint mir auch plausibel. Das muss man sich mal vorstellen, dass Lewitscharoff da auf einmal vom »Morgenmagazin« angefragt wird, wo 2 Millionen Werkätige, Hausfrauen, Rentner und ein paar Schulkinder gucken, was es so wichtiges gibt in der Welt, und maximal 1 oder 2% von denen kennen die Autorin überhaupt. Die Leute sind ja ganz irritiert, weil sie Autoren sonst nur als Buchcover-Hochalter in Talkshows kennen. Der Moderator hat auch nur kurz einen Zetel hingelegt gekriegt.
Das ist ja wirklich ein beängstigendes Spektakel.
@die_kalte_Sophie
Noch einmal bitte ich um Mässigung, was Zuordnungen wie »standup-Philosoph« angeht. Ich hatte Ihren Kommentar nicht verstanden. Erst den Satz »Ich (ich!) bin der Meinung, dass die journalistische Öffentlichkeit die Literatur nur noch beschädigen kann, weil sie selbst defizitär ist« begreife ich. Den Nachsatz hätten Sie sich dann wieder sparen können; Elefant-im-Porzellanladen-Effekt.
»Journalistische Öffentlichkeit« ist ein interessanter Begriff. Auch für mich, der kein beschissenes Semester an irgendeiner Universität studieren musste. Er ist interessant, weil er auch eine Art »journalistische Nichtöffentlichkeit« suggeriert. Das, was man im allgemeinen als »Unter uns« bezeichnet. Ich glaube nämlich, dass eine solche Unterscheidung wichtig ist. Weil sie erklären könnte, warum solche medialen Erregungen sich derart hochschaukeln. Es geht dabei längst nicht mehr um die Sache selber (hier: Reproduktionsmedizin), sondern um ein Schauspiel, welches Gutmenschenpunkte einbringt. Dahingehend ist auch zu interpretieren, warum Frau Schalansky jetzt noch nachlegt. Es ist wie bei U‑Bahn-Schlägern: Wenn ihr Opfer auf dem Boden liegt, treten sie einfach weiter auf ihm ein.
Dennoch kann ich die von Ihnen zugedachte Kausalität nicht erkennen. Es ist mir einfach zu pauschal. Würde es stimmen, dann wäre jede Äußerung des Feuilletons über Literatur per se eine Art Sakrileg an der Literatur selber; eine Beschmutzung. Und was bedeutet »defizitär«? Der Sache nicht gewachsen?
Ich schlage in meinem Text ja einen neuen Oberbegriff für das, was gemeinhin Feuilleton heisst, vor: Boulevard. Es ist Kultur-Boulevardjournalismus. Es gibt nur fast eine Ausnahme, das ist das Feuilleton der NZZ. Alles andere ist Boulevard. Und wie glatt dieses Boulevard-Parkett ist, kann man in diesen überdimensionalen Popanz-Aufregungen ablesen.
@herr.jedermann
Moral höher als das Recht? Da frage ich sofort: Wessen Moral denn, von wem wie bestimmt oder auch nur moderiert? Moral ist oft genug unvernünftig, da braucht es eher Verbindlicheres.
Wessen Moral ist doch in all diesen Skandalisierungen eindeutig: Die Moral derer, die über sie schreiben. DAS ist das Wesen der sogenannten 4. Gewalt, der Niggemeier neulich nicht nur die Meinung zugestand, sondern auch – hübsch verbrämt – den Kampagnenjournalismus hoffähig machte. Wehe, man stellt deren »Moral« infrage – es droht sofort die Abstrafung.
Vielleicht greife ich jetzt sehr weit aus, aber ich schreibs mal: Es erinnert mich zuweilen an die Aufforderung in der chinesischen Kulturrevolution, Kritik zu üben – am System, an den Funktionären, usw. Wurde die Kritik dann geübt und passte nicht in die aktuelle Ideologie hinein, fand man sich flugs selber auf der Anklagebank wieder.
@ Gregor
Danke, allmählich wird eine runde Sache draus, trotz Elephantiasis und weiterer schlechter Angewohnheiten.
Der Boulevard-Journalismus ist seinem Gegenstand nicht gewachsen. Ich sehe gleich mehrere Gebiete, die Literatur ist nicht die einzige Leidtragende. Wir konnten die »fröhliche Ignoranz« schon ein paar Jahre verfolgen, jetzt ist auch die hyperkritizistische Kampagne als Wiederholungstat erkennbar. Das läuft!
Der Vergleich mit der Kulturrevolution ist sehr treffend. Die polit-psychologische Situation für den ambitionierten Autor ist exakt dieselbe. Seine künstlerische Anerkennung hängt an seiner spätbürgerlichen Reputation. Genau deshalb habe ich Euch »arrogant« genannt. Jetzt tut es mir leid. Die Einordnung von Lewitscharoff war schon richtig, schien mir aber das Problem zu verdunkeln.
Die Unabhängigkeit des Lesers, des Kunst-Teilnehmers in der Literatur, die Gregor so deutlich herausgearbeitet hat, wird doch auf Stärkste konterkariert. ‑Alles, bloß das nicht, »kommuniziert« das Feuilleton, während es noch das Gegenteil behauptet!
Das ist das Thema, das ich leider verfehlt habe. Aber ich meine jetzt das Ausgrenzungs-Axiom dahinter zu entdecken Bisschen Verschwörungstheorie muss sein! Ist es nicht so, dass man in den mediokren Kreisen »seine Autoren gern als erniedrigte Außenseiter« genießt?! Ist diese Mache nicht die Vorbereitung eines Schächtelchens, eine Meinung über Literatur & Autor insgesamt?! Ist die Spaltung, die immer öfter herbeigeführt wird (ich z.Bsp. habe daran nicht das geringste Interesse!), nicht ein »schizophrener Wunsch«?!
Alles Rhetorik, ich meine: so ist es doch, oder?!
Die „Moral“ war von mir nicht eingebracht und meine Bemerkung nur ein Rekurs auf (die offenbar statt kalt lieber etwas überhitzt laufende) Sophie. Ich gehe darauf nicht weiter ein.
Aber „Boulevard“ (und die entsprechende Unmoral der weil verstärkt nach einer anderen Logik denn Informationsbedürfnissen operierenden Medien) als der all die besprochenen Effekte sammelnde Generalbegriff trifft es vielleicht ganz gut. Die Öffentlichkeit selber ist in dem Sinne Boulevard. So wie Einkaufen in einer Überflusssituation statt auf Bedarfsdeckung auf die Erweckung von Gefühlen und „Erlebnissen“ zielen muss, und das Fernsehen seine diversen emotionalen Farben im „audience flow“ organisiert, sieht sich auch die Kultur im Wettbewerb und schaut aus nach human touch. Und Empörung ist ein viel stärkerer Thrill als Information oder Kunst-Distinktion.
Der Unterscheid ist dann für den nach anderem Ausschauenden vielleicht nur noch der Grad an Ernsthaftigkeit (etwa: Meese, der erwartbare Clown, und Lewitscharoff, die sich in ihrem „schwäbischen Pietismus“ über Medizintechnik empört.)
Ich fürchte das mit den Skandalisierungen wird auch noch zunehmen. Man sieht ja, wie so eine Type wie Biller damit reüssiert. (Im Herbst kommt sein Buch, sagte Dennis Scheck. Klappern gehört auch zum unseligsten Handwerk.)
Im Übrigen wird die „journalistische Öffentlichkeit“ auch für die Literatur gebraucht, sonst würde man viele Dinge eben überhaupt nicht erfahren und könnte sie noch weniger diskutieren. Es gehören diese Dinge zum Gesamtbild, auch wenn sie nicht die entscheidenden sind. (Und entscheiden, was relevant ist, will ich immer noch selbst.)
Feuilleton ist doch quasi von Geburt an Boulevard. Man könnte sogar sagen, von hier aus hat sich das, was Boulevard-Journalismus genannt wird, entwickelt. Deswegen scheint es mir unangemessen, dem heutigen Feuilleton seinen Boulevard-Charakter vorzuwerfen. Es kann doch nur darum gehen, zu beurteilen, ob es sich um guten oder schlechten Boulevard handelt.
Was ich auch nicht so recht verstehe, ist die Aufregung, die hier über den Umgang mit Frau Lewitscharoff herrscht: Was wäre denn die »richtige« Reaktion darauf gewesen? Warum sollte jemand, der selbst ein nicht ganz unwichtiges Mitglied des Literatur-Boulevards ist (sonst wäre sie nicht zur Rede eingeladen worden) und sich im inkriminiertem Teil ihrer Rede auch noch klassischer Troll-Rhetorik bedient (Nazi-Hinweis, Schmähwörter gegenüber Vertretern eines anderen Lebensstils oder anderer Moral, Kokettieren mit der eigenen Nicht-Konformität und Absolutsetzung des eigenen »Gefühls« – als hätte sowas für ethische Diskussionen Relevanz), nicht im selben Stil beim Wort genommen werden? So von Krawallschachtel zu Krawallschachtel?
Es hat ihr auch niemand das Wort verboten oder sie gar incommunicado genommen: In der FAZ und im Fernsehen – da würde mich mal das Zustandekommen des Auftritts interessieren – bekam sie eine Plattform, von der die meisten anderen Autoren mit abstrusen Meinungen nur träumen können. Und dass die Ablehnung ihrer Äußerungen recht allgemein war, könnte vlt. auch daran liegen, dass es auf dem stilistischen und argumentativen Niveau, auf dem sich Lewitscharoff bewegt, keine sinnvolle inhaltliche Verteidigung möglich ist. Man kann nur ihr prinzipielles Recht auf das Reden von Stuss verteidigen. Der Diskussion um Reproduktionsmedizin und ihre zwielichtigen Seiten hat sie dazu noch einen Bärendienst erwiesen. Danke schön! Ich fange mich langsam an zu fragen, warum Kritik am Comme – il-faut liberaler Eliten sich im Moment meist nur als reaktionärer Dumm-Tüch mit zwanghaftem Nazi-Bezug zu artikulieren können scheint. Da gibt man sich an Verblödung ja offensichtlich nix.
@Herr.Jedermann
Jetzt glaubt ja Frau Petrowskaja schon Biller des Rassismus zeihen zu müssen, weil dieser sich für Migranten in der Literatur ausgesprochen hat. Wir sehen – die Dichter benutzen schon selber die Worthülsen, denen sie eigentlich entkommen müssten. Sie hat natürlich auch ihr Buch am Start – wovon ein Ausriss den Bachmannpreis bekam. Ich mag das schon nicht mehr lesen. (Übrigens sehr schön, wie Raddatz in den neu erschienenen Tagebüchern über Biller schreibt.)
@Doktor D
Das das Feuilleton dem Boulevard entstammt, wusste ich nicht. Ich werfe das Boulevardeske auch nicht vor, ich stelle es nur (für mich) fest. Zumal mir da die Diskrepanz zwischen Anspruch (Weihevolles, dem Guten und Schönen) und Wirklichkeit (Skandalisierung) doch ein wenig zu gross erscheint. Bis auf, wie gesagt, vielleicht die NZZ.
Ich kritisiere auch nicht, dass man ihr entgegnet ist, sondern allenfalls wie und dachte, das erklärt zu haben: Es muss gleich eine Parallele zu Matussek und Sarrazin gezogen werden – das ist grundschief außer man subsumiert es pauschal unter »abseitige Meinungen«. Inzwischen wurde sogar ihre Physiognomie Gegenstand der Diskussion; man darf das wohl, wenns der Gesinnung schmeichelt. Dass sie der Diskussion um die Reporuktionsmedizin einen Bärendienst erwiesen hat – d’accord. Das hat ja übrigens Sarrazin mit seiner Jeremiade auch gemacht.
@An ALLE Leser und Kommentatoren
Wäre dieser Artikel besser nicht erschienen? Bediene ich damit indirekt, ungewollt auch diesen Mechanismus?
(Mich beschäftigt der Irrglauben, Schriftsteller hätten Ahnung von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Problemen, schon sehr lange. Zwischenzeitlich wollte ich dazu sogar ein Buch schreiben, um das Gegenteil zu beweisen und die Sehnsucht nach diesen Stimmen als halbseiden und lächerlich darzustellen.)
