Verspätete Bemerkungen zu einer Pseudokritik über Stephan Thomes Buch »Grenzgang«
Stephan Thome hat einen Fehler gemacht. Er hatte sich in der Kulisse seines Heimatortes Biedenkopf für die Literaturbeilage der »Zeit« (Oktober 2009) fotografieren lassen (die Bilder sind nicht online). Eine Bildunterschrift lautet: »Stephan Thome lebt zwar gerade in Taiwan, geht hier aber im heimatlichen Biedenkopf für uns in die Hocke.« Jeder, der auch nur einen Funken Gefühl für Sprache hat, erkennt die verborgenen Invektiven. Zusammen mit der Rezension von Iris Radisch ergibt dies eine schwungvolle Denunziation des Romans »Grenzgang«.
Roberto Bolaño: 2666
Das Buch beginnt so harmlos. Drei Literaturprofessoren (Jean-Claude Pelletier aus Frankreich, Manuel Espinoza aus Spanien und Piero Morini aus Italien) und die englische Literaturdozentin Liz Norton (später heißen sie nur noch die Kritiker) entwickeln über die Jahre eine Affinität zum Werk des deutschen Schriftstellers Benno von Archimboldi. Anfangs ein Geheimtip, forcieren nicht zuletzt die vier die Rezeption Archimboldis in der Literaturwissenschaft; unter anderem auch durch Übersetzungen. Auf Kongressen, Colloquien und andere Zusammentreffen (die es offensichtlich reichlich gibt) lernen sie sich persönlich kennen und vertiefen nicht nur ihre fachlichen Kenntnisse. Durch Liz Norton kommt es zu allerlei Liebesverwicklungen; die Dame hat zunächst Pelletier als Geliebten, etwas später dann Espinoza, längere Zeit beide parallel und mindestens einmal auch gleichzeitig. Die körperlichen Gebresten Morinis (er ist im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen) scheinen da Barrieren zu bilden, wobei es am Ende dieses ersten Teils dann doch noch eine Überraschung gibt.
Neben diesen Interaktionen unter den vier Kritikern (Telefon‑, Mail‑, Gesprächsaustausch), dem gelegentlichen Beäugen, den Idiosynkrasien, den Verletzungen, den Merkwürdigkeiten, den Sexualstellungen und –frequenzen – alles in einer Mischung zwischen Protokoll und Reportage aufbereitet – geht es natürlich auch um Literatur. Das Geschriebene bleibt die einzige Referenz für die Adepten, denn Archimboldi ist so phantomhaft wie im realen Leben sonst nur Thomas Pynchon.
Als Benjamin Disraeli (getrieben von William Gladstone) im Jahr 1867 im sogenannten »Reform Act« im britischen Unterhaus eine Reform durchsetzte die eine soziale Öffnung des Wahlrechts bis weit in die Arbeiterklasse hinein vorsah (vom freien und allgemeinen Wahlrecht heutiger Zeit allerdings noch weit entfernt), war die Empörung im viktorianischen England insbesondere beim klassenbewussten Adel aber auch in der Publizistik gross. Ein »Sprung ins Dunkle« war noch fast die freundlichste Beschreibung dieses als ungeheuerlich eingestuften Vorgangs. »Arbeiter« wurde übersetzt mit »Masse« – und »Masse« und »Pöbel« galten synonym. Konnte man ernsthaft die Geschicke eines Landes in die Hände der Masse geben?
Das Unbehagen an der Masse hat die westliche Geistesgeschichte bis heute nicht ganz verlassen; es handelt sich um einen uralten Topos. Der Bogen kann von Platon über den Vormärz bis Heidegger und Elias Canetti gespannt werden – unterschiedlicher könnten die allesamt der Massenkultur gegenüber skeptischen bis ablehnenden Denker kaum sein (sieht man von den Denkern ab, die die Masse in ihrem Sinne formen bzw. manipulieren wollten).
