»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

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Boua­lem San­sal: 2084 – Das En­de der Welt

Boualem Sansal: 2084 - Das Ende der Welt
Boua­lem San­sal:
2084 – Das En­de der Welt

Wenn Ge­sell­schaf­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – trotz ei­nes ex­or­bi­tan­ten Wohl­stands mit ei­nem dif­fu­sen Un­be­ha­gen der Zu­kunft ent­ge­gen se­hen, weil sie vor Um­brü­chen mit un­si­che­rem Aus­gang ste­hen, dann ist Zeit für dys­to­pi­sche Ro­ma­ne, die dann die eher harm­los da­her­kom­men­de (lei­der zu oft ba­na­le) Fan­ta­sy oder be­wusst tech­nik­af­fi­ne Sci­ence-Fic­tion-Se­lig­keit über­wuchern. Nicht zu­letzt in der ak­tu­el­len deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur gibt es ei­nen Trend zur Dys­to­pie, viel­leicht auch ein­fach nur, weil es im All­tag so gar kei­ne Aben­teu­er mehr zu er­le­ben gibt.

Bei Boua­lem San­sal sieht dies an­ders aus. Der 1950 in Al­ge­ri­en ge­bo­re­ne Au­tor fand erst spät zum li­te­ra­ri­schen Schrei­ben, avan­cier­te aber schnell zum be­kann­te­sten zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des und be­kam 2011 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels. Jetzt hat er mit »2084 – Das En­de der Welt« ei­nen Weltunter­gangsroman ge­schrie­ben. Das Buch war zu­nächst in Al­ge­ri­en nicht zu er­hal­ten und sorg­te für Dis­kus­sio­nen in Frank­reich. Seit Mai liegt es auch in ei­ner deut­schen Über­set­zung von Vin­cent von Wro­blew­sky vor.

Das deut­sche Feuil­le­ton be­fragt San­sal aus­gie­big, aber noch mehr möch­te man über sei­ne Ein­schät­zun­gen zur ak­tu­el­len po­li­ti­sche La­ge wis­sen, den Be­dro­hun­gen durch das, was man ge­mein­hin »Is­la­mis­mus« nennt. San­sal hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er be­zich­tigt be­son­ders die west­li­che Lin­ke als na­iv im Um­gang mit dem po­li­ti­schen Is­lam, was die­se zum An­lass nimmt, ihn in ei­ne neu­rech­te Ecke zu stel­len; das in­zwi­schen be­kann­te Ge­sell­schafts­spiel. Die Er­fah­run­gen, die San­sal in Al­ge­ri­en macht und ge­macht hat, wer­den hier­bei ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Die Po­li­ti­sie­rung ei­nes sol­chen Ro­mans hat al­ler­dings meist zur Fol­ge, dass die Dis­kus­si­on we­ni­ger um das Buch als um die po­li­ti­schen The­sen des Au­tors kreist. Dies er­zeugt Er­war­tungs­hal­tun­gen, die je nach Ori­en­tie­rung ent­täuscht oder be­stä­tigt wer­den. Da­bei tritt dann die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ei­nes sol­chen Bu­ches all­zu oft in den Hin­ter­grund.

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Mi­chel Hou­el­le­becq: Un­ter­wer­fung

Michel Houellebecq: Unterwerfung
Mi­chel Hou­el­le­becq: Un­ter­wer­fung

Mi­chel Hou­el­le­becqs Ro­man »Unter­werfung« wur­de nicht zu­letzt we­gen der wenn auch län­ger zurück­liegenden kri­ti­schen, zum Teil durch­aus be­leidigenden Äu­ße­run­gen des Au­tors zum Is­lam arg­wöh­nisch un­ter­sucht. Die Ko­in­zi­denz zwi­schen der Erstver­öffentlichung und den schreck­li­chen Mor­den von Pa­ris liegt na­tür­lich au­ßer­halb des Ein­flus­ses des Au­tors. Was ei­ni­geR Hy­ste­ri­ker nicht da­von ab­hält, Hou­el­le­becq von nun an ei­ne Art Mit­ver­ant­wor­tung für das Ver­gan­ge­ne bzw. so­gar das Zu­künf­ti­ge zu­zu­wei­sen. Da­bei ist spä­te­stens seit Rush­dies »Sa­ta­ni­schen Ver­sen« klar, dass Ter­ro­ri­sten, Po­li­ti­ker und die mei­sten Me­di­en­ver­tre­ter bei al­len Dif­fe­ren­zen in ei­nem Punkt ei­ne Gemeinsam­keit ha­ben: Sie brau­chen das Werk bzw. die Re­ak­tio­nen dar­auf, die sie skandali­sieren und in­stru­men­ta­li­sie­ren nur als An­lass; ei­ne Lek­tü­re ist dann doch zu auf­wen­dig. Das hat in er­schüt­tern­der Wei­se die Dis­kus­si­on in Frank­reich ge­zeigt, in der Hou­el­le­becq die Ver­brei­tung rechts­extre­mer The­sen und so­gar Ras­sis­mus vor­ge­wor­fen wur­de.