»Die Öffentlichkeit hat selber erst mal gar keine Meinung« (#17, #18)
Die Öffentlichkeit besteht aus konkreten Personen, von denen eine einzelne nie alles überblickt, sondern auf Grund von Bildung, Interessen und Beruf über Schwerpunkte, Kenntnisse und Beurteilungen verfügt. Die Aufgabe für den an öffentlichen Äußerungen (also politisch) Interessierten, besteht darin, sich im Bedarfsfall ein Bild zu machen und Bewertungen vorzunehmen (Relevanz). Dazu braucht es Vermittlung, Informationen und Wissen, über die keiner von uns im ausreichenden Maß hinsichtlich der meisten Problematiken und Fragen im Vornherein verfügt. — Die Öffentlichkeit ist, um wieder zu abstrahieren, durch diesen Mangel geradezu gekennzeichnet und vor die Aufgabe gestellt ihn stets aufs Neue zu beheben, eine Art Sisyphos Arbeit. — Eine Wirtschaftskrise (und damit verbundene Abwicklungen von Unternehmen) verlangt Wissen aus anderen Bereichen, als eine literarische Diskussion.
@Doktor D
Der Umgang beinhaltet auch die Fragen, ob man den alles zum Skandal machen muss (und damit manchen Texten oder Äußerungen über Gebühr Achtung verschafft, siehe etwa Grass’ Israel-Gedichte) und was daraus weiter folgt: Oft bleibt es nicht bei der Kritik einer Äußerung, eine Person und ihr Werk werden – ohne Beachtung irgendwelcher Verhältnisse – »zum Abschuss« frei gegeben. Es stellt sich die Frage nach Verhältnismäßigkeit, nach Mechanismen unserer medialen Welt, und danach wie mit z.B. Entgleisungen umzugehen ist: Sind sie als eine Art Freibrief anzusehen? Und falls ja, warum?
@Doktor D: Diese angebliche klare Verbindung von Feuilletonismus und Boulevard erschließt sich mir (weder historisch noch inhaltlich).
Ihr Argument Frau Lewitscharoff habe es gewissermaßen als Mitglied dieses Literatur-Boulevards (gerne auch: Betrieb, Klüngel, etc.) nicht anders verdient, halte ich für perfide. Genauso könnte man jede noch so abstruse Lügen- oder Drecksgeschichte oder das öffentliches Niedermachen eines Prominetnen durch die Schmierenpresse abtun, weil er ja sein Sternchendasein gerade ebenjenen bunten Blättchen verdanke. Die Art und Weise wie Frau Lewitscharoff da angegangen wird und in der sich Journalisten im Morgenmagazin oder bei der FAZ als Groß-Inquisitor aufführen, stößt mir auf. Der Reporter des Morgenmagazins hat zum einen diese Plasberg-Lanz »Ich-frage-jetzt-ganz-hart-nach-und-nagele-fest-und-bohre-bis-nicht-mehr-geht«-Art und zum anderen eine Haltung als spreche er im Namen der 5 Millionen Beleidigten, lastet ihr noch den Medienhype an (‘jaja, provokante Sätze vorschicken und dann wieder zurucknehmen’) und nimmt ihr dann live vor den »Millionen Zuschauern« die Beichte ab.. und die FAZ knallt ihr dann Fragen an den Latz wie : »Ihre Aussagen sind religiös motiviert. Wer will, kann sich ja an die Gebote des Alten Testaments halten. Warum reicht Ihnen das nicht?« – Ein Spaß ist das nicht in diesem Medienzirkus herumgetreten zu werden, glaube ich. Fast könnte man sogar einen Sarrazin verstehen?
Der Querschuss(#7) der kalten_sophie oben, ging vielleicht etwas daneben, ist schon verraucht und aufgeklärt, aber ihr Kommentar erinnert mich an den Doppelgoldstandard des Bloggens. Man nimmt gleich beides mit: die Abgeurteilte, watscht man ebenfalls ab, und erhebt sich aber gleichzeitig über die Journaille, (weil man ja selbst nun viel unabhängiger denke und genauer argumentiere als die ollen Besitzstandwahrer etc.pp.)
@ Gregor und das Problem der Teilnahme an Debatten
Ich meine, die Ernsthaftigkeit der Kommentare gibt eine durchwegs positive Antwort. Ich habe an dieser Stelle nur intelligente Menschen gelesen, die nicht an der »Einbahn-Meinung« interessiert sind.
Regelmäßig schaue ich die Kommentarbereiche der »Zeitungs-Portale« durch (NZZ mal außen vor), oft lese ich flüchtig den Artikel und sorgfältig die Kommentare. Da herrscht ein anderes Bild. Furchterregend dumm geht es z.B. in der WELT zu. Auch TAZ, FAZ und ZEIT spiegeln sich gewissermaßen in ihren Kommentatoren.
Die »Debatte« ist zum Teil den Kommentaren entzogen, aber ich meine, alles fügt sich doch zu einem schlüssigen Gesamtbild. Das Zurückschrecken vor dem Geschehen kenne ich gut.
Der Hinweis auf den »ehemaligen Gebrauch des Feuilletons zur feingeistigen Motivation« ist ebenfalls treffend. Die Rubrik hat immer noch denselben Namen, seit Mitte der Neunziger schreibt aber eine neue Generation Zeitungsgeschichte. Die Namen sind bekannt, die Methoden dieselben. Die Abkehr von den Gegenständen, der Primat des Diskurses und die süßen fiesen Möglichkeiten des Missbrauchs sind kennzeichnend.
Den Artikel nicht veröffentlichen?! Eben deshalb!!
Das Buch über die »wahren Kompetenzen der großen Künstler« wäre auch sehr wichtig!
@Doc Phorkyas:
Einfach mal die Geschichte des Feuilletons und der Kunst-/Literaturkritik im 19. Jahrhundert anschauen: Balzac ist da ein guter Einstieg. Für mich sehr instruktiv waren v.a. die medienhistorischen Aufarbeitungen der div. Kunstskandale in Paris, mit denen das, was wir heute moderne Kunst und klassische Moderne nennen, etabliert wurde / sich etabliert hat. Da kann es einem schon so erscheinen, dass mit der modernen Kritik sofort der Star-/Boulevard-Konnex erscheint. Einen guten Einstieg in diese Fatalität, die an unserer Art ästhetische Objekte / Leistungen zu produzieren und zu rezipieren fast wie Pech und Schwefel hängt, gibt Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität (Suhrkamp). Der Klassiker für den Impressionismus ist T. J. Clark, The Painting of Modern Life: Paris in the Art of Manet and his Followers, Neuausgabe 1999 (Das ist auch ein Meilenstein der Kunstgeschichtsschreibung und Impressionismus-Forschung).
Zur Perfidie meiner Anmerkung »Wie man in den Wald hineinruft ...«: Ich halte an der Maxime fest »Handlungen haben Konsequenzen. Und einige davon kann man sogar selbst absehen.« Außerdem bestehe ich auf den Unterschied zwischen Literatur-Boulevard und Klüngel / Szene: Frau Lewitscharoff haut in ihren Reden, nicht nur in dieser, gerne auf die Grobschlachttastatur und persönliche Invektiven (bisher meist gegen Tote) gehen ihr da flott von der Hand, da sollte man sich von ihrem extensiven Gebrauch der Hypotaxe nicht blenden lassen. Das ist klassischer Boulevardstil und unterscheidet sich für mich nicht prinzipiell von den Dietzens und Fleischhauers dieser Welt, das muss man als Literaturklüngelist nicht. Deswegen scheint mir das Geschrei und Geheul, das über Sloterdijk und seinen Menschenpark ausbrach, ein sehr gutes Beispiel für den von Gregor Keuschnig beschriebenen Mechanismus des Feuilleton-Boulevards, Lewitscharoff eher nicht. Dass Sie meine Einordnung von Lewitscharoff als Krawallschachtel perfide finde, damit muss ich dann eben leben.
@Gergor Keuschnig:
Die Frage, soll man, und wenn ja wie, über diese Aufregungswellen schreiben, treibt mich auch um. Mittlerweile neige ich dazu zu sagen: eher nicht. Man manövriert sich viel zu schnell selbst auf eine dieser eindimensionalen Positionen, weil man mit Begriffen und Referenzen arbeiten muss, die viel zu einfach in der Hitze des Gefechts misszuverstehen sind. Etwas anderes wäre es, vielleicht so eine Art Kartographie des Skandals zu erstellen, aus der man die Vernetzungen und Diskussionslinien dann ablesen kann, jenseits von eigenen politischen/argumentativen/ethischen Vorlieben – quasi aktuelle Analyse des diskursiven Feldes.
Eine verwandte Frage ist für mich: Warum lädt man überhaupt Schriftstellerinnen als Fest- und Besinnungsredner zu gesellschaftlich relevanten Themen ein, für die sie auch nicht mehr fachliche Voraussetzungen haben als zahlreiche andere Menschen? Außer Distinktionsgewinn und Aufwertung / Erhaltung des eigenen kulturellen Kapitals bei gleichzeitiger maximaler gesellschaftlicher Impotenz fällt mir da nicht so viel ein. Auf Zola können sich meines Erachtens weder die Einlader noch die Schriftstellerinne berufen: Der hat in der Dreyfuß-Affäre ja was riskiert und v. a. nicht einfach einen Text rausgehauen, sondern sich auch politisch aktiv engagiert. Ein wichtiger Punkt war, dass eine bekannte öffentliche Person ihr Prestige einer Sache verleiht, die in der Öffentlichkeit eine schweren Stand oder bisher gar keinen Stand hatte – und eher weniger, dass Zola qua Schriftstellertum privilegierten Zugang zu irgendwelchen Wahrheiten der Gesellschaft hat.
Wir sollten die Einlader in Dresden mal fragen, warum sie zum Thema »Leben und Tod in der modernen industriellen Medizin« Frau Lewitscharoff eingeladen haben und nicht Giovanni Maio, Hille Haker, Oliver Tolmein oder eine Praktikerin aus der Hospizbewegung, einen Transplantationsarzt – oder David Wagner. Dann kämen wir vlt. auch mal aus diesem »Holier than thou«-Zirkus raus.
Ist ja vielleicht eine alte, ungute Konditionierung von mir, Bücherpreis und Boulevard als gesondert zu denken. Aber dass Feuilleton und Boulevard per se in eins fallen, untergräbt doch arg die üblichen Ansichten. (Was wäre dann z.B. GALA?) Das würde sämtliche Debatten bisher als Scheingefechte höherer Unterhaltungsbedürfnisse abkanzeln. Und die Mechanismen, obwohl es sie gibt, sind in beiden Bereichen auch andere.
Trotzdem (@ Doctor D): Es stimmt natürlich, dass Lewitscharoff selbst schuld ist. Sie müsste eigentlich als intelligente Person besser wissen. Aber vielleicht sind längst eben auch unsere delegierten / stellvertretenden Geistesheroen von diesem Palaver-Virus infiziert.
Tatsächlich, so noch ein Gedanke (Biller etc.), aber hat auch die Forderung nach der endlich wieder „aufregenden“ Literatur (als Ersatz anscheinend für Relevanz und „bedeutend“, wie der selige MRR sie noch qualifizierte) eine gewisse strukturelle Verwandtschaft mit der Lust an Skandalisierung und Empörung im Feuilleton. (Die wiederum zu tun haben mag mit dem etwa am Ekel in Dschungel-Shows.)
Es geht wieder um Dienste. (Ich werde immer wach, wenn jemand sagt, die Literatur muss gar nichts – aber Menschen haben IMMER Erwartungen, und die dauerhaft zu enttäuschen bekommt keiner Kunst gut). Also das stimmt so auch nicht.
Aber geht es da heute wirklich nur um graduelle Unterschiede? Kunst und Geschäft, Politik und Ohnmacht, Geistiges in der Zeitung, dass die gleichen niederen Instinkte bedient? Es stimmt wohl, dass wir offenbar stärkere Reize brauchen. Die Dichte heutigen Medienkonsums und die Erwartungen daran stehen wohl in einem gegenseitigen Aufschaukelungsverhältnis (und dann bei immer mehr Akteuren ja auch, die gehört werden wollen!). Und hinterher, wenn alle Recht gehabt oder bekommen haben, sind wir wieder näher an Gemeinschaft und Konsens.
Ich verweise noch mal auf Rene Girard und seine Sündenbock-Theorie: Das Opfer (der heruntergeholte Medienstar, der selber SS-verstrickte Mahner, der verzockte Spender von Millionen für den angeblich guten Zweck…) stiftet zumindest immer noch die Gemeinschaft, dass diese umso selbstgewisser zu sich finden kann.
