Den Herausforderungen die »der Islam« in Form unterschiedlicher Gruppierungen und Richtungen für die europäischen Gesellschaften darstellt, wird u.a. mit speziellen Gesetzen (Verschleierungsverbote, Novellierung des österreichischen Islamgesetzes) zu begegnen versucht. Zeitgleich treten durch die Terrororganisation, die sich islamischer Staat nennt, verschüttete oder unzureichend beantwortete Fragen wieder deutlich hervor: Jene nach der Trennung von Islam und Islamismus, dem Verhältnis zur und der Rechtfertigung von Gewalt oder die Politisierung von Religion: Das Verhältnis der muslimischen Gemeinschaften zu den europäischen Gesellschaften scheint unter Zeitdruck formuliert werden zu müssen, obwohl die entsprechenden Diskussionen mindestens 15 Jahre alt sind. Den bisherigen Bemühungen beider Seiten steht die Flucht zahlreicher junger Menschen in die Arme dieser Terrororganisation, gegenüber: Die europäischen Gesellschaften scheinen über wenig Bindungskraft zu verfügen und das Leben in Europa für einen Teil der Muslime wenig erfüllend zu sein.
Dieser Essay ist auch eine Replik auf zwei Texte von Niko Alm1; er spürt dem Verhältnis von Staat und Religion nach und versucht eine argumentativ-pragmatische Antwort, ohne zuerst ein bestehendes Konzept heranzuziehen: So soll versucht werden, der gegenwärtigen Situation, mit möglichst wenig Voreingenommenheit, Rechnung zu tragen. Dies soll in den Kontext der bisherigen Praxis in Österreich gestellt und das Islamgesetz, dessen Begutachtungsfrist soeben endete, in prinzipieller Hinsicht diskutiert werden. — Davor wird der Begriff Religion, sein Verhältnis zur Politik, den Menschen im Allgemeinen und den westlichen Gesellschaften im Besonderen umrissen. — Wenn von »dem Islam« oder »dem Christentum« (und anderen Religionen) gesprochen wird, dann ist damit keine homogene Tradition gemeint, sondern zahlreiche, die die eine oder andere Charakteristik teilen. — Die folgenden Betrachtungen sind an etlichen Stellen auf die großen monotheistischen Religionen hin verengt.
Der Mensch als metaphysisch bedürftiges Wesen
Religionen finden sich in allen menschlichen Gesellschaften zu allen Zeiten2: Ihre Ausprägung ist vielgestaltig, sie berühren und umfassen unterschiedliche Bereiche, wie Gesellschaft, Recht, Ethik, Ästhetik, Architektur, bildende Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und Politik.
Alle Religionen haben gemeinsam, dass sie eine (mehr oder weniger) verbindliche Deutung der Welt darstellen, mitunter etwas über die ersten und die letzten Dinge aussagen (Eschatologie) und vor allem: Immer auf etwas jenseits der Welt verweisen oder zumindest das gegenwärtige, unmittelbar erscheinende Dasein, nicht als das Entscheidende verstehen3.
In außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen (Gebet, Meditation, Ekstase) traten Menschen in Kontakt mit Göttern und Geistern, sie überschritten die Grenzen ihres Ich-Bewusstseins oder erfuhren die Einheit der Welt: Komplexe Mythen, Vorstellungen von Schöpfung, von Werden, von Diesseits und Jenseits, von Göttern, Zwischenwesen, auch ohne persönlichem Bezug, wurden entwickelt.
Die beinahe unheimliche Vielfalt und Präsenz (dieser, ja: Aufwand!) in der menschlichen Geschichte einerseits und die auch wissenschaftlich untersuchten Bewusstseinszustände (etwa in Meditation versunkener Personen), andererseits, weisen auf Religion als ein menschliches Bedürfnis hin und auf eine Verankerung im menschlichen Erleben (Religiosität).
Das ist kein Urteil, macht aber verständlich, warum sich Religionen als zäh erwiesen haben und hat womöglich damit zu tun, warum heute, zumindest in Teilen der Welt, wieder eine »Respiritualisierung« zu beobachten ist (Religion hilft womöglich mit den Zumutungen der spätmodernen Welt »besser« zurechtzukommen, oder anders: Religion ist eine Lösung, die gerne angenommen wird).
Das ist noch nicht alles: Religionen gründen nicht nur in einer menschlichen Bedürftigkeit – und werden darüber zum Bedürfnis –, sondern stellen gleichzeitig eine Lösung dar: Diese Bedürftigkeit kann man als metaphysisch (und auch: existenziell) bezeichnen: Der Mensch tritt, als ein unvollkommenes Wesen, das sich reflektierend über das Sein erhebt, also aus dem Rahmen der Natur, der für alle anderen Lebewesen gilt und der mit dieser, sich nun noch deutlicher zeigenden Unvollkommenheit (auch: Endlichkeit) konfrontiert wird: Einem Mangel an Erklärung, an Tröstung (Empathie) und an Deutung. Er fragt, er muss fragen, er ist verunsichert, wenn er sie in Bezug zu seinem Handeln, zu Sinn und Bedeutung setzt: Woher kommt die Welt? Zu welchem Ende existiert sie? Wozu all das Leid? — Der Mensch kann die Welt nicht einfach hinnehmen, sie erscheint seltsam, mehrdeutig, rätselhaft.
Niko Alm stellt die Frage ob »es einen speziellen Grund [gibt], warum wir Weltanschauungen [...] tolerieren sollen, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich gegen Empirie und Logik immunisiert haben?« Diese Wahl haben wir (wer ist eigentlich »wir«?) nicht: Religionen dies vorzuhalten, heißt vielleicht wenig von der Natur des Menschen (auch psychologisch) verstanden zu haben, abgesehen davon, dass der Mensch nicht nur rational zu bestimmen ist. Das bedeutet nicht, dass der Umkehrschluss richtig und alle Aufklärung falsch wäre: Den Religionen sind Schranken zu setzen, gerade zur Politik hin.
Man kann Religionen auch als eine Begründung von Menschlichkeit lesen; eine von Tröstung, aber auch von Täuschung; eine von autoritativer Vermittlung, von Machtausübung und Kontrolle. Wenig ist so ambivalent wie die Religion, man bedenke ihre Wechselwirkung mit allen Richtungen von Kunst und Kultur (aber auch deren Instrumentalisierung). Den Kampf gegen die Religionen kann man nur gewinnen, wenn man ein Surrogat schafft oder die Menschen betäubt; letzteres wäre in unserer gegenwärtigen, konsum-kapitalistischen Welt sogar möglich (ob das Opium nun für das Volk oder des Volkes ist, auch ob es überhaupt eines ist, dies alles kann nicht ohne eine Betrachtung der menschlichen Natur und der Situation des Menschen in der Welt, seines »Geworfenseins«, verstanden werden).
Die Antwort der modernen Wissenschaft, so sie eine solche überhaupt sein kann, ist von einer anderen Qualität; sie scheint die Grundproblematik in mancher Hinsicht noch zu verstärken, sie kann den Religionen ihren Anspruch auf Welterklärung nehmen, jedoch nicht über die Schranken der Erkenntnistheorie hinaus: Eine Lösung der metaphysischen Grundproblematik, kann durch die Wissenschaft nicht geleistet werden.
Manche Menschen allerdings scheinen von diesen metaphysischen Fragen wenig berührt zu werden, keinerlei Empfindung für sie zu haben, wobei es kaum vorstellbar ist, dass ein längeres Menschenleben, nicht zumindest die eine oder andere Situation kennt, die an ebendiese Probleme rührt oder sie hervor holt. Darüber hinaus gibt es Argumente, die religiösen Erklärungen noch immer Raum gegenüber der Wissenschaft lassen, wie das, des unbewegten Bewegers von Aristoteles, auch wenn dieser Raum nicht größer wird.