Auch in Deutsch­land über­schlu­gen sich die Re­zen­sen­ten be­reits vor Er­schei­nen des Bu­ches mit ih­ren Ur­tei­len. Da­bei wur­de auch hier mit Akri­bie auf ei­ne po­ten­ti­el­le Is­lam­feind­lich­keit des Tex­tes bzw. des Au­tors ge­ach­tet, was aber­mals zeigt, dass das Feuil­le­ton zu­neh­mend die Rol­le des po­li­ti­schen An­stands­wau­waus wahr­neh­men möch­te, weil sich da­mit am mei­sten Di­stink­ti­on er­ar­bei­ten lässt. Noch selt­sa­mer als die­ser Ge­sin­nungs- und Re­zen­si­ons­wett­lauf mu­te­te die zu­wei­len auf­kom­men­de (ge­spiel­te?) Nai­vi­tät an, die fragt, war­um ei­gent­lich al­le jetzt plötz­lich ein li­te­ra­risch der­art mit­tel­mä­ssi­ges Buch be­spre­chen. Da­bei spielt es kei­ne Rol­le, dass das Ur­teil der li­te­ra­ri­schen Me­dio­kri­tät fast im­mer nur be­haup­tet wird; hand­fe­ste Be­le­ge feh­len zu­meist.

Ver­stopf­te Wasch­becken und Feh­ler in der Steu­er­erklä­rung

Der Plot des Ro­mans ist schnell er­zählt. Der Le­ser wird trans­for­miert in das Früh­jahr des Jah­res 2022. Fran­çois, ein mü­der fran­zö­si­scher Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor an der Pa­ri­ser Sor­bon­ne, bald 44 Jah­re alt, der über Jo­r­is-Karl Huys­mans dis­ser­tiert hat­te, weiß nicht mehr so recht, was er tun soll: »Mein In­ter­es­se für das Gei­stes­le­ben war sehr ab­ge­flaut, mei­ne ge­sell­schaft­li­che Exi­stenz war nicht zu­frie­den­stel­len­der als mei­ne kör­per­li­che, die ei­ne wie die an­de­re war ei­ne Ab­fol­ge klei­ner Wid­rig­kei­ten – ein ver­stopf­tes Wasch­becken, ei­ne nicht funk­tio­nie­ren­de In­ter­net­ver­bin­dung, Straf­punk­te für schlech­tes Fah­ren, be­trü­ge­ri­sche Putz­frau­en, Feh­ler in der Steu­er­erklä­rung -, die mich oh­ne Un­ter­lass quäl­ten und nie zur Ru­he kom­men lie­ssen.« Sei­ne Lie­bes­af­fä­ren sind im Semester­rhythmus ge­tak­tet. Nur mit der halb so al­ten My­ri­am ver­bin­det ihn mehr.

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Sa­ti­re. Oder?

Ich kann Lutz Bach­manns Fo­to nur als Sa­ti­re wahr­neh­men, ich muss­te so­gar laut­hals la­chen, weil es den Wahn­sinn der Per­son Hit­ler re­la­tiv sub­til sicht­bar macht (die schlech­te Ra­sur um den Zwei­fin­ger­bart, der Haar­schei­tel, die ver­dreh­ten Au­gen, die bei­na­he krampf­ar­tig star­ren Zü­ge) und ihn da­mit vom Po­dest der Füh­rung, der Au­to­ri­tät, holt (die er für vie­le nicht mehr, aber für ei­ni­ge noch hat): Sie ist kei­ne und er ei­ne lä­cher­li­che Fi­gur. – Das Bei­spiel und sei­ne Auf­nah­me in den Me­di­en – von rei­ße­risch bis eher un­er­war­tet1 – zeigt, dass der kul­tu­rel­le Kon­text, die Wahr­neh­mung und in­di­vi­du­el­le Be­reit­schaft hier si­cher­lich ei­ne Rol­le spie­len, Sa­ti­re muss nicht (im­mer) ein­deu­tig sein, man kann viel­leicht so­gar sa­gen: Gu­te Sa­ti­re ge­wahrt sich ei­ne ge­wis­se Of­fen­heit und ver­hin­dert da­durch Platt­heit: Man muss sich ei­nen Mo­ment lang an­stren­gen, muss über­le­gen.