Zur Debatte: Ich denke um eine wirkliches Ergebnis geht es meist eigentlich nicht (außer dass womöglich das eine oder andere Argument zu denken gibt). Wer zöge denn die Schlüsse? Wenn es mal jemand macht, habe ich das Ergebnis meist ganz anders gesehen. Und da in der Tendenz die meisten eher da lesen, wo sie wissen, dass eher ihre Grundhaltung bestätigt anstatt verunsichert wird … tauscht sich da auch eher weniger aus.
(Ich ertappe mich, dass ich mehr und mehr lieber die ihrerseits dissidenten Stimmen lese: Mehr Distinktionsgewinn und mehr „Katharsis“.)
Außerdem ertappe ich mich, dass ich das Ganze an Öffentlichkeit mehr und mehr als riesiges Unterhaltungsprogramm sehe. Und die Wirklichkeit toppt es noch jeden Tag – viele atemberaubenden Wendungen könnte man sich meist nicht mal ausdenken! UND das Programm ist einfach besser als tausendfach abgenudelte und schmierige RTL-Plots. Und auch weniger unterkomplex.
Jedenfalls distanziere ich mich hiermit einmal ausdrücklich von Suhrkamp (und -„Kultur“).
Wir sollten noch ein paar Unterscheidungen vornehmen: a) Richtig ist, dass sich jemand durch unflätige Äußerungen selbst diskreditiert, vor allem wenn es jemand ist, der das besser kann (oder können sollte), ein Literat oder Schriftsteller, etwa. b) Wichtig ist, wer angegriffen wurde und wie derjenige antwortet (oder ob er das überhaupt tut). Wird jemand unsachlich angegriffen, ist nachvollziehbar, dass derjenige ebenso reagiert. Für Dritte gilt das nicht in derselben Wiese (hier kann man eine sachliche oder auch [gekonnt!] polemische Antwort erwarten, man befindet sich ja nicht im Kindergarten). Ein unsachlicher Angriff ist per se aber keine Rechtfertigung für einen solchen (auch wenn dieser menschlich verständlich bleibt) — das Prinzip Vergeltung würde so nur gerechtfertigt und der Ausweg erschwert.
Warum werden Schriftsteller zu einer Rede gebeten? Vermutlich weil man annimmt, dass sie reden können, dass sie etwas zu sagen haben (oder sagen sollten; sie sind Personen von öffentlichem Interesse). Und nicht zuletzt zieht man mit einem berühmten Namen Aufmerksamkeit auf sich, auf seine Veranstaltung (manchmal nimmt man Provokationen bewusst in Kauf). Und bei Preisverleihungen ist es üblich.
Bleibt noch die Frage, warum es zu solchen Verirrungen kommt: Das ist vielleicht keine Spezialität von Schriftstellern, eher von Personen, die über die Möglichkeit und Fähigkeit sich öffentlich zu äußern, verfügen (vor und während des ersten Weltkriegs hat eine ganze Reihe von auch heute noch angesehenen Personen Äußerungen getätigt, über die wir nur noch den Kopf schütteln). Hinzu kommt, dass Qualifikationen und Begabungen auf einem Gebiet kein Garant für vernünftige, durchdachte und ausgewogene Äußerungen auf anderen (zumal: nicht verwandten) sind. — Man müsste wissen, ob hier eine Besonderheit, Schriftsteller betreffend, vorliegt.
@herr.jedermann:
Ich würde nochmal Literatur/Kunstkritik und Feuilleton trennen: Das Kritik lange Zeit (auch) ihren Platz im Feuilleton hatte, verdeckt m. E. den grundsätzlich affirmativ-unterhaltendem, eben boulevardesken Charakter des Feuilleton. Möglicherweise ist der ökonomische Druck auf die Medien heute so groß, dass sie nun glauben, wirklich keinen Platz mehr für echte Kritik zu haben – und lieber auf Krawallerei setzen. Aber dann lese ich die Schlammschlachten rund um die Salons zwischen 1850 und 1880 und denke mir, dass es da z. T. deutlich härter zur Sache geht als heute. Gleichzeitig sind viele dieser Schlammschlacht-Beiträge auch gute Kritiken: Da werden die eigenen Qualitätskriterien dargelegt und ganz oft haben die Autoren eine sehr gute Sprache, um ihre ästhetischen Beobachtungen und Empfindungen zu schildern.
Aber wenn ich das hier so schreibe, kommt mir die Idee: Vielleicht ist das der Unterschied – da wird sich höchst intensiv und bisweilen mit beherztem Griff in die unterste Schublade um einen Gegenstand / Idee geprügelt, mit einem Auge auf die Auflage, in unserem Skandal-Feuilleton regiert aber meist das ad hominem und über die Kunstwerke lernt man nix oder maximal das Plastikvokabular, das gerade en vogue ist. Weswegen viele Texte zu Lewitscharoffs Rede, selbst einige der sehr persönlichen Stellungnahmen, auch so nach automatischem Schreiben aussehen.
@Doktor D
Ja, da arbeiten bei mir wohl Prägungen. Ich erinnere mich, dass ich tatsächlich in der Schule Feuilleton zu lesen angefangen habe (ZEIT und FAZ), weil ein bestimmter Lehrer es mir empfahl. Und außerdem haben manchmal Literaten, die mich interessierten selber da geschrieben. Natürlich habe ich vieles nicht kapiert, aber ich erinnere mich, dass ich es manchmal spannend fand.
Und tatsächlich: Anscheinend urteilt man viel zu sehr von seinen eigenen Zeiten her. Und die wirklichen, die ästhetischen Auseinandersetzungen, müssen mal viel aufregender gewesen sein. Und die Feindschaften. Ich kenne Tagebücher von Leuten aus der Nouvelle Revue Francais – die hätten sich damals oft gerne noch duelliert! Und die Dadaisten und Surrealisten waren auch nicht zimperlich in ihren Abgrenzungen. Sind die Angriffe „ad hominem“ also womöglich ausdrücklicher Ersatz dafür, wenn die Themen schon wenig Zündstoff bieten?
(Fast jeder, den ich kenne, will von der alte Nazi-Chose nix mehr hören, aber in der so genannten „Kulturzeit“ – wirklich ja ein Boulevard-Magazin – wird es jeden Abend serviert: Es bleibt DIE zentrale Referenz. Soll man also sagen, der Holocaust ist die Königin Beatrix – oder wie heißt die in Moncao? – der geistig etwas höheren Blättchen-Kultur?)
Ein guter Punkt bei solchen Auseinandersetzungen wäre, dass man derart die Positionen und Lagerzugehörigkeiten der Leute lernt.
Aber dann fällt mir gleich Poschardt ein – immerhin mal DER Bösewicht (nicht nur rechts, sondern sogar Fürsprecher der FDP!).
Und wie oft bin ich heute mit ihm d’accord!
Also mehr Feindschaften pflegen, dass es da um das Eigentliche geht: Das Eingemachte?
Vielen Dank für die Kommentare.
Ich lese ja gerade mit grosser Begeisterung die Raddatz-Tagebücher von 2002–1012 (die vorherigen hatte ich auch schon gelesen, auch »Unruhestifter«, die Autobiographie). Wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise zeigt sich hier das Problem des »Betriebs« ähnlich. Immer wieder nennt Raddatz den Betrieb »verkommen«, sich wohl bewusst, ihm auch anzugehören, mitzumachen. Was ihn besonders stört ist diese Oberflächlichkeit, die sich nach außen als weihevoll gibt, in Wirklichkeit jedoch eben voller Intrigen, Missgunst, ja Hass. Einmal trifft er m. E. den Kern der Sache, als er auf einem der zahlreichen Feste von sich als einem »Schauspieler« erzählt, was ja bedeutet, dass da Rollen intoniert und gespielt werden. Nur: für wen? Für das Publikum? Das bekommt das ja zumeist nicht mit – außer in solchen »Skandalen« eben, in denen jeder seine Fleißkärtchen sammeln kann um noch höher auf die anderen herab zu blicken. Und man sollte sich auch nichts vormachen: Diese scheinbare Betriebsverkommenheit ist nicht exklusiv auf die Kunst- und Kulturszene beschränkt, sie dürfte sich in der Wirtschaft genau so abspielen wie im Kaninchenzüchterverein. DAS ist vielleicht das Erschütternde daran? Oder auch nicht.
Feuilleton und Boulevard? Wer kennt denn die wunderbaren »Feuilletons« von Josef Roth? Oder, von mir aus und ganz anders, Karl Kraus? Wo ist das heute hin? Wenn Schriftsteller im Feuilleton was schreiben, dann irgendeinen Bekenntnismist. Keine ästhetische Herausforderung mehr; nichts. Herr.Jedermann sprach schon diese lächerlich, debile »Kulturzeit«-Sendung an, in der in jeder Folge, wirklich jeder Folge mit der Moderatorin
T. S.T. M. (ansonsten in jeder zweiten Folge) von irgendwas mit Nationalsozialismus vorkommt; dagegen ist Guido Knopps Hitler-Obsession (seine Sendungen über den Ersten Weltkrieg beginnen mit Hitler, enden mit Hitler und zeigen immer wieder Hitler zwischendurch) fast zu vernachlässigen. Hier geht es nur um – ja, um was?Doktor D’s Frage (»Warum lädt man überhaupt Schriftstellerinnen als Fest- und Besinnungsredner zu gesellschaftlich relevanten Themen ein, für die sie auch nicht mehr fachliche Voraussetzungen haben als zahlreiche andere Menschen?«) ist die entscheidende Frage. Ich stelle sie mir sehr oft. Und es hat damit zu tun, dass es im Journalismus, oder, wenn man will, in der Öffentlichkeit, immer wichtiger geworden ist, WER etwas dazu sagt, d. h. welcher Name die Figur im medialen Zirkus erworben hat. Das zeigt sich ja in den diversen Talkshows, wenn Schauspieler oder Sportler qua ihres Namens zu Themen befragt werden, von denen sie mehr als eine Meinung gar nicht haben (können). Schriftsteller und/oder Künstler laufen da erstaunlich arglos in die Präpotenzfalle, in der sie hineingelockt wurden. Es ist auch kein Phänomen, dass ausschließlich Kulturschaffende befällt, die genanten Schauspieler oder Sportler eben auch, nur sind sie erstaunlicherweise mit den medialen Fallstricken besser vertraut als ein Schriftsteller, der aus seiner Schreibgruft ans Helle getaumelt ist. Sie haben nämlich Berater, Agenten, usw. und wissen genau, was sie sagen können oder nicht.
Wichtig ist nur noch, dass man sich zu bestimmten Situationen »bekennt«, »Flagge zeigt«, statt einfach nur in Ruhe nachzudenken und sich zu bilden. In die Richtung gehen ja auch die in sozialen Netzwerken weit verbreiteten Petitionsaufrufe. Stolz schreibt man dann »Gerade unterschrieben« drunter. Ich stelle mir diese Personen dann vor, wie sie sich einen Rotwein einschenken und sich wie die Retter der Welt vorkommen bzw. ihr (warum eigentlich?) schlechtes Gewissen beruhigen; ein moderner Ablass, der so unfassbar billig ist wie diese armseligen Kreaturen, die da Tag für Tag irgendeinen Mist »unterschreiben«. Praschls »Ohne mich« ist ja durchaus pfiffig, wenn ich nicht auch schon hier wieder den Verdacht eines Meta-Empörungstextes hätte.
Der Gedanke, dass die Feuilleton-Aufregungen sozusagen den Ersatz für die zumeist eher »langweilige« (was für mich per se kein Schimpfwort ist, aber scheinbar für fast alle Anderen) Literatur sein soll, ist sehr interessant. Das würde erklären, warum sie eben auch fast immer mit einem bald erscheinenden neuen Werk verknüpft sind bzw. verknüpft scheinen. Wenn das die PR von Verlagen sein soll – na, dann...
Natürlich besteht auch noch ein Unterschied zwischen Lewitscharoff und Sloterdijks Menschenpark-Rede. Ein Philosoph muss unter Umständen solche Pointierungen vornehmen – und dann entsprechend mit der Kritik wenn nicht leben so doch zurechtkommen. Sloterdijk schrieb sozusagen in seinem Metier; Lewitscharoff redete über Sachen, von denen sie eine Meinung hat, aber auch nicht mehr. Genauso gut hätte die Rede auch zu den Gefahren des Schweinefleischkonsums oder über die Lage im Südsudan gehalten werden können.