Religion kann man neutral, außerhalb ihres Wahrheitsanspruchs, als einen Bestandteil menschlicher Kultur auffassen: Religionen sind menschliche Kultur und gewiss nicht die einzige Lösung der metaphysischen Grundproblematik des menschlichen Daseins oder der einzig denkbare Weg.
Politik, Religion und Demokratie
Religionen erfüllten (und tun es teilweise noch) wichtige Funktion für die Konstituierung einer Gemeinschaft oder Gesellschaft (in der frühen Entwicklung der menschlichen Geschichte war das wohl immer der Fall): Dadurch, dass sie eine Lösung menschlicher Grundprobleme anbietet, wirkt sie anziehend und schafft Gemeinschaft; sie stabilisiert darüber hinaus diese Gemeinschaft durch Riten und Kult (Heirat, Pubertät, Tod, Erinnerung, Beschwörung übernatürlicher Hilfe für die Jagd, den Kampf, den Ackerbau, Heilung und Therapie [»Seelsorge«]); die Plausibilität von Religion (mythische Welterklärung), ihre für das Individuum wichtige (psychologische) Lösungs- und Befreiungskraft und das menschliche Erleben (Religiosität, Ekstase, ...) legitimieren religiöse Herrschaft und setzen diese zugleich in ein ambivalentes Verhältnis zur weltlichen (z.B. den Ansprüchen erfolgreicher Kaufleute, begabter Heerführer, geschickter Verhandler oder mutiger Krieger). Umgekehrt sind beide aufeinander angewiesen: Diejenigen die Kulte organisieren, die Hilfe der Götter erflehen oder die Zukunft vorhersagen, verteidigen nicht die Gemeinschaft, sie kämpfen nicht, sie wirtschaften nicht und müssen erhalten werden und dies auch rechtfertigen. Die weltliche Macht braucht die Religion und diese ist umgekehrt auf deren Schutz und Hilfe angewiesen. Erst in den Gesellschaften in denen die Erklärungskraft der Religion abnahm (Wissenschaft), diese korrupt wurde oder ihr andere Fehlentwicklungen angelastet werden konnten und sie folglich die Individuen nicht mehr zu binden vermochte, konnte sich die weltliche Macht (vollständig) von ihr emanzipieren.
Der Vorteil weltlicher Macht ist, dass sie (eher) zur Disposition steht, als religiöse vermittelte, dass sie transparenter ist, zugänglicher und angreifbarer und nicht außerweltlich, autoritativ und einem beschränkten Personenkreis einsichtig. Religiös empfundene und von entsprechenden Autoritäten sanktionierte Gebote oder Pflichten erhalten dadurch einen rigorosen Charakter: Sie sind nicht in Frage zu stellen und auszuführen; menschliche Einsicht und Erkenntnis tun nichts zur Sache. — In Acht nehmen sollte man sich daher vor jeder Art von quasireligiöser Politik und alle Diktaturen waren immer darauf bedacht den Befehlen ihrer Führer durch Personenkult genau einen solchen Charakter zu geben.
Religiös vermittelte Gesetze sind daher nicht diskursiv, ihre Grundlagen stehen nicht zur Diskussion (nicht einmal formal zu Disposition, sie sind dem Argument, jenem unentbehrlichen Bestandteil öffentlicher Auseinandersetzung nicht zugänglich), sofern sie nicht historisierend betrachtet werden; Grundlagen wie Schriften wurden oft offenbart, sind heilig; sie können bloß interpretiert, aber nicht weiterentwickelt werden, sofern diese Weiterentwicklungen wieder mit den Texten in Konflikt geraten; die Texte und Lösungen entstammen meist einer Zeit, die ganz anderen Bedingungen, Problemen und Entwicklungen (Technik) unterlag. — Verfassungen kann man vielleicht als ähnlich grundlegend betrachten, wie religiöse Schriften, sie können allerdings mit entsprechenden Mehrheiten verändert werden (die Differenz zwischen ewig [göttlich] und endlich [menschlich] ist augenscheinlich).
Darüber hinaus ist die Verbindung autoritativ vermittelter Lehren mit weltlicher Macht verlockend: Auch Religionen wie das Christentum, die in ihrem Kern (Christus) eigentlich gewaltlose Haltungen beinhalten und historisch gesehen lange Zeit als eine Art Sekte verfolgt wurden, sind weder vor kriegerischer, noch vor inquisitorischer Gewalt zurückgeschreckt (ganz im Gegenteil). — Besser stehen da asiatische Religionen wie der Buddhismus oder der Jainismus da.
Deshalb kann sich ein säkularer Staat (und eigentlich jeder andere auch) zunächst weder gegenüber Weltanschauungen noch Religionen neutral verhalten; er tut das erst, wenn sie im Einklang mit der Verfassung und den Gesetzen stehen (oder nur in einem privaten Rahmen geäußert werden): Darüber wird die Lösung der metaphysischen Grundproblematik gleichsam privatisiert, zu einer individuellen Angelegenheit und damit relativ und zugleich wieder rückgängig gemacht, man könnte sagen: in Schwebe gebracht. Die Ambivalenz wird nicht aufgelöst; am ehesten noch dort wo eine Gemeinschaft eine gemeinsame Lösung findet4.
Das bedeutet nicht, dass sich Personen, die religiöse Ämter ausüben oder Predigten halten, nicht zur Tagespolitik äußern dürften; sie dürfen jedoch keine religiöse Begründung von Politik liefern und keine politischen Ämter bekleiden. Wenn Werte, christliche etwa, in der Politik Erwähnung finden, dann nur weil sie auch nicht-religiös begründet werden können (sie stammen dann aus einer bestimmten Tradition, aber nicht mehr und können diskutiert und auch verworfen werden).
Kurzum: Religion erlaubt einen Zugriff auf Menschen über autoritative Vermittlung weniger Personen; sie sind exklusiv, nicht inklusiv, selbst dort wo jeder Gläubige den Kontakt zu Gott direkt sucht, haben Prediger und Gelehrte großen Einfluss, weil sie Texte auslegen und Gebote formulieren. Eine Weiterentwicklung oder Diskussion religiös vermittelter Gesetze oder Lehren, wie das der politische Alltag benötigt, ist kaum möglich. Dazu kommt noch, dass die Zugehörigkeit und nicht das Menschsein selbst (Gläubige und Ungläubige) über die Bewertung von Menschen, deren Rechte und damit die Gerechtigkeit selbst definiert. Eine Demokratie kann religiös begründete Politik nicht tolerieren ohne darüber zur Staffage zu werden. Die Konsequenz ist die Privatisierung der Religion, sie muss weltliches Recht und weltliche Gesetze achten: Darüber hinaus kann jeder glauben oder nicht glauben, ohne dass das negative Auswirkung für ihn hätte.