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  1. dasselbe Foto übrigens im Spiegel  

Staat und Re­li­gi­on

Den Her­aus­for­de­run­gen die »der Is­lam« in Form un­ter­schied­li­cher Grup­pie­run­gen und Rich­tun­gen für die eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten dar­stellt, wird u.a. mit spe­zi­el­len Ge­set­zen (Ver­schleie­rungs­ver­bo­te, No­vel­lie­rung des öster­rei­chi­schen Is­lam­ge­set­zes) zu be­geg­nen ver­sucht. Zeit­gleich tre­ten durch die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on, die sich is­la­mi­scher Staat nennt, ver­schüt­te­te oder un­zu­rei­chend be­ant­wor­te­te Fra­gen wie­der deut­lich her­vor: Je­ne nach der Tren­nung von Is­lam und Is­la­mis­mus, dem Ver­hält­nis zur und der Recht­fer­ti­gung von Ge­walt oder die Po­li­ti­sie­rung von Re­li­gi­on: Das Ver­hält­nis der mus­li­mi­schen Gemein­schaften zu den eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten scheint un­ter Zeit­druck for­mu­liert wer­den zu müs­sen, ob­wohl die ent­spre­chen­den Dis­kus­sio­nen min­de­stens 15 Jah­re alt sind. Den bis­he­ri­gen Be­mü­hun­gen bei­der Sei­ten steht die Flucht zahl­rei­cher jun­ger Men­schen in die Ar­me die­ser Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on, ge­gen­über: Die eu­ro­päi­schen Ge­sell­schaf­ten schei­nen über we­nig Bin­dungs­kraft zu ver­fü­gen und das Le­ben in Eu­ro­pa für ei­nen Teil der Mus­li­me we­nig er­fül­lend zu sein.

Die­ser Es­say ist auch ei­ne Re­plik auf zwei Tex­te von Ni­ko Alm1; er spürt dem Ver­hält­nis von Staat und Re­li­gi­on nach und ver­sucht ei­ne ar­gu­men­ta­tiv-prag­ma­ti­sche Ant­wort, oh­ne zu­erst ein be­stehen­des Kon­zept her­an­zu­zie­hen: So soll ver­sucht wer­den, der gegen­wärtigen Si­tua­ti­on, mit mög­lichst we­nig Vor­ein­ge­nom­men­heit, Rech­nung zu tra­gen. Dies soll in den Kon­text der bis­he­ri­gen Pra­xis in Öster­reich ge­stellt und das Is­lam­ge­setz, des­sen Be­gut­ach­tungs­frist so­eben en­de­te, in prin­zi­pi­el­ler Hin­sicht dis­ku­tiert wer­den. — Da­vor wird der Be­griff Re­li­gi­on, sein Ver­hält­nis zur Po­li­tik, den Men­schen im All­ge­mei­nen und den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten im Be­son­de­ren um­ris­sen. — Wenn von »dem Is­lam« oder »dem Chri­sten­tum« (und an­de­ren Re­li­gio­nen) ge­spro­chen wird, dann ist da­mit kei­ne ho­mo­ge­ne Tra­di­ti­on ge­meint, son­dern zahl­rei­che, die die ei­ne oder an­de­re Cha­rak­te­ri­stik tei­len. — Die fol­gen­den Be­trach­tun­gen sind an et­li­chen Stel­len auf die gro­ßen mo­no­the­isti­schen Re­li­gio­nen hin ver­engt.

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  1. Die Texte: Das Islamgesetz, der Entwurf zum Islamgesetz und diese Diskussion auf Twitter.  

Der Is­la­mi­sche Staat: I. Ei­ne un­be­ant­wor­te­te Fra­ge.

In die­sem und den fol­gen­den Tex­ten sol­len ei­ni­ge Ge­dan­ken und As­so­zia­tio­nen die mit dem aus­ge­ru­fe­nen Ka­li­fat (dem Is­la­mi­schen Staat) im wei­te­sten Sinn in Zu­sam­men­hang ste­hen, for­mu­liert wer­den, mehr als The­sen und Aus­gangs­punk­te all­fäl­li­ger Dis­kus­sio­nen, denn als ab­ge­schlos­se­ne Über­le­gun­gen.

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Is­lam-Fun­da­men­ta­lis­mus, Re-Is­la­mi­sie­rung und »Is­la­mis­mus«

Es­say zur Ge­schich­te is­la­mi­scher Re­form­be­we­gun­gen

1. Is­la­mi­sche Re­form­be­we­gun­gen

Is­lam-Fun­da­men­ta­lis­mus, Re-Is­la­mi­sie­rung und »Is­la­mis­mus« sind Schlag­wor­te für is­la­mi­sche Re­form­be­we­gun­gen. »Re­form« meint in den Of­fen­ba­rungs­re­li­gio­nen (Par­sis­mus, Ju­den­tum, Chri­sten­tum, Is­lam) die Rück­kehr zur »Rein­form« der re­li­giö­sen Leh­re auf Grund­la­ge der ge­of­fen­bar­ten Tex­te. Es han­delt sich al­so stets um ei­ne »Schrift­fröm­mig­keit«, wie auch im re­for­ma­to­ri­schen Chri­sten­tum die Rück­kehr zur Schrift als »Bi­bel­treue« ver­stan­den wird.