@Herr.Jedermann
Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ungeduldig ich auf die großen Buch-Beilagen zur Frankfurter Buchmesse und zum Winter- / Weihnachtsprogramm in der FAZ, der ZEIT und de FR gegiert habe – so bis in die 1990er. Dann lies das immer stärker nach. Bestimmt auch, weil ich in meinem Studium von einigen anderen Literaturliebhabern umgeben war, die viel mehr Erfahrung hatten als ich und mir das Feuilleton ersetzten, und weil mit Internet eine neue Quelle zur Information auftauchte. Aber ich habe auch den Eindruck, das in den Feuilletons doch immer stärkerer Konformitätsdruck herrscht: Alle schreiben im Tenor gleich über dieselben. Neue Autoren und Literatur kennenlernen wird da schwer. Da ist ja die »Kunden, die dieses Buch gekauft haben, interessieren sich auch für X«-Empfehlung kreativer und hat mir schon interessante Autoren / Texte vor die Nase gesetzt. Wirklich gespannt bin ich nur noch auf die NZZ Beilagen, sonst beziehe ich meine Anregungen von Blogs wie diesem hier, vielen englischsprachigen Blogs und der großartigen LRB. Ich lese gerade bei Blogs auch gerne Stimmen, die nicht meiner eigenen kleinen Ideologieblase entstammen, zum Beispiel USamerikanische, sehr konservative Blogs, die auch Literatur- und Kulturbesprechungen machen. Da muss man sich immer mal aufregen, man schärft aber auch die eigene Position und lernt neue Stimmen kennen.
Eine neue Facette, die vereinzelten Hinweise auf den »Literaturbetrieb«, aber spannend. Raddatz hat sicher viel zu erzählen. Die Kulturschaffenden ziehen weder an einem Strang, noch bringen Sie es zwischenmenschlich über ein Mindestmaß an Anstand und Zivilität hinaus. Am Horizont: die Ideale der Freundschaft und Mitmenschlichkeit, immer gleich weit entfernt. Man muss wirklich aufpassen, man wird unweigerlich melancholisch.
P.S.: Ich lese, die Moderatorin T.S. sei Entnazifizierungs-SpezialistIn in der >kulturzeit<. Ist das nicht Tina Mendelssohn?! T.S., das war doch Sarrazin...
Excusé die_kalte_Sophie – das kommt vom Raddatz-Lesen. ich meinte »T. M.«
Danke für die Korrektur...
»Die Kulturschaffenden ziehen weder an einem Strang, noch bringen Sie es zwischenmenschlich über ein Mindestmaß an Anstand und Zivilität hinaus.« – Sind das nicht etwas weitreichende Schlüsse? Ich habe gerade einen sehr anrührenden Text über das geheime Leben von W. H. Auden als barmherziger Samariter gelesen. Sicher gibt es noch viele andere Geschichte von großherzigen Taten und Herzensbildung unter »Kulturschaffenden«. Und warum sollten sich die »Kulturschaffenden« da auch von anderen Berufen unterscheiden? Dass verstehe ich nicht so recht.
@ Doktor D
Ja, Buchbeilagen – stimmt! Und was mir aber apropos NZZ auch noch einfällt: Eines der besseren Vorurteile über die Schweizer ist ja, dass sie langsamer seien aber dafür gründlicher – das wäre dann also auf dem Sektor von (sagen wir mal „Kulturberichterstattung“) von offenkundigem Vorteil. NZZ lese ich also immer wieder gerne.
Ansonsten geht auch bei mir die Aufmerksamkeit immer mehr zu „abweichende Meinung“ – und damit einher geht dann tatsächlich oft die überraschendere, entlegenere Information, die dann den Unterschied macht.
Nochmal jener Lehrer, der mich aufs Zeitunglesen gebracht hatte: Er meinte damals allen ernstes (und also überzeugend), dass, wenn man das geistige Klima im Land verfolgen wolle, man Feuilleton lesen müsse. Allerdings hatte es eben seinerzeit auch noch seine (fast) Alleinstellung, und das Ausfransen der Qualität hat eben auch mit der Vervielfältigung der Stimmen und Orte zu tun, von woher die Sprecher reden. Wenn der EINE Kanon nicht mehr gilt wird der andere umso mehr erklärungsbedürftiger – das bringt etliche Distinktionsgewinne aber auch neue Dürftigkeiten.
Überhaupt scheinen mir oft sämtliche Gründe zuzutreffen, die guten und die schlechten – der Fehler wären eher auch die Vereinfachungen und monokausalen Herleitungen.
@ G.K.
Vielleicht ist eben das der Unterschied: Ob es tatsächlich noch erschüttert? Und da ist dann weniger die Disziplin ausschlaggebend, in der jemand operiert, als seine Persönlichkeit? Die Fallhöhe bei Künstlern und Intellektuellen ist eben nur höher als in der Wirtschaft – wo der Kampf mit Ellbogen ja als Tugend gilt. (Man soll auch „durchsetzungsfähig“ sein.)
Raddatz ist vielleicht so interessant, weil er eine paradigmatische Figur ist (war) – und außerdem, neben seinen privat-ästhteischen, noch den Anspruch des Künstlers per se hochhält. So kann er die Verkommenheit eben selber verkörpern. Man muss ihm schon dankbar sein. (Außerdem hilft ihm sein französischer Einschlag, wo diese Schizophrenie schon früher thematisiert wurde. Ich erinnere an die Debatten Sartre / Camus: Da war immer viel vorgeschoben, weil es um Rangordnungen und Geltungsansprüche ging, und außerdem um diese Innen-/Außenperspektive: Der aus dem innersten (Klein-)Bürgertum kommende Philosoph und der „pied noir“ – und dann die ganz große, die Welt-Politik-Perspektive. Muss man sich wohl auch dran verheben. Auch Sartre war oft rücksichtslos gegenüber sich selbst – aber eben oft erst hinterher, wenn die Wunden geschlagen waren.
Ich will eigentlich nur sagen, dass Raddatz davon mehr drauf hatte, als die damals zurückgeblieben Deutschen – er hatte auch noch einen ganz anderen Hochmut in sich.
Jedenfalls sind Schriftsteller, die also noch zu Thomas Manns Zeiten Deutungshoheiten angetragen wurden, heute nur mehr eine weitere Farbe im Kulturquartett – und wohl die am wenigsten schillernde: Das muss kompensiert werden. Aber vielleicht sind ja auch wir Leser mit unseren Erwartungen antiquiert? Indiz dahin ist auch die Aufladung der Personen selbst (kaum eine Buchanzeige ohne das Bild des Autors). Und es braucht ein erweitertes Storytelling, die Verbindung zu einem General-Thema, dass man als Marke deutlicher wird. Die Buch-Themen, die Bücher sind in Hinblick auf Merkt und Vermarktung jedenfalls nicht mehr das Entscheidende. Und in der Selfpublisher-Szene werden demnächst vielleicht auch Hypes a la Hegemann wichtiger werden und dann auch entscheidend.
Was ich meine, ist, all das weiß irgendwie bei sich auch, dass es mit den ehemaligen Ansprüchen an das Kunstwerk vorbei ist – die „Aura“ ist auch hier der Vorschein der Kulturware geworden. Und dass das „Werk“ vielleicht auch immer weniger die Mühe lohnt. Und so laden sich die Erwartungen teils noch an den Verjährtem auf oder an großen Einzelnen, an Bernhard oder Pynchon oder …, und man weiß doch, dass es nicht mehr ernsthaft erwartet werden kann.
Bis dahin lesen wir was anderes.
@ Doktor D
Ganz kurz, weil nachgefragt: die Kultur als harmonisches Gefüge haben wir historisch inzwischen weit verfehlt, und die »Schaffenden« im sisyphonischen Betrieb sind auch nur selten Vorbilder. Das meinte ich. Dass es Samariter gibt, ist klar. Ich erinnere gerne auch an das Engagement einfacher Pop-Künstler wie Shakira, die in Kolumbien schon ihre 4. Schule eröffnet hat.
Ich glaube schon, dass die Schaffenden zu Vorbildern erklärt werden. Und das selbst wenn sie noch nichts mit »Charity«-Geschmack hinterlassen haben. Hierin sehe ich ja das Dilemma: Man hebt sie auf einen Sockel, aber wehe es kommt ein nicht als adäquat akzeptiertes Verhalten...
Hierin zeigt sich ja die Sehnsucht nach dem Vorbild, dem Ideal: es soll makellos sein, ohne »Ecken und Kanten«. Dabei ist das fast die Voraussetzung für so etwas wie Kunst: Jemand der immer bei grün über die Ampel geht und schöne Gedichte schreibt – der muss irgendwo einen Abgrund in sich »wesend« haben. Wo sollen sonst die schönen, intensiven Gedichte herkommen? Und so findet sich der Schriftsteller irgendwann im Paradoxon: Mache ich einen auf Mainstream (und halte die Schnauze) oder lass ich mich nicht korrumpieren? Letzteres ist der gefährliche Weg, weil Dichter entgegen der landläufigen Meinung nur noch wie Sonntagsredner angesehen werden.
@Doktor D: Für mich war Feuilleton in seiner Urform eher Heine und den kann ich nicht so recht mit Boulevard in Verbindung bringen, aber danke für die Verweise!
Mit dem »perfide« bezog ich mich eher auf die Argumentationsstruktur als auf den Inhalt, da ich nicht beurteilen kann und will, ob Frau Lewitscharoff diese »Dschihad« (Keuschinig) verdient hat oder nicht.
Die Sloterdijk-Debatte kenne ich etwas näher, und bei aller Unterschiedlichkeit gibt es doch auffallende strukturelle Ähnlichkeiten:
1) Es ist der immerselbe Nazi-Knopf, der eine »Debatte« triggern kann.
2) Der Primärtext interessiert überhaupt nicht (bei Sloterdijk, Walser schien es sogar förderlich, dass dieser zunächst nicht zugänglich war). Eine hermeneutische oder behutsame Herangehensweise findet nicht statt.
3) Selbst wenn man den Primärtext kennt, echauffiert man sich besser an überlieferten Sekundäraffekten.
4) Mitunter braucht es gewisse Inkubationszeiten bis wieder einer Diskursblase hochblubbert.
Aber das ist hier ja schon genügend breitgetreten und die kritische Masse für einen Diskurs wäre hier ja schon vorhanden, nun mag noch ein Moderator versuchen, dies auch zu irgendwas Sinnvollem zusammenzubinden.
Mögen Sie meine Seitengrätsche entschuldigen; mitunter mache ich in Blogs schon eine Kopie dessen aus, was man an Zeitungen so heftig kritisierte: dass man sich ohne Grund zur Autorität aufplustert, und die Genauigkeit und Präzision in Beobachtung und Argument gerade vermissen lässt. – So teile ich z.B. den Tenor dieses Artikels hier im Großen und Ganzen, dennoch gehen mir rhetorische Dampfhämmer wie »Dschihad« so pauschal eigentlich schon zu weit: Lieber wäre es mir, man zeigte mir in Formulierungen oder Äußerungen der Journaille konkret, wie diese »Dschihad« auftritt und wirkt, als nur pauschal abzuwatschen. – Nun vielleicht geht einem die Geduld aus, oder man denkt nicht daran, wenn man das schon 438mal getan hat,.. aber verwischt man dabei nicht die Grenze zu denen, die man kritisiert?
@Phorkyas
Vielen Dank für den Hinweis auf das Buch zur Sloterdijk-Debatte. Leider ja wohl nicht mehr lieferbar. Sloterdijk hat in seiner Börne-Rede noch einmal Bezug auf die Diskussion genommen, von der er, ein bisschen gespielt vielleicht, überrascht war.
Zu den rhetorischen Dampfhämmern: Ich finde, »Dschihad« trifft die zum Teil tatsächlich religiöse Inbrunst, mit der bestimmte Glaubensgewissheiten verteidigt werden, ziemlich gut. Weil es eben auch das Bekenntnishafte hat und nicht nur das Abwehrende. Es ist eng verknüpft mit dem, was dann auch schon in der Diskussion angesprochen wurde: Dem nahezu kindischen Zwang zur Distanzierung, ja Entschuldigung. (Anders bspw. als in klassischen Entschuldigungs-Gesellschaften wie Japan.) Der/die Abtrünnige wird vor allen vorgeführt. Er/Sie muss die Apostasie zurücknehmen. Es muss widerrufen werden. Hätte ich »Inquisition« schreiben sollen? Vielleicht.
Natürlich ist es ein Argument zu sagen, ich mache in dem Moment das, was ich anderen vorwerfe. Ich habe aber gar nicht gesagt, dass die anderen nicht rhetorisch scharf vorgehen dürfen. Ich finde nur, sie sollten es in der Sache einigermaßen genau machen und nicht eine Verschwörung einer Art neuen Rechten herbeibeschwören, wo einfach nur Unsinn gesagt worden ist. (So wurde auch gesagt, Lewitscharoff sei eine christliche Fundamentalistin. Vielleicht stimmt das ja. Aber was bedeutet das denn? DARF sie das nicht sein?)