Die europäische Gesellschaften in der späten Moderne
Europäische, demokratische Gesellschaften verlegen, durch die Form ihrer politischen Organisation, die Lösung der metaphysischen Grundproblematik ins Private, sie wird zu einer Frage des Individuums, nicht des Kollektivs; dergestalt organisierte Gesellschaften können aus gemeinschaftlichen Lösungen keine Bindungskräfte mehr gewinnen, sie akzeptieren wissenschaftliche Erklärungen und nehmen die Welt darüber hinaus als solche hin. In solchen Gesellschaften können Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund gemeinsam leben, sofern sie bereit sind ihre metaphysischen Erklärungen und Lösungen (etwa Religionen) zu relativieren (und in den Rahmen von Verfassung und Gesetzen einzufügen). Sofern sie erfolgreich in diesen Gesellschaften leben, werden sie ihnen treu bleiben und sich loyal zu ihnen verhalten; ist das nicht mehr der Fall und erbringen sie – zugespitzt formuliert – keinen gesellschaftlichen Nutzen mehr (eventuell treten noch andere Ursachen hinzu, wie die Erfahrung von Ablehnung, ja Feindschaft), wird die Loyalität schwinden und sie wird durch die Vielfältigkeit der Gesellschaft noch in ihrem Schwund verstärkt werden. Die Instabilitäten, die durch Zustände von Ambivalenz (etwa einem weitgehenden Zusammenbruch der bisherigen Lebensverhältnisse) auftreten, können nicht mehr durch gesellschaftlich vermittelte metaphysische Systeme aufgefangen werden (moderne demokratische Gesellschaften sind Funktions- oder Nutzgesellschaften, also wesenhaft ökonomisch bestimmt, jedenfalls ist der persönliche Erfolg oder Nutzen das entscheidende Kriterium). Das bedeutet auch, dass alle demokratisch organisierten Gesellschaften von ihren Strukturbedingungen her gleich wünschenswert (und austauschbar) sind.
Die Privatisierung der metaphysischen Grundproblematik hat ihren Ursprung in der Aufklärung (und den Erfahrungen aus den europäischen Religionskriegen): Mit der Betonung von Vernunft und Verstand und der Verbannung der Religion aus der Sphäre der Politik, wurde immer weitgehender darauf verzichtet, dieses grundlegende Problem allgemeinverbindlich (auf)zulösen; es wäre auszuhalten und der Wahrheit und dem Leid vor der Tröstung recht zu gegeben: Die Antwort der Religion wird als Täuschung abgelehnt und besitzt keinen allgemeinverbindliche Geltung mehr. Vielleicht sind dieses Aushalten, die Angst und die Handlungsunfähigkeit, die ambivalente Zustände hervorrufen, auch ein Motor der Moderne geworden: Wissenschaft, Vermessung, Beherrschung und Erforschung der Welt, sind dieser ambivalenten Ausgangsituation geschuldet: Wenn die Religion zum Erklären und Erkennen der Welt nichts mehr beitragen kann, benötigt man Alternativen; und dort wo die religiöse Ordnung zusammenbricht müssen die sozialen Verhältnisse neu geordnet und verwaltet werden. — Einige Fragen erhielten alternative Antworten, etwa die nach der Herkunft des Menschen, nach dessen Funktionsprinzipien oder die nach den Gesetzen des Universums (wobei diese Antworten wieder andere Herausforderungen für die metaphysische Grundsituation des Menschen mit sich brachten). Alle anderen Fragen, die nach dem Warum, nach dem Leid und der Bedeutung blieben offen.
Die Methoden die innerhalb der Moderne (vor allem, aber keineswegs ausschließlich: der Wissenschaft) angewandt wurden, um das Ambivalente, durch Akte der Klassifikation und Definition zu bekämpfen, haben es zugleich immer wieder neu erzeugt5: Dem wissenschaftlichen Erfolg steht eine unüberschaubare Menge an Wissen zur Seite und eine noch größere Zahl von Fragen und Problemen: Technik, Wissenschaft, Recht und Verwaltung haben die Welt unendlich komplex gemacht und in immer weitere Details aufgespalten: Neue Fragen, neue Probleme, neue Lösungen und wiederum: Ambivalenz.
In der späten Moderne verlor sich der Optimismus und man verzweifelte zusehends, ohne sich aber von seinem Vorhaben abbringen zu lassen und irgendwann begann man sich der Verzweiflung zu entledigen, in dem man sie ironisierte und alles für unverbindlich erklärte: zu einem großen, immerwährenden Spiel (von Identitäten). Mit bedingt wurde das durch die mediale Realität, in der Wirklichkeit hergestellt oder zwischen verschiedenen hin und her gewechselt wird: Unmögliche Dinge treten so zeitgleich nebeneinander, Parallelwelten tun sich auf, Kontraste werden verstärkt, der Bereich des Öffentlichen ausgeweitet und des privaten eingeschränkt: Identitäten werden instabil und unsicher, Gegenwart und Konzentration zerbrechen unter einer Datenflut (Überforderung) und der Ablenkung von Smartphone, Tablet und (bald) Echo.
Nachrichten aus aller Welt tragen zur Fragmentierung bei, die Ambivalenz und die Herausforderung zu Selbstbestimmung und Abgrenzung nehmen zu (was den Kreislauf wieder verstärkt): Die beinahe einzigen Kontinuitäten, ja: Verbindlichkeiten, in denen die Gesellschaft (solidarisch) zusammenfindet und finden muss sind Ökonomie, Konsum und Zeitdruck: Ein Bedürfnis nach Klarheit, Befreiung, Tröstung, eben: Metaphysik, Spiritualität, Religion werden wieder und erneuert lebendig, insbesondere bei jenen Menschen, die in einer neuen Gesellschaft ihren Platz suchen und dadurch ihrer Identität ohnehin unsicher sind.
Unterscheiden lassen sich zumindest zwei Wege: Einer, der sich zu einer eher unverbindlichen Supermarktspiritualität hinneigt (ich nehme mir, was mir gefällt, aber ja nicht zu oft und ja nicht zu verbindlich) und einer, der eine klare, alles umfassende Antwort, die sich z.B. in den islamischen Überlieferungen findet, »im Christentum« oder auch »im Buddhismus«, der sich allerdings relativ »unideologisch« adaptieren und nutzen lässt, gerade im Wechsel mit der Ökonomie und damit auch dem ersten Weg zuzurechnen ist. — Fundamentalismen lassen sich hier als eine extreme Form der zweiten Möglichkeit lesen: Terrorismus und Gewalt sind jenseits ihrer Selbstzwecklichkeit Mittel des Kampfs gegen die Ambivalenz selbst. — Bedürftigkeit (Suche nach Hingabe oder Sinn) oder religiöse Empfänglichkeit genügen, um sich der Religion zuzuwenden, Theologie ist dafür nicht von Bedeutung oder bestenfalls später (nachdem man sich entschieden hat).
Religion entspringt gleichsam dem Unbewußten der Moderne und nimmt in deren Spätzeit eine Gegnerschaft (Abwehrfunktion) zu den demokratischen Gesellschaften ein oder eine Puffer- oder Ersatzfunktion und kann als ein Mangel, eine Einseitigkeit eben dieser Gesellschaften gelesen werden (was man neben einem Verdrängungsprozess genauso als Vorzug ansehen kann: Man kann in einer modernen Gesellschaft weitgehend allein leben, Toleranz ist dafür, gerade ihrer Banalität und Nichttugendhaftigkeit wegen, die selten verstandene Voraussetzung; wer gesellschaftlich verbindlich darüber hinausgehen will, handelt eigentlich reaktionär).
Der Moderne und ihrer Ambivalenz entkommen, statt sich ihr auszusetzen, das Paradigma also zu wechseln, die Bequemlichkeiten und Nützlichkeiten des technischen Fortschritts aber beibehalten: Das ist der jener antimoderne Hybrid, der schon in Form von Faschismus und Nationalsozialismus zu beobachten war und im islamischen Fundamentalismus bloß ein neues Gewand gefunden hat (die technische Moderne findet mit der Vormoderne zusammen, man hat das auch Amalgam genannt; konsequenter sind die Amischen).