Eine Zeitreise. Ein déjà-vu. Er ist wieder da. Man hält ein neues Buch in der Hand, »Meine Preise«. Natürlich weiss man – es ist ein nachgelassenes Werk. Raimund Fellinger ordnet es am Ende philologisch ein. Um 1980 (vielleicht 1981) herum hatte es Thomas Bernhard fertiggestellt; einige Seiten des Typoskripts sind faksimiliert. Für einen kurzen Nachmittag nur beginnt die Wüste wieder zu leben. Aber klar, Thomas Bernhard bleibt tot und bis auf weiteres sind keine Wunder zu erwarten.
Naturgemäss (!) möchte der Verlag eine Art Revival begründen. Ein neues Buch! Zwanzigster Todestag! Josef Winkler meinte neulich, dass kaum ein Schriftsteller die österreichische Literatur der 1960er bis 90er Jahre so beeinflusst habe wie Thomas Bernhard (zu den Epigonen seufzte er). Tatsächlich war Bernhard kurze Zeit auch der meistgespielte Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Und heute? Bernhard werde von den jungen Schriftstellern, so Winkler, kaum noch gelesen (ähnlich wie Handke, aber das ist ein anderes Thema).
Glaubwürdigkeit sei ihr Erfolgsgeheimnis, hat Elke Heidenreich mal stolz behauptet. Wenn es ihr damit wirklich ernst war, hätte sie mit ihrer Literatursendung Lesen! auch ohne das Rauswurf-Tamtam der letzten Tage am 1. Januar 2009 aufhören müssen. Denn im neuen Jahr wird aus der Moderatorin die Verlegerin Elke Heidenreich; unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House wird sie im Elke-Heidenreich-Verlag Bücher zum Thema Musik herausbringen. Wie wollte sie da noch unabhängig andere Bücher empfehlen?
In den 70er Jahren wurde im deutschen Fernsehen die Serie »Catweazle« ausgestrahlt. Ein Zauberer – eben jener Catweazle – wurde vom 11. Jahrhundert in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts »versetzt«. Die Komik bestand darin, dass er all die uns selbstverständlich gewordenen Errungenschaften der Technik (Strom, Telefon, Autos) anfangs für Teufelszeug hielt, versuchte mit Zaubersprüchen zu bannen und später dann zur Magie erklärte.
Marcel Reich-Ranicki muss sich am Samstag bei der Gala zum Deutschen Fernsehpreis wie Catweazle gefühlt haben. Was dort für preiswürdig befunden wurde, hat ihm vermutlich einen Kulturschock grösseren Ausmasses beschert. Wie es heisst, wollte der für sein Lebenswerk preiswürdig empfundene Reich-Ranicki irgendwann einfach gehen. Damit er nicht zu sehr leiden musste, zog man seine Preisvergabe vor. Der Rest ist bekannt.
1968 schreibt der damals 25jährige Schriftsteller Peter Handke über Marcel Reich-Ranicki (#1):
Reich-Ranicki kann man mit Einwänden nicht kommen: er kennt die alte List, sich dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann (und er ist nie fähig zu argumentieren, er äußert sich nur mit kräftigem rhetorischem Gestus). »Ich gestehe«, leitet er dann in der Regel seine Sätze ein. Nachdem er aber seine Verständnislosigkeit eingestanden hat, zieht er über das Nichtverstandene her.
Es ist selten, dass ich mit Iris Radisch in ästhetischen Fragen übereinstimme, aber in der neuesten Glosse (am Link erkennbar, dass es eine ist!) hat die den Nagel auf den Kopf getroffen: Wo ist sie nur geblieben, die gute alte Schreibhemmung?
Nein, ich bin natürlich nicht Koeppen oder Johnson, mitnichten. Aber im Kern hat Radisch recht:
Ach, was waren das für Zeiten, als die Verschriftlichung der Welt offenbar noch eine Schwierigkeit darstellte, mit der nicht jeder spielend fertig wurde.