Im übrigen ist ein Blog-Artikel keine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Das müsste ansonsten so aussehen, wie bspw. zum Fall Handke/Jugoslawien und speziell zum Heine-Preis-Dilemma 2006 hier – inklusive konkreter Aufstellungen über die »Journaille«. Aber: Wer würde das noch lesen?
Die Ausgrenzung, die »scharfen Worte« und die Wissenschaft
Alles wichtig, ich will mich gerne wiederholen:
»Der Mainstream existiert durchaus nicht nur durch INTEGRATIONSmaßnahmen, es gibt klare Rituale der Ausgrenzung. Ich denke, die Formulierung von Phorkyas ist aussagekräftig: »Verwischt man nicht die Grenze zu jenen, die man kritisiert...«.
Leider hat mein Ausgrenzungs-Axiom in #20 niemanden interessiert, ich möchte es nochmal aufgreifen: auch der Mainstream »funktioniert« als Gruppe, ohne Außen kann er nicht existieren. Phorkyas bemerkt, es handelt sich allenfalls um eine Pseudo-Gruppe, ein Quasi-Konstrukt. Dem bin ich seit Jahren auf der Spur. Da der Mainstream aber vielfältig, soz. überdefiniert ist, braucht er jede Menge Außenseiten. Er bildet Facetten wie ein dicker Diamant.
»Die »scharfen Worte« sind nicht nur Waffen, sondern auch Affekt-Zeichen. Sie sind riskant, weil unsachlich und nicht gezielt auf eine Person gerichtet. Ich hab ja oben vorgemacht, wie’s geht: Kultur der direkten Beleidigung, mit der Möglichkeit, sich zu entschuldigen...
»Wissenschaft täte not, aber wie Stephan Raab: »Wir haben doch keine Zeit...!«
Ja, natürlich existiert der Mainstream auch in der »Ausgrenzung«. Die Freiheit wird ja nicht nur am Hindukusch verteidigt, sondern auch immer wieder gerne in den Redaktionsstuben. Solange es denn »meine« also dessen Freiheit ist. Das ist ja zunächst einmal nichts ehrenrühriges, solange dies in diskursiv geordneten Bahnen abläuft.
Diese Grenzen werden ja längst verlassen. Wer einmal vom wahren Weg abgewichen ist – nun, dem droht lebenslanges Erinnern (s. »Freitag«-Artikel). Da wird der philosophische Rahmen, in dem Sloterdijks Text steht, gar nicht erst erörtert; viel zu kompliziert. Und die Provokation von Strauß, sich selber als »Rechter« zu rubrizieren begierig aufgenommen – ohne darauf zu achten, wie das wirklich gemeint war/ist.
Aber nicht alle können Pynchon spielen. Und so müssen sie also in das Karussell.
@phorkyas:
Vermutlich zum Glück für die Vergangenheit bleiben aus den Schlammschlachten vergangener Debatten oder des vergangenen Feuilletons ja oft nur die wirklich großen Beiträge und Beiträger in Erinnerung. Wenn man sich dann mit den konkreten historischen Debattenverläufen beschäftigt, wird’s einem dann manchmal ganz blümerant. Da treten dann auch meine normativen Vorstellungen zu Feuilleton und Kritik und das, was historisch-deskriptiv Feuilleton ist / war, manchmal sehr stark auseinander.
Was ich nicht bestreite, ist das regelmäßige Hohl- und Leerlaufen dieser aktuellen »Debatten« in den vorgespurten Bahnen. Befremdlich finde ich auch, dass sofort das Zusammenrücken / Entstehen einer konservativ-reaktionären Front ausgerufen wird. Dafür scheint mir in den Medien fast nichts zu sprechen, eher im Gegenteil. Wobei: Aus der Funktionslogik des Boulevard-Krawall muss es ja immer um die letzten Fragen der Menschheit gehen, um das eigene Ressentiment zu legitimieren.
@ Gregor
Einverstanden. Der Hinweis auf die Verteilung von »Platzkarten« ist umso treffender, weil er zeigt, dass man nicht nur »abweichende Gedanken« sondern auch »infame Personen« braucht. Diese Bestandteile benutzt man »konstruktiv« für die Gestaltung des mainstream. (Oh, Sprache, steh’ mir bei!). Reicht Dir das nicht als Begründung?! Der mainstream braucht Nahrung, er funktioniert nicht im luftleeren Raum des »Denkens«...
@ Doktor D
Toller Hinweis, dass die »Front« deutlich von innen konstruiert wird, wieder ein Gruppen-Axiom. Siehe Freitag. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die berühmte Fahndungs-Website doch allerfeinstes Material! Die Re-Aktion scheint gar nichts mehr vom »Verteidigen« zu halten, man marschiert ins Gegnerland und greift sich die Verdächtigen! Ich hab auch lange gerätselt, wie das kommt. Meine Vermutung: die Konservativen sind rhetorisch sehr defensiv, sie halten sich bedeckt und sind gelegentlich sogar »sprachfaul«. Es mangelt an Präsenz in den Medien. Deshalb werden Dummys erschaffen. Das Hau’-den-Peter...(Sloterdijk), oder Hau’-den-Lucke...Spiel. Oder: Hau’-die-Kelek, wenn man geschlechtsausgewogen argumentieren möchte.
@Kalte_Sophie:
Ihr Blick auf die konservativen oder rechten Kräfte (oder die, die sich selbst so nennen) ist mir zu romantisch: Die meisten der von ihnen genannten haben sich aktiv als der rechter Gegenpol im Boulevard-Krawall positioniert (Lucke würde ich rausnehmen, der spielt in einem anderen Theater, der Politik, dem nützen die Ausfälle in den Medien) und verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Bei Sloterdijks Menschenpark war der Mechanismus noch nicht so super eingespielt, da nehme ich ihm das Erstaunen über die Reaktion bis zu einem gewissen Grad ab. Aber seitdem sollte auch der intellektuell mäßig begabte Schriftsteller / Publizist wissen, dass er bestimmte Tropen und rhetorische Figuren nicht nutzen sollte, wenn er ein Thema ernsthaft in die Diskussion bringen will. Oder eben das Gegenteil tun, wenn man ein neues Buch zu pushen hat oder einen schönen Buchvertrag haben möchte.
Das neue Buch von Botho Strauss fand ich deswegen so banal und enttäuschend: Ich hatte den Eindruck, da verlässt sich jemand völlig auf den Skandalisierungsmechanismus und wird darüber selbst bräsig, denkfaul und selbstgefällig.
Wirklich interessante Denkerinnen aus dem rechten bis faschistischen Spektrum gibt es in DE aktuell nicht wirklich. Das sind alles Aufgüsse aus den 1910er bis 1930er Jahren und die meisten davon nicht besonders gute. Bei den konservativen Katholiken gibt es mit Spaemann und dem Papa Emeritus intellektuell herausfordernde Positionen, aber die spielen auch keine aktive Rolle im Boulevard. Sloterdijk ist eher ein Libertärer als rechts – und mittlerweile auch meist ein Boulevard-Schauspieler seiner selbst.
@Doktor D
Wirklich interessante Denkerinnen aus dem rechten bis faschistischen Spektrum gibt es in DE aktuell nicht wirklich.
Vielleicht Egon Flaig – wenn ich das hier lese, bekomme ich fast Lust, mich dessen anzunehmen. Aber wie schon Raab sagte: die Zeit...
@Keuschnig: Danke! Der klingt wirklich sehr spannend.
Dass Lewitscharoffs Rede/Text einen Sturm entfachen konnte, sagt einiges über die Verfassung des Feuilletons. Da werden aus einer subjektiven Perspektive heraus, langatmig und ungelenk, Bedenken bestimmten (modernen) Entwicklungen gegenüber geäußert, weder provokant, noch aggressiv, ich würde sagen klassisch konservativ bis reaktionäre Topoi (Selbstermächtigung des Menschen, Konsequenzen einer Abkehr von Gott,...), nichts Neues, nicht stringent oder durchdacht formuliert, weder essayistisch noch pointiert; zu manchen Schlüssen könnte man auch auf ganz anderen Wegen gelangen, man kann das, inhaltlich und stilistisch, links liegen lassen. Der einzige Satz der hängen blieb: »Heiteres Gewährenlassen und nicht über alles, wirklich alles bestimmen zu wollen, ist geradezu der Garant für ein in Maßen gelingendes Leben.« Aber auch das ist nicht neu und auch dorthin kann man auf anderen Wegen gelangen.
@metepsilonema:
Ich denke, ohne missglücktem Nazi-Vergleich und der Bezeichnung von reproduktionsmedizinisch erzeugten Babies als Halbwesen, der Prozedur als abartig und der Dämonisierung von Frauen, die sich der Reproduktionsmedizin bedienen, hätte es keine Debatte gegeben. Und natürlich brauchte es den Offenen Brief des Chefdramaturgen, der den anderen ein Worst-Off-Lewitscharoff-Rede zur Verfügung stellte. Mit dem war dann auch der Topos etabliert, dass man sich mindestens einmal vor der Sprachmacht der Autorin zur Verbeugen hatte, bevor man ihr dann Pauschalitäten um die Ohren haut.
Bisher haben sich nur so ein paar verstreute Blogger und Kommentatoren wie hier die Mühe gemacht, mal diesen typischen Lewitscharoff-Sound zu analysieren. Diese Vermanschung von hohem Ton mit Schwabismen, Biblizismen, Kraftausdrücken, Archaismen ermöglicht m. E. gerade das ungenau, schlampige Denken, das sich in der Rede zeigt. Einer der Kommentatoren hat das, glaube ich, schon gesagt: Was als (Ich-)Erzählerin- oder Figurenstil ganz gelungen sein kann, wird als Personalstil dann ein Denkunfall.
zu #46
Schade, mein Lob war etwas übereilt. Es ging um die Primär-Definition des »Rechten« als Gegner. Was das genau ist, da bin ich überfragt. Das spielt für die Gruppen-Definition des mainstream (einer Quasi-Gruppe) nicht die geringste Rolle. Der Kopf kommt einfach an die Pinwand. Siehe Website! Hauptsache, der Abweichungs-Faktor ist hoch genug. Nennen wir es intuitives »polit-bashing«. Rechts ist, wer an meiner Pinwand hängt. Wie Gregor schon öfter sagte: dazu muss man die Texte ja nicht mal lesen, geschweige denn, verstehen.
Habe ich wirklich einen Haufen rechts-konservativer Gestalten aufgezählt?! Scrollen wir doch einfach mal nach oben...
Ach, sieh da! Sie nehmen Sloterdijk und Lucke sogar raus. Hmmm, da bleibt dann von dem Haufen nur noch Necla Kelek übrig. Na, schön.
Und auf die arme Immigrantin hätte ich einen polit-romantischen Blick geworfen?!
Seien Sie mir nicht böse, aber ich fürchte, sie werfen mit Bildungs-Klischees um sich. »Rechts« und »romantisch«, da war doch was... Haben Sie da nicht gleich einen Buchtipp für uns?!
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@die_kalte_Sophie
Der »Haufen rechtskonservativer Gestalten« ist ja vielleicht im Freitag-Artikel nachzulesen, den ich in der Fussnote verlinkt hatte (nicht nochmal; wäre zuviel der Ehre für diese Praktikantenpostille). Dabei kommt es tatsächlich nicht darauf an, ob die Leute »rechts« sind, sondern nur noch ob sie für die Verfasser »rechts« gelten. Der Witz bspw. bei Botho Strauß war ja, dass er sich als »Rechter« bezeichnet hatte, wobei dann allerdings die Erklärung, was das ist, immer weggelassen wurde:
zu #52
Danke für den Geleitschutz. Es war mir wirklich ernst mit der Behauptung: »Keine Ahnung, was rechts ist...«.
Die Formulierungen von Strauss sind sehr gut, das geht sicher in die richtige Richtung.
Deine Einordnung der Schießbundenfiguren ist auch stimmig.
Genau darum ging es: nur noch Reflexe, sogar Doktor D willigt (dankbar?!) ein in die re-aktive Definition. Nach Strauss gäbe es nur sehr wenige »rechtsphilosophische« Geister, viel zu wenig für die Krawall-Maschinerie...
Da muss man eben Ersatz schaffen.
Man könnte die Hexenjagd ja mit dem horror vacui erklären. Wehe dem, dem die Gegner ausgehen! Er würde den Gegner im eigenen Spiegelbild entdecken.