Die Trennung von Staat und Religion
Die Trennung von Staat und Religion ist in politischer Hinsicht unter keinen Umständen anzutasten, weil andernfalls die demokratischen Grundlagen von Staat und Gesellschaft untergraben werden. — Abseits davon, kann man aber die Frage stellen, ob der Staat diese Trennung auch in allen anderen, die Religion betreffenden Bereichen vorziehen sollte oder ob sich nicht andere Möglichkeiten als sinnvoller, ja klüger erweisen. Daraus ergeben sich zwei Fragen, die nach der Gleichheit und nach der staatlichen Anerkennung: Gibt es auf Grund ihrer Geschichte, Konstituiertheit und Entwicklung, Unterschiede zwischen religiösen Traditionen, die gesellschaftlich und staatlich relevant sind und auch im Hinblick auf Gerechtigkeit und Gleichberechtigung betrachtet werden müssen. Und vorher noch: Warum sollten Religionen überhaupt von staatlicher Seite aus anerkannt werden? Gibt es eine Rechtfertigung, die Klein- und Kleinstgruppen wie »Sekten«, aber auch vergleichbaren anderen, nicht-religiösen Gruppen, eine Anerkennung verwehrt6?
Religionen sind sozial und kulturell gebildete Gruppen, eventuell auch ethnisch gestärkt; je größer die Zahl der Bürger ist, die sie umfassen, desto relevanter wird ihr Verhalten für die gesamte Gesellschaft, wenn man annimmt, dass religiöse Verbundenheit eine gewisse Stoßrichtung in gesellschaftlichen Fragen bedeutet: Religionsgemeinschaften sind soziale Akteure, wie es Vereine, Verbände, Unternehmen, Nicht-Regierungsorganisationen und Interessensvertretungen auch sind. Im Sinne eines gesellschaftlichen Interessenausgleichs interagiert der Staat mit diesen Gruppen, er erkennt sie zunächst einmal als solche an und stellt einen entsprechenden rechtlichen Rahmen bereit.
Religionen sind Träger und Vermittler von Identität; Religion ist für viele Menschen von großer Bedeutung, weil sie, s.o., eine Lösung für menschliche Grundfragen bereit hält: Klug wäre es, diese gesellschaftlich relevanten Gruppen ohne Aufgabe der demokratischen Grundlagen in das Gemeinwesen einzubinden, zu integrieren, was auch den in Integrationsprozessen anstehenden Aufgaben auf beiden Seiten entspräche. Darüber hinaus bilden Religionen subsoziale Strukturen (Teilorganisationen), die sich kulturell oder sozial engagieren. Beispiele für letzteres sind: Krankenpflege, Seelsorge, Betreuung von Armen- und Obdachlosen, Lehre und Schulbildung (natürlich wurden und werden diese Tätigkeiten zur Indoktrinierung und Etablierung der Religion benutzt; dies muss von staatlicher Seite aus verhindert werden). Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Integration und Gemeinwohlorientierung, kann man überlegen, ob eine Einbindung von Religionen nicht auf eine weitere Weise gesamtgesellschaftlich sinn- und nutzbringend sein kann: Schulen von Religionsgemeinschaften sind problematisch, im Sinne der strikten Trennung von Religion und Politik; aber dort wo Religionsgemeinschaften andere Aufgaben wahrnehmen, kann der Staat sie unterstützen: Er erhält dafür Akzeptanz und die Religionen übernehmen einen Teil seiner Aufgaben (freilich unter der Bedingung, diese Aufgaben weltanschaulich neutral zu erfüllen). Eben die genannten Beispiele: Krankenpflege, Seelsorge, die Betreuung von Armen- und Obdachlosen. Daneben kann der Staat, die vielerorts fast ausschließlich ehrenamtlich getragenen kulturellen Aufgaben unterstützen, die Religionen leisten, ein Beispiel sind die kunstmusikalischen Aufführungen in Kirchen, die oft auf Spenden angewiesen sind, aber eine Scharnierfunktion zwischen Profi- und Hobbymusikern und eine Ergänzung zum klassischen Konzertbetrieb, darstellen. Analog kann man über den architektonischen Wert von Kirchen und Moscheen für die Gesellschaft nachdenken, über Kunst, die in der Wechselwirkung mit der Religion entstanden ist und noch entsteht, usw.
Auch die theologische Lehre an Universitäten und der Religionsunterricht lassen sich in einen ähnlichen Kontext stellen: Über letzteren sollte der Staat wachen, was das Lehrpersonal anbelangt, die Bücher und die Inhalte (entsprechend den gesetzlichen Definitionen); eine Verschiebung in einen völlig privaten Bereich ist gerade aus demokratischer Sicht problematisch, weil niemand weiß was dann gelehrt wird; darüber hinaus könnte man den Unterricht als Ethikunterricht gestalten, der sich auch mit Religionen beschäftigt und diese aus der Innenansicht (als praktizierenden Menschen) vorstellt und verstehbar macht (oder man teilt den Unterricht in ethische Grundlagen und die Beschäftigung mit einer religiösen Tradition aus der Innenperspektive). Forschung über Religionen leistet die Religionswissenschaft, theologische Weiterentwicklung einer religiösen Tradition müssen Personen mit einer Innenperspektive, etwa Theologen, übernehmen; auch die Weiterentwicklung von Religionen im Gleichklang mit technischen oder gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen, ist eigentlich im Interesse des Staats und der Allgemeinheit: Hier kann der Staat unterstützend und fördern wirken, darf gleichzeitig aber das Ruder nicht aus der Hand geben (Lehrverbote auszusprechen, kann nicht die Aufgabe von Religionsgemeinschaften sein, der Staat muss Pluralität und Kritik sicherstellen).
Die Integration nicht-autochthoner, religiöser Traditionen
Der allgemeinen gesellschaftlichen und staatlichen Relevanz der Religionen, steht ihre spezifische Ausprägung gegenüber: Gleiches sollte gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, so lässt sich Gerechtigkeit definieren; jeder Bürger soll seine Religion ausüben können, allerdings muss sie sich an die verfassungsgemäßen Grundsätze und die Gesetze im Allgemeinen halten, nicht jeder Unsinn ist zu tolerieren und die Grundrechte aller Bürger müssen beachtet werden: Staat und Religion bedürfen eines Verhältnisses zu einander und entsprechender Strukturen, die erst entwickelt werden müssen: Hier sind Prozesse zu durchlaufen, die einige Zeit in Anspruch nehmen. Wie man Unterschiede anspricht und auf Gleichberechtigung hinarbeitet, muss im Einzelfall entschieden werden; und an diesem ist auch zu entscheiden ob spezifische Gesetzte notwendig sind oder nicht.
Betrachtet man »den Islam« und »das Christentum« in Europa, so kann man sie nicht einfach gleichsetzen: Das hat nicht damit zu tun, dass ihnen nicht grundsätzlich die gleichen Rechte zustünden, sondern damit, dass die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Staat in Europa eine andere ist, wie beide Religionen hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Gebote verschieden sind (daneben gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten: Monotheismus, Bezug zu den Traditionen des Nahen Ostens, schriftliche Grundlagen, universalistischer Anspruch). — Die Benennung von Unterschieden ist eine Voraussetzung für das Erreichen des gleichen Status und der gleichen Rechte (hiermit sind nicht die Grundrechte der Menschen gemeint, sondern die, die einer anerkannten Religionsgemeinschaft zustehen).