Im Ge­gen­satz zum Chri­sten­tum kennt der Is­lam kei­ne gro­ße Re­form­be­we­gung wie die lu­the­ri­sche, cal­vi­ni­sti­sche oder zwing­lia­ni­sche Re­for­ma­ti­on. Da­ge­gen gibt es von al­ters her klei­ne­re Strö­mun­gen und »Sek­ten« (im Sin­ne von is­la­mi­schen Schu­len), die zu­rück wol­len zu ei­nem »rei­nen Is­lam« als Ge­gen­bild des of­fi­zi­el­len, des »Ka­li­fat-Is­lams«, der als »ver­derbt« ab­ge­lehnt wird. Kenn­zeich­nend für die­se Sek­tie­rer ist die Ver­mi­schung von Re­li­gi­on und re­li­giö­ser Kul­tur mit po­li­ti­schen Zie­len (was sie wie­der­um von der ursprüng­lichen christ­li­chen Re­for­ma­ti­on un­ter­schei­det): is­la­mi­sche Re­form­be­we­gun­gen mün­den von je­her in po­li­ti­schen Ak­ti­vis­mus.

An­stel­le des Be­griffs Re­form­be­we­gung spricht die west­li­che Welt – al­ler­dings in zu­neh­mend ideo­lo­gi­sie­ren­der Wei­se – von »Is­la­mis­mus« oder ei­ner »Funda­mental­bewegung«, u.a. um po­si­ti­ve Kon­no­ta­tio­nen, die im We­sten mit dem Wort »Re­form« ver­bun­den sind, gar nicht erst auf­kom­men zu las­sen.

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Der Mes­si­as der Mit­tel­schicht

Ge­dan­ken zu Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« und die Dis­kus­si­on hier­über

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab
Thi­lo Sar­ra­zin:
Deutsch­land schafft sich ab

I. Pro­log

Auf dem Hö­he­punkt der Wirt­schafts­kri­se, als der Steu­er­zah­ler (und nur der!) von der po­li­ti­schen Klas­se, die den Staat re­prä­sen­tiert, zum Bür­gen für des­sen selbst­ge­mach­te und selbst­ge­dul­de­te Feh­ler her­an­ge­zo­gen wur­de, ent­warf der Phi­lo­soph Pe­ter Slo­ter­di­jk in ei­nem sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ar­ti­kel ei­ne Ge­gen­welt: »Die ein­zi­ge Macht, die der Plün­de­rung der Zu­kunft Wi­der­stand lei­sten könn­te, hät­te ei­ne so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Neu­erfin­dung der ‘Ge­sell­schaft’ zur Vor­aus­set­zung. Sie wä­re nicht we­ni­ger als ei­ne Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand.« Ei­ne Ge­sell­schaft, in der fast aus­schließ­lich der flucht­un­fä­hi­ge Ein­kom­men­steu­er­zah­ler den Staat und da­mit des­sen Aus­ga­ben er­wirt­schaf­tet, wäh­rend die Ka­ste der Ex­trem­ver­die­ner sich mit Hil­fe der Po­li­tik längst aus der so­li­da­ri­schen Ver­ant­wor­tung ent­fernt hat und die Un­ter­schicht zu Trans­fer­emp­fän­gern ent­mün­digt wer­den, be­schreibt Slo­ter­di­jk mit dra­sti­schen Wor­ten: »So ist aus der selbsti­schen und di­rek­ten Aus­beu­tung feu­da­ler Zei­ten in der Mo­der­ne ei­ne bei­na­he selbst­lo­se, recht­lich ge­zü­gel­te Staats-Klep­to­kra­tie ge­wor­den. Ein mo­der­ner Fi­nanz­mi­ni­ster ist ein Ro­bin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung ge­lei­stet hat. Das Neh­men mit gu­tem Ge­wis­sen, das die öf­fent­li­che Hand be­zeich­net, recht­fer­tigt sich, ide­al­ty­pisch wie prag­ma­tisch, durch sei­ne un­ver­kenn­ba­re Nütz­lich­keit für den so­zia­len Frie­den – um von den üb­ri­gen Lei­stun­gen des neh­mend-ge­ben­den Staats nicht zu re­den.«

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