@Doktor D
Ich will den Text im Grunde nicht verteidigen, weil ich ihn für schlecht halte, aber wenn wir uns die Stelle einmal ansehen:
»Mit Verlaub, angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen ss-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor. Ich übertreibe, das ist klar, übertreibe, weil mir das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse derart widerwärtig erscheint, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas. Das ist gewiss ungerecht, weil es den Kindern etwas anlastet, wofür sie rein gar nichts können. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.«
Lewitscharoff tut zweierlei: a) Sie relativiert ihre plakativen Ansagen sofort (»Ich übertreibe [...]«, »Das ist gewiss ungerecht [...]«) und beruft sich b) auf subjektive Eindrücke (»Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.«). Man kann das als Rhetorik abtun, allerdings lassen sich im Rest des Textes m.E. keinerlei Erhärtungen dafür finden, darüber hinaus spricht Lewitscharoff sogar davon, dass sie »Den jüngsten Fall eines Mädchens in Köln, das von einer
Klinik in katholischer Hand abgewiesen wurde, weil es nach einer Vergewaltigung auf Nummer sicher gehen wollte, dass aus diesem Frevel kein Kind entstehen kann« für »skandalös« halte (sie zählt sich auch nicht zu den Abtreibungsgegnern). Sie vertritt keine schwarz-weiß-Position.
Mir scheint, dass da ein paar Wörter aus dem Zusammenhang gerissen wurden; natürlich kann man sagen, dass die Autorin sie nicht hätte verwenden sollen (oder aber sie tat das im Wissen was kommen würde). Ich selbst finde diese Vergleiche entbehrlich (neuerdings wurde ja sogar der Einmarsch auf der Krim mit Hitlers Besetzungen und »Anschlüssen« verglichen). Aber ist das in der vorliegenden Form tatsächlich ein Skandal? Ist es nicht »schlimmer«, dass die Autorin bisweilen dazu neigt, den Menschen anderen Autoritäten (völlig?) unterzuordnen (Gott)?
@metepsilonema:
Ich hatte das eher deskriptiv für die Anatomie des »Skandals« gedacht: Ohne diesen Nazi-Bezug hätte es, vermute ich, keine Aufregung gegeben. Und der Offene Brief des Chefdramaturgen hat das dann in die Skandal-Instant-Form gebracht, an die das Schnellschreiber-Feuilleton sich dann verschleißlos (selbst gründlich lesen) andocken konnte. Ich finde die Rede aus anderen Gründen missglückt und unverschämt, der Nazi-Bezug ist da eher das Tüpfelchen auf dem I.
@Kalte_Sophie:
Ich hatte den Eindruck, sie rechnen den vom Feuilleton als »rechts« oder »reaktionär« ins Visier genommen Figuren eine besondere Qualität zu: Das sie tatsächlich was zu sagen hätten. Und das halte ich, positiv gesagt, für romantisch: Denn die meisten dieser Figuren bauen ja ihren Lebensunterhalt auf genau dieser Rolle im Kultur-Boulevard auf. Das sind, zumindest für mich, genau so öde Clowns wie Diez und Co. KG. Wer sich länger auf rechten, konservativen oder neo-faschistischen Seiten oder in diesen Kreisen herumtreibt, merkt das im übrigen ganz schnell: Die sind fast spiegelsymmetrisch zu Diez und Co. KG gebaut und bieten ihren Krawallstars anscheinend ein ganz nettes Auskommen.
Ausnahmen sind für mich Strauss und Sloterdijk. An denen kann man aber auch erkennen, meines Erachtens, wie sehr man sich auch als etwas komplizierter denkende Autorin davor in Acht nehmen muss, auf die Schwachdenk-Angebote des Boulevards ganz automatisch einzugehen, weil man meint, sich da positionieren zu müssen.
zu #54
Der Passus aus der Rede ist gut gewählt, er zeigt den Frevel und lässt die Möglichkeit der Zweckentfremdung bereist ahnen. Nazi-Züchtung und das Attribut »harmlos« im selben Satz?! Na, warte...
Es ist klar, dass wenn man die Hyperbel (zuviel der Ehre?) umkehrt, ein großer Skandal entsteht. Ich glaube, das können bereits Abiturienten. Der thematische Rahmen ist jedoch nicht zufällig, denn der GröFaZ und seine Perversionen wird ja noch gebraucht. SIE darf diese Vergleiche nicht machen, das dürfen nur WIR...
Gruppenkonsens. WIR allein wissen, in welchen polemischen Zusammenhängen die Nazi-Vergleiche »konstruktiv« sind, siehe #45. Die polemischen Zwecke sind entscheidend, nicht der unsachgemäße Gebrauch. Es gibt ja keine statthaften Vergleiche auf dieser »Ebene«...
zu #55
Imgrunde sind wir einig: es ist für einen komplexen Autor kaum noch möglich, sich dem Boulevard (erweiterte Def.) zu nähern, ohne vorgeführt zu werden.
Strauss und Sloterdijk sind für mich genau, wie sie sagen, als »Missbrauchsopfer« interessant geworden. Wer konspiriert und wieviel man dabei verdienen kann, ist mir schnuppe. Die Autoren wurden nie genau gelesen, und stets auf dieselbe Weise »missverstanden«. Ganz klar: das ist nicht Dummheit, das hat Methode.
Dass diese Autoren tatsächlich etwas zu sagen haben, ‑diese Annahme wäre in der Tat romantisch. Sie käme einer Liebeserklärung an ein Orakel gleich.
Das Phänomen ist und bleibt: das, was die Autoren sagen/schreiben, stimmt nicht mit dem überein, was sie gesagt/geschrieben haben sollen. Es ist Missbrauch.
@Doktor D
Vielleicht haben wir da an einander vorbei geschrieben, ebendeswegen meinte ich in #49, dass der Entrüstungssturm viel über das Feuilleton sagt (weil die Details oder die tatsächlich relevanten Stelle überlesen oder gar nicht bemüht werden — unverschämt beziehen Sie worauf?).
@metepsilonema: Aneinander vorschreiben in Kommentaren – das ist ja die klassische Form der Kommunikation unter Abwesenden... Ich glaube auch, dass wir uns ziemlich einig sind.
Was ich unverschämt an der Rede finde? Das völlig ungebrochene Vertrauen Lewitscharoffs in den Wert ihres eigenen Resentiments gegenüber reproduktionsmedizinischen Verfahrens – mir erscheinen ihre Relativierungen rein rhetorisch. Ihr scheint völlig egal zu sein, dass sie da auch über reale Menschen spricht. Stattdessen baut sie sich irgendwelche Pappkameradinnen auf (die männerfeindliche Kampflesbe im Prometheus-Wahn), die selbst auf Boulevard-Niveau sind. Und die Rechtfertigung dafür, jetzt die Zuhörer mit dieser wahnhaften Wahrnehmung der konkreten Verhältnisse in der Reproduktonsmedizin zu konfrontieren, sind: ihre Gefühle. Das ist für mich das Reflexionsniveau von Pubertierenden, nur mit mehr Nebensätzen.
@Doktor D
Das völlig ungebrochene Vertrauen Lewitscharoffs in den Wert ihres eigenen Ressentiments
Man ersetze jetzt »Ressentiment« mit beispielsweise »Meinung« (oder, dann wird es noch schwieriger, »Gefühl«). Und schon zeigt sich : Dieses »Vertrauen« in das eigene Glauben, Meinen, Fühlen ist ja das, was man den Schriftstellern jahrelang als ihre »Aufgabe«, neudeutsch: Kernkompetenz gepredigt hat. Es ist das, man eigentlich hören möchte. Um so unerhörter, wenn es sich um ein »Ressentiment« handelt – wobei dann die Frage ist, wer das als Ressentiment wertet.
Ich glaube auch, dass die Relativierungen reine Rhetorik sind – wenn man »übertreibt«, es »nicht so meint«; dann muss man es eben anders formulieren. Es ist eine REDE, kein Statement in einer Diskussion, dass einem vielleicht entfleucht und nicht immer alles druckreif ist. Gleich zu Beginn sagt sie, dass ihr Ironisches zu den Themen, die sie in der Rede behandeln möchten schwerfalle. Um sich dann beim Gegenwind auf dieses Ironische rauszureden.
In einem hat »die kalte Sophie« Recht: Wer sagt denn, dass Diez »klerikalfaschistisch« sagen darf, aber ansonsten Nazi-Vergleiche bzw. Nazi-Parallelen verpönt sind? Man kann das natürlich als Schauspiel, als Inszenierung betrachten (wozu ich immer mehr neige), allerdings bleibt der Verursacher/die Verursacherin von nun an persona non grata bzw. muss eine geradezu unendliche Kette von diversen Kotaus vornehmen, um wieder aufgenommen zu werden in das Theater.
Die Frage ist, ob Lewitscharoffs Literatur durch ihre Ansichten zur Reproduktionsmedizin »beschädigt« wird, zumal sie sich ja bisher erkennbar nicht damit beschäftigt. Das Puppentheater meint: ja. Ich sage: nein. Da das Puppentheater jedoch den Ton angibt, setzt es sich durch; die Autorin ist im Prinzip »tot«. Zumal der Suhrkamp Verlag eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat.
zu »Nazi-Vergleichen«: Manchmal glaube ich, wir müssten alles und jedes mit Nazis in Verbindung bringen, bis dieser Zombie endlich mal tot im Grabe bleibt. Quasi bewusstes Nazi-Tourette-Syndrom. Und bei Diez frag’ ich mich ernsthaft, ob der überhaupt den Schimmer einer Ahnung hat, was der Begriff »klerikalfaschistisch« überhaupt meint.
Zur weiteren Karriere von Lewitscharoff: Das nächste Buch kommt ja Ende März / Anfang April. Mal sehen, was mit der Auflage passiert. Als ich die Suhrkamp-Stellungnahme las, durchfuhr mich die Idee: Ob die wohl schon länger planen, sich von Lewitscharoff zu trennen? Und das ist hier jetzt die goldene Gelegenheit?
Warum sollte Suhrkamp die Büchnerpreisträgerin loswerden wollen? Persönliche Animositäten? Bis zu der Rede war doch S. L. everybody’s darling.
Reine Spekulation meinerseits:
1) Man verdient kein Geld mit ihr, weil man ihr als Büchnerpreisträgerin ein zu hohes Festhonorar zahlt (Ich bin ziemlich sicher, dass Büchnerpreis keinen relevanten Verkaufsboost mehr bringt, die meisten anderen dtschen. Literaturpreise tun es auch nicht – sagt jedenfalls mein Buchhändler, der ein ambitioniertes Literaturprogramm führt)
2) Im Verlag gibt es Leute, die Lewitscharoff schon immer für überbewertet halten. Das ist ihre Chance. Gerade im Suhrkamp-Verlag mit seinen immensen Gerichtskosten sind die ökonomsichen Ressourcen für Werbung etc. endlich. Jeder weniger hilft den eigenen Leuten.
Ich bin sehr gespannt auf die Rezensionen zu ihrem neuen Roman: Da lässt sich wieder etwas spannendes über das literarische Feld lernen.
Die Buchpreise (Frankfurt mehr als Leipzig) bringen noch Verkauf – sagte mir neulich mal ein Verleger, der es wissen musste. Auch der Bachmannpreis. Alle drei sind allerdings medial sehr gut inszeniert (besonders Klagenfurt). Die juryaffinen Preise, die zu 90% in den Feuilletons verhandelt werden, dann wohl eher nicht (die zweizeilige Meldung in der »tagesschau« zum Büchnerpreis ist ja eh nur zum Luft holen).
Ja, ich bin auch auf die Rezensionen gespannt; merkwürdigerweise auf das Buch weniger. Schon »Blumenberg« hat mich vom Setting her nicht interessiert. »Pong«, damals Sieger in Klagenfurt, zerfiel mir zu sehr in zwei Teile (der gute bekam den Preis). Apostoloff fand ich nachträglich besser, als ich es mir damals beschrieben hatte, aber es war gute Unterhaltung. Sehr interessant fand ich 2007 ihr Vorpreschen zusammen mit Felicitas Hoppe (komisch, beide haben inzwischen den Büchnerpreis?!) und dem gemeinsamen Abschied von den Alten. (Einen Link zum FAZ-Text gibt’s wohl nicht mehr.) Hieraus könnte sich ihr späterer Ruhm ableiten...