Drei wesentliche Unterschiede sind ausmachen: Erstens: »Der Islam« ist antihierarchisch organisiert, es gibt keine vermittelnde Instanz, keine Priesterschaft, es darf auch keine geben; dies erschwert die Kommunikation mit Staat und Politik, diese steht vor der Aufgabe ein legitimiertes Ansprechgremium zu schaffen. Zweitens: Die Trennung von Politik und Religion wird in der Islamischen Welt kaum praktiziert, der islamische Fundamentalismus zeigt entgegenlaufende Tendenzen; daraus ergibt sich die Gefahr der politischen Einflussnahme, die sich ein souveräner Staat nicht leisten kann: Nicht nur Prediger und Schriften, sondern auch die Auslandsfinanzierung religiösen Personals oder entsprechender Strukturen hebt die Trennung von Politik und Religion über die Hintertür wieder auf (dazu gehört auch, dass der Islam in Europa, anderer Lösungen, Konzepte und Wege als der Islam etwa im nahen und mittleren Osten, bedarf). Drittens: »Im Islam« existieren Prinzipien und Pflichten von Gläubigen (die Bedeutung und die Loyalität gegenüber der [fiktiven] Umma; der Dschihad, nicht nur als heiliger Krieg, sondern als Anstrengung und Auftrag zur Mission oder das Konzept tolerierter, nicht gleichberechtigter Minderheiten, der Dimma, die sich mit demokratisch organisierten, säkularen Gesellschaften nicht vertragen; diese werden keineswegs immer praktiziert, im Gegenteil, es gibt zahlreiche (liberale) Muslime die das nicht wollen; von anderen Teilen der Muslime werden diese Gebote allerdings toleriert (wie auch diverse fundamentalistische Ideologien): Dies ist ein Nährboden für Fundamentalisten, die sich auf »den Islam«, sein Ansehen und seine Gebote beziehen und andere Haltungen als unislamisch verwerfen (die Gläubigen werden dadurch entgegen der Gesellschaften in denen sie leben instrumentalisiert). Diese Gebote sind für Staat und Gemeinschaft eine wesentliche Thematik und Herausforderung (die Loyalität gilt in einem säkularen Staat zuerst gegenüber der Verfassung und den Gesetzen, danach erst einer dem Glauben entspringenden Verbundenheit).
Eine rigide Trennung von Staat und Religion in allen Bereichen bewirkt eher eine Distanzierung bestimmter gesellschaftlich relevanter Gruppen, als deren Integration, vor allem dann, wenn ihre Bindung an die Religion groß ist und sie der Gesellschaft noch nicht lange angehören (und obwohl diese Leistungen für die Allgemeinheit erbringen oder erbringen könnten). Man kann das Verhältnis von Staat und Religion – immer unter der völligen Aussparung der Politik – auch aus dem Gesichtspunkt wechselseitigen Respekts und wechselseitiger Nützlichkeit formulieren (was auch aus der sozialen Bedeutung, die eine Gruppe automatisch bekommt, gerechtfertigt wäre).
Die österreichische Praxis, Islam und Islamgesetz
Mit Blick auf das bislang Geschriebene, erscheint der vielleicht etwas schlampig zu nennende österreichische Weg der Trennung, grundsätzlich gar nicht schlecht, ja geradezu klug: Jeder politische Anspruch bleibt den Religionen verwehrt, aber dort wo sie Bedürfnisse von allgemein gesellschaftlichem Wert (also über die der Gläubigen hinaus) erfüllen oder Funktionen des Staats unterstützen, erkennt er dies an (in Form von Strukturen, Zuwendungen, gesetzlichen Regeln und Rechten). — Auf längere Sicht sollten alle Religionen gleichgestellt oder einseitige Privilegien abgebaut werden, da die Integration einer Religionsgemeinschaft allerdings Zeit benötigt, können zunächst Ungleichgewichte hinsichtlich der aus der Anerkennung entstehenden Rechten, bestehen. Schulen von Religionsgemeinschaften (wie auch die organisatorischen Strukturen einer Vertretung gegenüber dem Staat, die IGGiÖ, siehe etwa hier) sind ein heikles Thema, müssen ihnen allerdings gewährt werden, wenn dies auch anderen (privaten) Organisationen grundsätzlich möglich ist, also nicht nur der Staat Schulen betreibt; die Lehrpläne und Inhalte sind staatlich zu regeln und zu prüfen (die Abberufung von Lehrpersonal an Schulen und Universitäten sollte ausschließlich dem Staat zustehen7 ).
Im Bereich von Bildung und Ausbildung zeigt sich noch einmal die politische Dimension ausländischer Finanzierung von Schulen und Personal: Es kann nicht im Interesse eines demokratischen, souveränen Staates sein, dass Lehrpersonal oder Einrichtungen von Saudi-Arabien, der Türkei oder anderen demokratisch, politisch und menschenrechtlich zweifelhaften Staaten bezahlt wird; ein Staat der dies zulässt untergräbt seine Souveränität und die demokratiepolitisch notwendige Trennung von Religion und Staat8. — Diese Fragen der Finanzierung brauchen eine Lösung, z.B. könnte man dabei Norwegen folgen und eine Genehmigungspflicht etablieren (dies hat nichts mit der Benachteiligung von Muslimen zu tun, sondern ist eine Frage staatlicher Souveränität und der Trennung von Religion und Politik).
»Das Christentum« hat in einem langen, zähen Prozess seinen politischen Anspruch aufgegeben und einen – unterschiedlich formulierten – Platz innerhalb Europas gefunden (die europäischen Gesellschaften haben aus dem Leid religiös vermittelter Herrschaft, aus Gewalt und Krieg ihre Schlüsse gezogen). — Dass die europäische Geschichte immer in Verbindung mit dem Christentum stand und seine religiösen Traditionen immer Teil der Gesellschaft waren, Erneuerungen und reformatorische Bewegungen eingeschlossen, hat diese Prozesse sicherlich unterstützt.
Anders verhält es sich mit religiösen Traditionen, die historisch zwar durchaus in Kontakt mit Europa standen und zeitweise auch in Teilen von Europa Bedeutung hatten, aber diese enge Verbindung zu den Gesellschaften nicht haben. Dass die Traditionen »des Islams« rasch zu Teilen der europäischen Gesellschaften geworden sind, führt ganz selbstverständlich zu Problemen und Schwierigkeiten: Einerseits müssen sich die Europäer mit einer ihnen bislang weitgehend unbekannten Religion auseinandersetzen und einen Rahmen formulieren, der eine Integration in die Gesellschaft ermöglicht; für die Muslime bedeutet das sich mit den Prinzipien europäischer Gesellschaften zu beschäftigen und den Anspruch ihrer Religion gemäß diesen zu formulieren. Welche gesetzlichen oder anderen Mittel dieser Integration dienen, ist nicht an anderen Religionen zu messen, sondern am Zustand der Gesellschaften und »dem Islam« in Europa selbst; die Beschränkung darauf sollte den Prozess bestmöglich unterstützen.
Eine Reihe von Schwierigkeiten, die zum großen Teil bereits diskutiert wurden, treten zu Tage: Einerseits bieten die europäischen Gesellschaften »nur« einen funktionellen Rahmen, sie formulieren keinerlei metaphysische Verbindlichkeiten, der individuelle, lebenspraktische Erfolg spielt bei der Akzeptanz der Gesellschaft eine große Rolle (neben anderen Dingen auch). Dieses Fehlen ermöglicht zwar das Andocken an die Gesellschaft, weil sie keine kulturelle Selbstaufgabe (Assimilation) fordert, andererseits aber eine Relativierung absoluter Ansprüche; darüber hinaus sind ihre emotionalen Bindungskräfte gering. Wie bei allen ähnlichen Prozessen spielen die Erfahrungen und Probleme, die das Gefühl von Fremdheit (also: Unfassbarkeit, Uneinordbarkeit und damit eine Art von Scheitern) mit sich bringt eine große Rolle: Vorsicht, Abwehr, Verdächtigungen, Vermeidung, Verdammung, usw., sind auf allen Seiten spürbar; sie lösen sich nur langsam und am ehesten in persönlichen Bereichen, der Nachbarschaft, etwa. Über dem menschlichen Bedürfnis nach der Auflösung von Ambivalenz, die sich aus der grundsätzlichen Stellung des Menschen in der Welt ergibt, aber auch aus der Gegenwart des Fremden in einer eigentlich vertrauten Gesellschaft, bzw. dem Gegenwärtigsein in einer fremden Gesellschaft hinaus, verstärkt die spätmoderne Gesellschaft durch die Gleichzeitigkeit (Parallelität) eigentlich ungleichzeitiger (einander ausschließender) Situationen, Ansprüchen und Lebensentwürfen ebendies: Unsicherheit, Zweifel, Ambivalenz; die eigene Identität gerät ins Wanken, zerfällt und man wendet sich anderen, übergeordneten, die die Befreiung von diesem Zustand versprechen, zu: Das passiert auf allen Seiten, jener von Religion, Ethnie und Kultur. — Diese Identitäten stehen gegen den Rest (oder Teil) der Gesellschaft und sind emotional tief verankert; nicht ihr (dem Rest, also Staat und Demokratie) gilt die Loyalität, sondern ebendiesen Identität vermittelnden Organisationen, Strukturen oder Bündnissen.