@Gregor Keuschnig:
Das entsprich ganz gut meinem Kaufverhalten: Deutscher Buchpreis und Leipzig, da gucke ich mir auf jedenfall die Kandidatinnen an (eben Per Leo, Flut und Boden gekauft). Beim Bachmann-Preis habe ich mich jahrelang durch die online präsentierten Texte gequält – mit dem bin ich durch. Der ist für mich mittlerweile eher ein Malus.
»Blumenberg« habe ich angefangen zu lesen – und schnell wieder weggelegt. Das Erscheinen des Löwen ist wirklich schön, aber danach ist mir das Gesicht eingeschlafen. »Apostoloff« habe ich nicht gelesen, nachdem Lewitscharoff im DLF daraus gelesen hat. Das hat mir zwar gefallen, aber ich dachte: Diesen Ton über mehr als 200 Seiten möchte ich nicht hören.
Auf meiner Liste steht noch Consummatus: Das haben mir zwei Buchhändler empfohlen, auf die ich sehr viel halte. Aber wie immer: so viele Bücher, so wenig Zeit!
Der Nazi-Vergleich (oder: Faschismusvorwurf) hat drei Vorteile: 1) Man patzt jemanden an (und kann sicher sein, dass etwas hängen bleibt), braucht 2) nicht weiter zu argumentieren und schreckt 3) damit mögliche Verteidiger ab (es wird wohl kaum jemand geben der für Lewitscharoff in die Bresche springt [muss auch niemand]).
Was mich noch rein theoretisch interessieren würde: Könnte man ihre Rede als fiktiv (»literarisch«) verteidigen (das war in ähnlichen Fällen immer wieder eine Position der »Verteidigung«)?
@Doktor D
Weitgehend einig: Ja!
Aneinander vorschreiben in Kommentaren – das ist ja die klassische Form der Kommunikation unter Abwesenden
Das ist ein schöner Satz, bereit zum Einrahmen.
Nun dass diese Diskussion schon weit an mir vorbeigeschritten ist, möchte ich aber noch ein paar Punkte nachliefern:
@Keuschnig: Dass Sie keinen wissenschaftlich drögen Text abliefern müssten, rechtfertigt doch nicht dem Publikum nach dem Mund reden zu wollen, bzw. die Sache auf deren vorgefühltes Niveau herunterbrechen zu wollen; das ist doch genau das was den Boulevard ausmacht.
Und damit zu einem Haupteinwurf: Die Aussage im Artikel, dass das Feuilleton unter Boulevard zu subsumieren sei, ist meines Erachtens nicht ganz richtig. Das hieße ja, dass »Boulevard« eine Obermenge sei, also noch reichhaltiger als das Feuilleton. Hier in den Kommentaren werden beide Begriffe schon fast synonym verwendet, während doch das Umgekehrte richtig ist: dass sich im Feuilleton, wo es fehlgeht, vielleicht Elemente, Funktionsweisen des Boulevard wiederfinden lassen, aber es sonst als intellektuelle Spielwiese quasi den unendlichen Raum des freien Geistes umfassen könnte. Vielleicht ist es daher unerlässlich die Begriffe zu differenzieren. Wollte man Boulevard an einfachen Merkmalen festmachen, so fallen mir besonders ein: Personalisierung, Emotionalisierung.
Dies ist zu trennen von der (journalistischen, medialen) Öffentlichkeit überhaupt. (Hier würde mich nebenbei interessieren, ob auch eine nichtjournalistische oder nichtmediale Öffentlichkeit überhaupt denkbar ist). Bei diesen Skandalen, so denke ich, handelt es sich nämlich eher um Fokussierungen des öffentlichen Interesses auf sehr punktuelle Ereignisse. Insofern es dabei schnell um einzelne Personen geht und Affekte geht, ist natürlich das Boulevard nicht weit, aber meines Erachtens geht es zunächst einmal erst um.. positive Rückkoppelung: ein Thema ist ein Thema, weil es ein Thema ist. Da alle sich damit beschäftigen wird auch unser Einzelbewusstsein, so sehr wir uns dagegen wehren oder uns in Blogs davor ekeln, auf diesen singulären Punkt gedrängt. Das ist der »Skandal«, die Ereignis-Singularität, darum beschäftigen auch wir uns mit diesem Thema, während wir fortlaufend betonen wie nichtswürdig es oder der Primärtext doch eigentlich seien.
Und damit auch ein Widerspruch zu der Aussage im Artikel diejenigen, die im »Mainstream« mitschwömmen bekämen ihre große Belohnung. Nein, die die nur mitlaufen, dringen doch gar nicht vor und sind schnell vergessen, die sind nur Untergrundrauschen für diese grellen Aufmerksamkeitsspitzen der Skandale. Und ja, auch wenn diese Skandale von außen schon einen fast mechanischen Ablauf zeigen, so ist es doch sehr nichtdeterministisch, wann oder wodurch einer getriggert werden kann und wann die Leute nur wieder mit der Achsel zucken. Wie metepsilonema schon anhand des etwas kontextualisierteren Zitats zeigt und wie mir das von Sloterdijk bekannt ist: die Einschränkungen, die Abfederungen, die Fragezeichen, die der Redner bzw. dessen Erzählstimme geltend macht, die werden völlig ignoriert, ja sogar, dass der Text sogar das völlige Gegenteil intendiert, stattdessen wird blind auf gewisse Schlüsselreize oder ‑wörter reagiert. Wann das jedoch passiert, halte ich nicht für kalkulierbar und ich denke auch nicht, vielleicht ist das naiv, dass Frau Lewitscharoff darauf spekulierte. Selbst Herr Sarrazin, der sein Geld damit machte und macht, schreibt sein letztes Buch ja dagegen; diejenigen, die im Auge dieses Aufmerksamkeitszyklon stehen, scheinen also alles in allem keine angenehme Erfahrung zu machen.
Bevor ich ganz ausfranse: Dass in den Medien Öffentlichkeit fokussiert wird, halte ich wesentlich für deren Funktion; es ist auch ein Gebot der Aufmerksamkeitsökonomie... und auch der Diskurse, die erst eine kritische Masse an Beteiligung und Stimmen benötigen! Wann das boulevardeske des Phänomens überwiegt ist im Einzelfall zu prüfen.. aber im vorliegenden Falls scheint es wohl so.
PS. »Inquisition« anstelle von »Dschihad« hätte ich in tatsächlich für passender bzw. unaufgeregter gehalten, aber das ist vielleicht auch nur mein privates Sprachempfinden.
Wollte man Boulevard an einfachen Merkmalen festmachen, so fallen mir besonders ein: Personalisierung, Emotionalisierung.
So ist es. Daher ist das Feuilleton bis hinein in die Literaturkritik längst Boulevard geworden. Es geht nämlich fast nur noch um Personalisierung und Emotionalisierung. Personalisierung, wenn Biographisches aus dem Autorenleben mit dem vorliegenden Text sozusagen abgeglichen wird. Das geschieht inzwischen in so ziemlich jeder Kritik, die sich jenseits der reinen Inhaltsangabe begibt. Das hat für den Rezensenten zwei Vorteile: Zum einen braucht er keine ästhetische Auseinandersetzung zu führen (die wesentlich komplexer sein müsste). Und zum anderen punktet er mit seinen vermeintlichen Kenntnissen über den Autor. Was der Leser oft genug nicht weiss: Es steht schon vieles in den sogenannten Waschzetteln; man kann das ohne grosse Mühe abkupfern. Wäre noch die Emotionalisierung. Sie äussert sich zumeist in überbordenden Lobeshymnen oder, inzwischen eher seltener, Verrissen. In beiden Fällen entäussert sich der Kritiker. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es auf Begründungen basiert. Genau dies fehlt mir jedoch zumeist.
Das ist nur die Literaturkritik (oder auch Kunst‑, Kino- und Musikkritik) – das andere Feuilleton habe ich noch gar nicht erwähnt. Über die sogenannten Debatten braucht man kein Wort zu verlieren – hier ist der Boulevard Programm (anders funktioniert die Aufmerksamkeitsökonomie gar nicht).
Boulevard bedeutet für mich auch, dass man den kleinsten gemeinsamen Nenner mit dem am Ende doch unbekannten Publikum versucht zu erreichen. Es bedeutet: kurz, knackig und in einfachen Sätzen. Ein Schriftsteller sagte neulich, ein Redakteur habe ihn für eine Reihe gebeten, ein Gemälde zu beschreiben. Bedingung: »In einem Satz.« Das klingt wie eine Fingerübung irgendwelcher Schreibschulseminaristen – da mag dies angehen. Aber was will man mit einer solchen Verstümperung erreichen? Schon klar, man will das Publikum nicht überfordern. Stattdessen unterfordert man es. Früher nannte man Unterforderung Langeweile. Daher muss dann bspw. die Emotionalisierungstrommel gerührt werden, usw. Ein Teufelskreis.
Ich merke es, wenn ich ein Buch gelesen habe und dann Kritiken dazu lese. Natürlich haben die Rezensenten nie »mein Buch« gelesen. Und es ist auch natürlich, dass sie andere Elemente wichtig und erwähnenswert finden als ich dies tue. Aber am Ende muss ich oft feststellen, dass die meisten sogenannten Rezensionen gar nicht erst versuchen, dem Text eine gewisse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Was ist Feuilleton noch ausser Kritik und Debatte? Wo sind Autoren wie Joseph Roth oder Alfred Kerr mit ihren manchmal kleinen Beobachtungssplittern? Das, was diese Leute geschrieben haben kann man – unabhängig davon, dass es inzwischen zeithistorische Qualitäten hat – auch noch heute, nach 80, 100 Jahren mit Vergnügen lesen; es ist einfach brillant geschrieben. Kennt irgendeiner Autoren des aktuellen Feuilleton dessen Texte jenseits vielleicht literaturwissenschaftlicher Erörterungen in sagen wir 50 Jahren mit Lust gelesen werden? (Einer fiele mir dann doch ein, aber ich nenne ihn erstmal nicht.)
Aber Sie, @Phorkyas haben vielleicht doch Recht: Ich (wir?) tun dem Feuilleton unrecht. Aber nur in einem Punkt: Das man die Boulevardisierung dort festmacht. Das ist nämlich falsch. Im Verhältnis zur politischen Berichterstattung (beispielsweise) mit ihren schrecklichen »Live-Tickern« und »Talkshows« ist das Feuilleton fast noch heilig, naja: selig zu nennen. In der politischen Berichterstattung gibt es nur noch Personalisierung, Emotionalisierung = Banalisierung. Jedes Problem wird reduziert auf das Niveau der »Bild«-Zeitung. Wenn in diesen unsäglichen Quasselrunden auch nur einer mal versucht, ein Problem rational anzugehen, kommt nach spätestens zwei Sätzen der Moderator und erklärt, dass man für diese Details jetzt keine Zeit habe oder, noch besser, dass dies zu detailliert in die Materie eindringe und dem Zuschauer nicht bekannt sei. Dabei versuchte der andere doch gerade, dieses Detail nahezubringen. Die Wahrheit ist: Es geht in der politischen Berichterstattung nicht mehr um Sachfragen – es geht nur darum, wann wer mit wem was wo gemacht oder nicht gemacht hat oder was mit wem wann geschieht. DAS ist das »Neue Blatt« nur mit der Aura des Seriösen. Aber dieses Seriöse ist, als wollte man Pommes frites mit Ketchup unter einer Servierglocke legen und sagen »Violà«. Und die Masse frisst es dann, als wenn es Pasta mit Trüffeln wäre?
.-.-.
Natürlich gibt es auch nichtmediale und nichtjournalistische Öffentlichkeiten. Sie dürften sogar die Mehrheit stellen und werden in Diskursen im allgemeinen unter dem Rubrum »Stammtisch« geführt (es kann auch am Arbeitsplatz sein, in der Kantine, im Fussballstadion, usw). Das Netz hat diese nichtmedialen Öffentlichkeiten, die ja stark lokal gebunden sind, für den virtuellen »Markt« geöffnet. Die Folgen sind bekannt.
-.-.-.-
Noch was zum Vorwurf, ich rede »dem Publikum nach dem Mund«. Das stimmt alleine dahingehend schon nicht, weil die Leserzahl meines Blogs konstant niedrig ist. Wenn jemand seinem Publikum nach dem Mund redet, dann bitte nennen Sie diese Protagonisten; die gibt es in der Bloggerszene wirklich reichlich. Ich würde sie mit dem eigentlich schon verbrannten, weil inflationär gebrauchten Wort der »Populisten« belegen. Sie sind mir im Zweifel noch ekliger und klebriger als die medialen Populisten.