Diesen vormodernen Bindungskräften haben moderne Gesellschaften nichts gleichwertiges entgegenzusetzen, sie können nur individuell durch den Verstand relativiert werden (oder durch gegenläufige, emotionale Ereignisse, die sie aufbrechen): Was liegt also näher, als ebendiese (oder vergleichbare) Kräfte für Erneuerung der gesellschaftlichen Bindung zu nutzen? Die stolzdrauf-Kampagne des Bundesministers Kurz und des Österreichischen Integrationsfonds versucht genau das: Wir wollen oder wünschen uns vormoderne Bindungskräfte, in diesem Fall den Stolz, der rein logisch betrachtet, gar nicht in Frage kommt, um möglichst viele Bürger emotional an das Gemeinwesen zu binden. Hier werden die Probleme funktionell-organisierter moderner Gesellschaften praktisch offenbar: Das Ziel der Kampagne ist es, individuelle Bindungskräfte zu aktivieren: Man ist stolz auf die Gesellschaft, weil sie die friedliche Koexistenz von Menschen aus anderen Kulturen oder verschiedener Religionen ermöglicht; man ist stolz, weil man hier beruflich erfolgreich sein konnte, usf. Eine fein ausdifferenzierte, individualisierte Gesellschaft (im Sinne ich-zentrierter Lebensentwürfe), in der nahezu alles, was früher Aufgabe der Gemeinschaft war, nun als Dienstleistung ausgelagert werden kann (Altenpflege, um ein Beispiel zu nennen), soll emotional auf ein (eigentlich uneinheitliches) Fundament bezogen werden: Eine ausschließlich funktionell organisierte Gemeinschaft, soll emotional als solche konstituiert und erfahren werden (wenn Gemeinschaft noch erfahren wird, dann eher kleinen und kleinsten Ebenen). — Die späte Moderne ist, so kann man es vielleicht formulieren, an einen Punkt gelangt, an dem das Bedürfnis nach metaphysisch-emotionalen Identitäten immer stärker nachgefragt wird. Gelingen kann das eigentlich nur, wenn alle nach derselben Identität fragen (aber die ist nicht stabil oder für alle vorhanden, wie der berufliche Erfolg oder wenig emotional oder wird sogar als kontraproduktiv angesehen, wie die Religionsfreiheit oder die Gleichberechtigung). Daneben verbleibt die Frage: Wie vermag ein Einwanderer auf Deutschland, Frankreich oder Österreich, in denen er unter sehr ähnlichen grundsätzlichen Bedingungen leben und erfolgreich sein kann, spezifisch stolz zu sein?
Man kann in einem funktional organisiertes Gemeinwesen, aber auch innerhalb seiner Logik nach Lösungsmöglichkeiten suchen: Im Fall Österreichs wird das durch die Novellierung des Islamgesetzes, das dazu dienen soll »den Islam« durch einen rechtlichen Rahmen mit Staat und Gesellschaft zu verbinden, versucht. Ob das durch ein spezielles Gesetz gelingen kann ist fraglich, weil es – sozusagen – einen Ausnahmezustand erzeugt und den Islam als fremd markiert: Ob neue Paragraphen tatsächlich notwendig sind, ist an der Situation »des Islam« in Österreich (also seiner Beziehung zum Gemeinwesen) zu messen und daran inwieweit der vorhandene Gesetzesbestand nicht ohnehin ausreicht9.
Eine weitere Möglichkeit funktionaler Lösungen, die wenig beachtet werden, sind positiv formulierte »Identitäten«. Man könnte etwa im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (Artikel 15) eine liberale euroislamische Identität formulieren (im Sinne Bassam Tibis). Eine solche positive europäische Konzeption des Islam wäre ein Beitrag zur Integration einerseits und hätte Vorbildwirkung für Europa andererseits (streng genommen müsste mit allen anderen anerkannten Religionen auf die gleiche Weise verfahren werden).
Funktionale Lösungen können helfen ein Verhältnis des Respekts und der wechselseitigen Anerkennung von Staat und Religion (und damit der Integration in die Gesellschaft) zu entwickeln, wenn sie entsprechend formuliert werden; dadurch können Bindungs- und Integrationskräfte, ohne dass die grundsätzliche Trennung von Politik und Religion angetastet wird, entstehen, wobei diese sicherlich deutlich hinter der Kraft metaphysisch-emotionaler Bindungen zurück bleiben, die auf Grund der oben diskutierten Probleme nicht als beherrschende Kräfte akzeptiert werden können, dem bloßen Verfassungspatriotismus aber womöglich überlegen sind. — Die völlige Trennung von Staat und Religion erschwert hingegen die Integration, weil sie als Abweisung erfahren wird und weitet das Problem der metaphysischen Bedürftigkeit eher aus, als es zu begrenzen.
Die Texte: Das Islamgesetz, der Entwurf zum Islamgesetz und diese Diskussion auf Twitter. ↩
Einige Beispiele aus der Gegenwart: Ethnische Religionen, Shintoismus, Konfuzianismus, Daoismus, Hinduismus, Jainismus, Islam, Christentum, Judentum; und der Vergangenheit: Ägyptische, Aztekische, Keltische, Minoische, Griechische Religion und die Religion der Germanen.
↩Worin man durchaus eine Nuance an Aufklärung sehen kann. ↩
Zum Unterschied zwischen Religion und Weltanschauung: Eine Weltanschauung kann zwar überindividuell und quasireligiös (Nationalismus) sein, bleibt aber immer der Welt verhaftet; eine Religion transzendiert die Welt in irgendeiner Form. Dieser außerweltliche Bezug scheint den Religionen in Verbindung mit der Bedürftigkeit und dem Erleben der Menschen eine besondere Dauerhaftigkeit zu verleihen. Außerdem geht der Wirkungskreis vieler Religionen über die Schranken von Kultur und Nation hinweg. ↩
Zur Ambivalenz siehe Zygmunt Baumann "Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit", Hamburger Edition, 2005. ↩
Die Anerkennung hat nichts mit Legitimität zu tun, es herrscht Religionsfreiheit, sondern mit bestimmten Vor- und Schutzrechten (ein Beispiel hier). ↩
Ein Text mit zusammenfassendem Charakter findet sich dort; allerdings ist auch das nicht immer eindeutig). ↩
Abseits der vorrangig diskutierten Themen, sind neue gesetzliche Regeln vielleicht im Hinblick auf die halāl-Zertifizierungen notwendig (einschließlich einer Diskussion darüber, ob diese nicht von einer staatlichen Stelle durchzuführen wären). ↩
Vielen Dank für diesen instruktiven Text.
Zunächst zum säkularen Staat. Das ist in Deutschland ein bisschen komplizierter. Das Bundesverfassungsgericht hat im »Kruzifix-Urteil« noch einmal betont, dass der Staat ein Neutralitätsgebot im Verhältnis zu Religionen einzuhalten habe (Urteil: hier).
Das bedeutet nun nicht unbedingt auch eine Werte-Neutralität, wie man hier nachlesen kann. Bielefeldt stellt fest, »der säkulare Rechtsstaat hat die Möglichkeit, ja die Aufgabe, sich zu Fragen der Religion und Weltanschauung aktiv zu verhalten; allerdings – und dies ist entscheidend – steht staatliches Handeln dabei nicht unter dem Vorzeichen, religiöser Wahrheit zur Anerkennung zu verhelfen, sondern geschieht unter dem Anspruch, religiöse und weltanschauliche Freiheit der Menschen nach Maßgabe der Gleichberechtigung aller zu fördern.« Das klingt sehr schön, aber sofort taucht das Problem der »Gleichberechtigung« wieder auf. Diese »Gleichberechtigung« muss – und das ist essentiell – an den Werten der Verfassung festgemacht sein und nicht an religiösen Schriftwerten.
Hier setzt wohl die Initiative des »Islam-Gesetzes« an, wenn dort steht: »Religionsgesellschaften, Kultusgemeinden oder andere Untergliederungen sowie ihre Mitglieder können sich bei der Pflicht zur Einhaltung allgemeiner staatlicher Normen nicht auf innerreligionsgesellschaftliche Regelungen oder die Lehre berufen, sofern das im jeweiligen Fall anzuwendende staatliche Recht nicht eine solche Möglichkeit vorsieht.« Mich würde es jedoch wundern, wenn ähnliches nicht schon in anderen Gesetzen stehen würde. Insofern wäre es ungeschickt, eine Art Spezialgesetz für den Islam zu schaffen, was unweigerlich eine gewisse Stigmatisierung bedeuten könnte.
Zur Euro-Islam-These: Davon halte ich nichts, solange diese von islamischen Gelehrten kommt, die im Westen reüssieren und leben. Da »der Islam« keine homogene Doktrin vertritt, dürften solche Ideen als westlich infiltriert von den lokalen Geistlichen, die sich dadurch in ihrer Macht bedroht sehen, desavouiert werden. Selbst ein Denker wie Mohammed al-Jabri, der eine »andalusische Wiedergeburt« nach Averroes vorschlug, fand kaum Wiederhall (er ist inzwischen leider gestorben; der Verlag, der seine Schriften auf den Markt bringen wollte, schaffte nur die Einführung).
Wow, das wusste ich nicht. In Österreich kümmert sich der Bundeskanzler noch persönlich um die Körperschaften. No way in Germany. Hessen hat 2013 eine Körperschaft mit muslimischem Hintergrund genehmigt, ansonsten bleibt die Basis von Moscheen der Kulturverein.
Das Thema der Trennung von Religion und Staat finde ich nicht zielsicher gewählt. Gerade um die Anerkennung von Seiten des Staates geht es ja den Beteiligten. Ich vermute, darin besteht der »Antwortcharakter« des Artikels, denn der vereinfachende Laizismus argumentiert gerne mit gespaltener Zunge, als ob ein laizistischer Staat die Religion komplett ignorieren könnte. Argument: selbst wenn der Gesetzgeber das »Kopftuch« verbietet, ignoriert er es nicht. Ganz im Gegenteil!
Von Anerkennungsfragen (Rechststaatprinzip) ganz zu schweigen.
Da sind viele krause Gedanken unterwegs, in Österreich und anderswo. Die typische Macke des Liberalismus besteht ja darin, so zu tun, als ob auch der Staat nicht existiert. Anything goes, when nothing is real. Tolle Philosophie!
@Gregor
Ja, man könnte salopp sagen, dass der säkulare Staat eine liberal-individuelle Wertehaltung vertritt (auf deren Basis Gleichberechtigung möglich wird).
Das Islamgesetz gibt es seit 1912 (ein paar Jahre nachdem Bosnien-Herzegowina von Österreich-Ungarn formal annektiert wurde (davor wurde stand es unter der Verwaltung der Monarchie). Es war naheliegend dieses Gesetz zu novellieren, was, da stimme ich zu, keine gute Idee war (vor allem wenn dort dann viele Paragraphen auftauchen, die anderswo ohnehin geregelt sind). Die entscheidende Frage ist eher: Warum tut man überhaupt erst jetzt etwas? Interessant ist aber, dass sich die Aleviten für das Gesetz aussprechen (bei der IGGiÖ ist das nicht der Fall, allerdings macht die in dem ganzen Prozess keine gute Figur).
Der Euroislam ist ein Entwurf für die europäischen Gesellschaften, Bassam Tibi vertritt eine Integration »des Islam« unter Wahrung der Ideen von Säkularität und Moderne, etwas anderes kann »niemand« ernstlich wollen (es entspricht im Prinzip dem Rahmen, dem sich auch das Christentum fügen musste). Dass das nicht unbedingt auf Zuspruch etlicher Theologen, Gelehrter und Prediger stößt, mag sein, es ist sogar sicher so. Und? Sollen wir um deren Zuspruch betteln? Ich sehe da keinen anderen Weg.
@die_kalte_Sophie
Das Thema ist die Frage wie und wo die Trennung zwischen Staat und Religion verlaufen soll, was die Vor- und Nachteile sind (sein können) und wie sich die Situation in Österreich dazu verhält (»der Laizismus« sieht in der Religion m.E. zu sehr einen Gegner, einen Feind, was zur Folge hat, dass man sich zu wenig mit ihr auseinandersetzt), ich dachte das geht aus dem Link auf die Twitterdiskussion hervor. — Das Problem ist weniger Ignoranz als solche, sondern eben ein Mangel von Auseinandersetzung aus Gründen von Abwehr.
@ mete. Hab’ schon kapiert. Aber gibt es da nicht eine psychologische und eine systemische Ebene, die einfach nicht zusammen passen wollen?! Ich würde behaupten, der Staat hat kein Problem mit seinen Religionsgemeinschaften, aber das (zumal christlich verortete) Bürgertum kann kaum etwas Sinnfälliges darüber sagen. Die Kampagne des Ministers Kurz ist doch rührend: ein Königreich für eine Idee der Gemeinsamkeit. Ich finde darin drückt sich perfekt das Dilemma des Westens aus, der auf (wie Du sagst) vormoderne Bindungskräfte zurückgreifen musste, um seine Demokratien zu stabilisieren, und der jetzt vor der (beinah absurden) Herausforderung steht, mehrere distinkte Gemeinschafts-Stifter instrumentalisieren zu können. Betrachten wir die Sache doch mal dialektisch: sind mehrere (eventuell ein Vielzahl) von Religionen gut oder schlecht für die rein funktional gestaltete Gesellschaft?! Antwort: Sie sind gut, werfen aber eine metahistorische Erkenntnis auf, die ein wenig unangenehm ist. Bruno Latour sagte: Wir sind nie modern gewesen. Ja, ganz recht: »wir«. Denn die Demokratien sind Strukturen und keine subjektnahen Konstrukte. Sie strahlen keine Wärme aus, sie stiften keine Identität. Historisch gesehen, haben »wir« uns da gerade mal eben durchgemogelt. Die modernen westlichen Gesellschaften sind »relativ gut konstruiert«, aber können sie sich eine »Trennung«, sprich Verabschiedung der Religion leisten?! Bestürzende metahistorische Einsicht: nein!
Das ist ein wichtiger Faktor: Demokratien »strahlen keine Wärme aus«. Das ist richtig und gilt womöglich fatalerweise für funktionierende Demokratien. Man merkt nicht mehr, wie es sein könnte, wenn die demokratischen Institutionen abwesend sind. Demokratie wird zur Gewohnheit; ähnlich wie der amorphe Begriff des »Friedens«.