Mein Text ist bewusst offen gehalten, um Kommentare anzuregen. Dies, weil man mir häufig vorgeworfen hatte, meine Texte seien zu umfassend; liessen keinen Widerspruch zu, es sei denn, der Kommentierende würde sich tatsächlich intensiv mit der Materie beschäftigen (was ja kaum geschieht, weil es entweder zeitlich nicht möglich ist und auch, weil es von den Leuten, die entsprechend replizieren könnten, diesen Blog nicht lesen). In einem »normalen« Aufsatz würde ich nie die Fälle Strauß, Handke, Walser, Sloterdijk mit denen von Mosebach und Lewitscharoff in einem Atemzug nennen, ohne sie nicht scharf von einander abzugrenzen. Hier geht das, weil es nur um die Illustration von bestimmten Mustern geht, mit denen Vorgänge skandalisiert werden. Und weil es die Möglichkeit gibt, in den Kommentaren dann doch Unterscheidungen festzumachen.
»Inquisition« statt »Dschihad« hätte ich in diesem Fall nie benutzt. Zum einen erzeugt der Begriff »Inquisition« bzw. »inquisitorisch« kaum noch den gewissen Schauder, den er einmal hatte. Das ist ganz einfach: Es gibt für uns, in unserem Sprachraum, keine »Inquisition« mehr. Beim »Dschihad« ist das etwas anderes – er ist als Drohpotential präsent. Es geht mir bei »Dschihad« eben darum, die nahezu religiöse Inbrunst der Skandalisierer auf den Punkt zu bringen, was mit dem fast schon antiquierten Begriff »Inquisition« nicht zwingend gelungen wäre, mit dem Terminus aus der Gegenwart aber sehr wohl.
@metepsilonema
Nein, die Rede ist nicht als Rollenprosa zu »retten«.
Lewitscharoff hat in der NZZ ihr Anliegen konkretisiert. Mal sehen, wie dies jetzt wahrgenommen wird...
Typisch NZZ! Da fragen die auch noch Leute zum Thema, die da tatsächlich Expertise haben und unterschiedlicher Meinung sind! Da nimmt nämlich nicht nur Lewitscharoff noch einmal Stellung, sondern auch Robert Spaemann und Bettina Schöne-Seifert, eine sehr renommierte Medizin-Ethikerin.
Einen guten Kommentar finde ich auch den Artikel von Oliver Tolmein in der Jungle World. (Die ich auch wegen ihres etwas anderen Feuilletons sehr empfehle. Aber Geduld für epidemisch auftretende marxistische Wahre-Lehre-Kleinkriege muss man haben.) http://jungle-world.com/artikel/2014/11/49507.html
Der Skandal erreicht das Wochenende, und das Flickwerk der Kommentare wird länger als ein Fan-Schal des 1.FC Bayern München.
Oder länger als eine korrekt aufgestellte Selbstanzeige von Uli Hoeneß.
Indes haben die Medizin-Ethiker übernommen. Ganz klar, Lewitscharoff hat sich mit den geltenden Normen angelegt. Sie ist desavouiert.
Sind die »Feinde der Literatur« zufrieden, wird man am Sonnabend ein teures Fläschchen aus dem Keller holen?!
Wer jetzt noch konzilliant und liebevoll auf den Kontroll-Betrieb aka Feuilleton blickt, hat vermutlich seine »Fläschchen« auch schon im Trocken...
Ergänzend noch zu den Begrifflichkeiten »Feuilleton« und »Boulevard«: Der erste der beiden Begriffe hat einen deutlichen inhaltlichen Schwerpunkt, während der zweite ausschließlich die Art und Weise der Verhandlung (Behandlung) egal welcher Thematiken meint. — Methodisch (und nur methodisch) kann das Feuilleton Boulevard werden.
»Feuilleton« ist eine Art Behauptung. Die muss erst einmal eingelöst werden. Buchbesprechungen und Rezensionen, Interviews mit Künstlern, usw. machen noch kein Feuilleton aus. Das liefert amazon oder auch der »stern«. »Boulevard ist primär, da stimme ich zu, eine Methode.
(@Keuschnig: Dass Sie sich in irgendeinem Artikel vereinfachend und unterkomplex anbiederten, wollte ich nichteinmal insinuieren, das kaeme mir regelrecht absurd vor. Deswegen: Sie scheren sich doch auch sonst nicht darum ob es jetzt zu dezailliert oder wissenschaftlich wird. – Genau weil Dschihad diese Kante noch hat, klingt da fuer mich schon etwas Krawalliges oder skandalistisches mit, etwas wie bei Sarrazin vielleicht fast. Bzw. faellt es ueber das Feuilleton ein aehnlich hartrs und absolutes Urteil wie dieses ueber Frau Lewitscharoff. Nuff said
etwas wie bei Sarrazin vielleicht fast
Jetzt greifen Sie selber in den Korb mit den Skorpionen. Und, zur Seite gefragt: Haben Sie was von Sarrazin gelesen? – Alle drei Bücher von ihm stehen hier zur Diskussion.
Vielleicht lege ich demnächst meine Texte zur Krawallprüfung vor?
@Gregor
Schon, aber wenn ich Feuilleton sage, dann ist das immer mit einer inhaltlichen Erwartung verbunden, die es beim Begriff Boulevard nicht gibt.
Umso schlimmer, wenn dann bei Boulevard bleibt. Oder?
Klar ist es schlimm, wenn das Feuilleton zum Boulevard wird oder sich nicht von ihm »methodisch« abzusetzen vermag (in Österreich könnten wir darüber gar nicht diskutieren).
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Die ZEIT schiebt noch eine Homestory hinterher, alles wird gut.
Die Kuh ist vom Eis, die Ehre des Landes ist wieder hergestellt. Alle reden, wie das Gesetz es will. Die wenigen Spielräume zwischen den Paragraphen reichen für die eigene Meinung. Ein rechtsphilosophischer Ödipus, dem man sich freiwillig auch ohne Referendum unterwirft. Ist das nicht wunderbar?!
Vor der freiwilligen Knechtschaft ist so oft gewarnt worden. Umsonst.
Das Gesetz ist das Gute, tönt es erneut aus allen Lautsprechern.
Das Gesetz ist die einzig wahre Sprache des Volkes.
@die_kalte_Sophie
Nicht so voreilig! Der Frieden ist nur vorläufig, Sobald neue Munition geliefert wird, baut man auch wieder die Zielscheibe S. L. auf. Die Flecken gehen nicht mehr weg. Sie werden nur zugedeckt.
@ Gregor
Na klar, semper haeret. Ein Eintrag ins Klassenbuch ist unvermeidlich. Ab jetzt kann S.L. zu Vergleichen herangezogen werden, man kann mit dem neuen Querverweis Drohungen aufbauen oder Relativierungen betreiben. Wieder eine »erzieherische Massnahme« mehr in der Munitionskiste. S.L. ist jetzt eine Themen-Waffe, falls wieder mal ein Promi öffentlich über Medizintechnik nachdenkt und nicht den Ethikrat vorher konsultiert. Und S.L. kann jetzt auch mit sich selbst bedroht werden... »Du willst doch nicht wieder einen Skandal wie damals verursachen, weißt Du noch?!«
Wie sagte neulich mein Hautarzt: Die Deutschen sind einfach zu dumm, sie sind sehr leicht zu erziehen!
Na ja, wenn ALLE dauernd ungezogen sind, ist das auch nicht gut fürs Gemeinwesen. Längst wird ja auch gelitten unter den ausufernden Spielchen aus dem Konformitätsdruck der „Individualisten“.
Und außerdem könnte Frau Lewitscharoff mittels ihrer Abweichung ja auch symbolisches Kapital gewonnen haben? Sie könnte die Erfahrung ihrer Abweichung in ihre Kunst einspeisen? Vielleicht hat sie gar Leser dazu gekriegt? (Any news ist good news.)
Immerhin kommt nach dem Skandal die Läuterung für alle.
Da könnten wir (und jetzt alle miteinander:) auch mal so rum großzügiger sein.
Ich fand die Home-Story nach all dem Gezeter doch erhellend.
@ Herr.Jedermann
Ihr zweiter Satz ist völlig schief gegangen, aber ich ahne, was sie meinen. Sprachspielchen als »individuelles Anwesenheits-Signal«. Guck mal, wer da spricht... Ist das ihre Ansicht über Literatur oder Journalismus?!
Ich bin der Meinung: die Journalisten sind Sprach-Spieler, aber für einen Künstler stellen sich mehrere Aufgaben gleichzeitig, und das zwingt ihn/sie zu einer »kreativen Lösung«, die sich auch sprachlich niederschlägt. Die kreative Leistung beschränkt sich nicht allein auf’s Worte-Finden. Journalismus, die Kunst, um den heißen Brei herum zu reden?
Gewiss: Konformität kommt nicht von selbst, Konformität braucht Druck. Konformität folgt dem Zwang. Aber geht das nicht ein bisschen zu weit mit dem Mitgefühl..., Diez, Matussek, Augstein, et alt. betreffend. Will sagen, ist das nicht »auf der anderen Seite« ehrenrührig? Warum die Konformisten nicht hassen, warum immer nur das elende Mitgefühl?!
Vielleicht ist Mitgefühl stärker als Hass? (Hass impliziert immer noch eine Emotion; vielleicht besser: Mitleid statt Mitgefühl.)
Das Feuilleton können wir uns doch längst selber schreiben. Warum fangen wir nicht damit an? Die sprachspielenden Journalisten sind doch nur Kartenzinker.
@ Gregor
Ja, einverstanden. Es braucht natürlich mehrere Sachverständige. Die Literatur kannst Du übernehmen. Ich bewerb mich für die klassische Musik. Dann brauchen wir noch Tanz, Architektur und Malerei. 5 Leute müssten reichen, oder?!
Empfehle an dieser Stelle die Rede von Insa Wilke zur Richtungswechsel der Literaturkritik, gerade erschienen im Boersenblatt, anlässlich des Alfred-Kerr-Preises. Welch glückliche Fügung, verspottet sie doch höchst ironisch die Debatten-(Bindestrich, Zögern, Räuspern!)-Kultur, und weist den besseren Weg. Das Signal könnte nicht punktgenauer kommen.
@kalte_Sophie
Da könnte ich Ihnen sogar zustimmen, Frau Lehrerin, zumindest was „die kreativen Lösungen“ anbelangt. (Aber müssten Sie das dann nicht auch mal bei sich selber anwenden?)
Und was die ganzen Leerformeln angeht, müssten dann wohl alle erst mal für eine Weile den Mund halten – das wäre radikal. Aber was ist dann mit dem laufenden Geschäft? Und wo auch das Schweigen „korrupt“ sein kann? (Etwa in der Nicht-Antwort auf Jelinek.)
Und, was die Bewegung vom Hass zum Mitgefühl angeht, folge ich lieber meinen eigenen Erfahrungen. Ich bin heute noch voller Hass auf alles mögliche und das kostet immer viel Fühlen – oft zuviel. Und hat er mich bisher kaum tatsächlich irgendwohin gebracht.
Und das Posieren der Wohnzimmer-Radikalen ist auch leer. Der Diez steckt auch Ihnen, kalte_Sophie! (Und wie oft rührt der Hass aus dem „Selbst“?)
Ja, also dann lieber Mitgefühl – auch wenn’s schwer fällt. Und manchmal weil es schwer fällt. Immerhin sind wir bisher alle noch vor dem Gesetz.
Eine interessante und zum Thema passende Rede von Insa Wilke.
[Die in #85 erwähnte.]
@ Herr.Jedermann
Ich habe den Hass ja vorgeschlagen, das haben Sie falsch verstanden. Warum sollte ich ein Gefühl ansprechen, dass ich selbst (Oh, Selbst!) abspalte...
Das wäre ganz schön Plemplem!
Was das laufende Geschäft anbelangt: mit dem Arbeitsplatz lässt sich auch eine Teilzeit-Stelle für den Henker begründen. Können Sie denn nicht auf den libertären Kulturbolschewismus verzichten?! Und wenn, nein: tut das ganz allgemein not, sagen wir aus geschichtlich induziertem Masochismus?! Müssen wir das unbedingt haben?!
Ne, ne, nee. Da können wir ruhig »einsparen«, um die volkswirtschaftliche Perspektive durchzuhalten. Wird die laufenden Betriebe zwar nicht stören, aber ich bin dafür. Ich weiß schon, was sie stört: ohnmächtig sein und trotzdem mit aller Macht DAGEGEN halten,
das ist unweise,
so unweise,
dass es falsch sein muss,
oder?