Schopenhauer, dieser visionäre Misanthrop, konstatierte:
Hier kommt dann so etwas wie die Religion im Spiel (die Schopenhauer natürlich vorher zu Grabe getragen hatte). Religionen schaffen Bindungskräfte – ob man das nun mag oder nicht. Das ist gar nicht wertend gemeint. Nationale Identität ist m. E. kein »vormodernes« Konstrukt; es wirkt nur so, weil wir alle kosmopolitisch agieren bzw. uns dafür halten.
Vielleicht waren »wir« noch nie »modern«. Aber bereits die Sporen dessen, was wir Moderne nennen, verunsichert uns.
Ich würde weitergehen und sagen, dass das »die« gesamte Moderne nicht tut (Max Weber war es doch, der vom stählernen Gehäuse sprach; oder Bachmann von der Wahrheit die den Menschen zuzumuten wäre; die Enttäuschung wird dem Trost vorgezogen).
Danke für die Erwähnung von Latour, den hatte ich völlig vergessen (müsste genaueres aber erst nachlesen). Ich möchte dahingehend widersprechen, dass wir in unserer individualistischen Bezüglichkeit und Lebensform doch modern sind (wir sind nicht unbedingt so verschieden, wie wir es gerne glauben oder hätten, aber wir leben schon sehr selbstbezogen und wenig gemeinschaftlich; unsere Lebenswelt ist sicherlich auch weitgehend modern gestaltet). — Insofern funktionieren unsere Demokratien, deshalb sind sie »kalt« und, funktional gesehen, austauschbar. Das aktiviert dann natürlich auch vormoderne Bedürfnisse, die in uns allen auch stecken, insofern geht es vielleicht auch gar nicht darum durch und durch modern zu sein, sondern ihr (sozusagen) einen Vorrang zuzugestehen. — Allerdings ist das etwas ganz anderes, als Gregor sagt, bei ihm ist es die Gewohnheit, die die Kälte erzeugt, ich glaube eher, dass Demokratien das grundsätzlich nicht können (was, finde ich, das Wort Verfassungspatriotismus auch recht schön zeigt). Das was Demokratien bedeutend macht, ist das, was sie ermöglichen, als Fundament sozusagen, das uns dann wieder wertvoll wird.
[@die_kalte_Sophie: Ich kann die beiden Sätze, nicht recht einordnen, vielleicht können Sie mir das noch einmal kurz erläutern: »Ich würde behaupten, der Staat hat kein Problem mit seinen Religionsgemeinschaften, aber das (zumal christlich verortete) Bürgertum kann kaum etwas Sinnfälliges darüber sagen.«]
Nationalismus als gefühltes Wir, als Volk, Gemeinschaft, usw. würde ich schon als vormodern ansehen; ein staatliches Konstrukt, wie etwa die Vereinigten Staaten mit einem Narrativ nicht, das stimmt.
Nietzsche und das Gesetzbuch des Manu.
-Alte und neue Nietzschefreunde legen viel Wert auf den ‚Anti-Antisemitismus’ des Philosophen. Dies versteht sich angesichts einer – in Deutschland seit mehr als zwei Jahrzehnten wahrnehmbaren – Tendenz zur hermeneutischen Glättung des Nietzscheschen Werkes. Zahlreiche Zeitungsbeiträge zum 100. Todestag Nietzsches ließen ihn geradezu als Musterphilosophen der liberalen Demokratie erscheinen; Manfred Riedel bestritt im Spiegel-Interview 34/2000 gar jegliche politische Lesbarkeit des ‚Willens zur Macht’.-
Gleichwohl gibt es dichte Quellenpräsentation von antijüdischen „Nietzsche-Peinlichkeiten“, die an der Stellung
des Philosophen zum Judentum wenig Zweifel lassen.
In seiner Wahrnehmung jüdischer Menschen scheint Nietzsche eher ein Juden-Verächter denn ein Juden-Hasser oder auch nur ‑Gegner. Seine Reaktionen sind primär ästhetischer Natur, seine Urteile (die auch Bewunderung für die Selbstbehauptungskraft des jüdischen Volkes einschließen) sind vitalistisch fundierte Geschmacksurteile – ein Grundcharakter des Nietzscheschen Werkes.
Auch bezeichnete er seinen Freund Paul Rée, der Rittergutsbesitzer jüdischer Herkunft war, gelegentlich als einen „auch“ Zweimalgeborenen!
Man könnte also sagen, bei Nietzsches handelt es sich – ähnlich wie bei Heidegger – eher um einen
seinsgeschichtlichen „Antisemitismus“!
Chandala.
„Nietzsche verwendet den Begriff in seinen Schriften Götzen-Dämmerung[1] und Der Antichrist.[2] Darin stellt er das „Gesetzbuch des Manu“ mit dessen Kastensystem als Beispiel für eine intelligent geplante „Züchtung“ von Menschen gegen den Versuch des Christentums, den Menschen zu „zähmen“.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Nietzsche dabei dem „Tschandala“, den er bei Manu als ein Produkt der unkontrollierten Mischung aus Rassen und Klassen sieht, oder, wie Nietzsche Manu zitiert, als „die Frucht von Ehebruch, Incest und Verbrechen“.[3]
Nietzsche beschreibt zunächst Methoden der christlichen Menschenverbesserung. Zentrale Metapher ist dabei das dressierte Raubtier in der Menagerie, das scheinbar verbessert, in Wirklichkeit geschwächt und seiner Lebendigkeit beraubt sei. Als Entsprechung sieht Nietzsche den vom Christentum dressierten Germanen.
Das Gesetzbuch des Manu sei dagegen auf Züchtung einer hohen Menschenrasse aus und müsse daher unnachgiebig gegen jede Rassenmischung sein. Nietzsche beschreibt diese Gesellschaftsorganisation als „furchtbar“ und „unserem Gefühl widersprechend“, aber als reinsten und ursprünglichen Ausdruck „arischer Humanität.“ Er legt die brutalen Vorschriften zum Umgang mit den Tschandala, die im Grunde auf Demütigung und physische Vernichtung hinauslaufen, als Kampf der Starken gegen die Masse der Schwachen aus:
„Aber auch diese Organisation hatte nöthig, furchtbar zu sein, – nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen, – es war der Kampf mit der ‚grossen Zahl‘.“[4]
Laut Nietzsche ist nun allerdings das Christentum, entstanden aus dem Judentum, die Religion des Tschandala. Er deutet an, dass das Judentum tatsächlich von den „Tschandalas“ kommt:
„Das Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: – es ist die antiarische Religion par excellence: das Christenthum die Umwerthung aller arischen Werthe, der Sieg der Tschandala-Werthe, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesammt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen gegen die ‚Rasse‘, — die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe …“[5]
In seiner Schrift Der Antichrist lobt Nietzsche noch einmal das Gesetzbuch des Manu. Zwar verwende es wie jede Moral die „heilige Lüge“ als Mittel, aber sein Zweck sei unendlich viel höher als der des Christentums. Nietzsche stellt die Weltanschauung der „geistigsten“ und „stärksten“ Menschen, die alles, sogar die Existenz der Tschandalas, bejahen können, gegen den neidischen und rachsüchtigen Instinkt der Tschandalas selbst (vergleiche Herrenmoral und Sklavenmoral). Der Begriff Tschandala wird von Nietzsche noch auf verschiedene Gegner gemünzt, etwa auch auf sozialistische Strömungen seiner Zeit.
Auch in einigen nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches findet sich seine Beschäftigung mit dem Gesetzbuch des Manu, das er stellenweise auch kritisiert. In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 31. Mai 1888[6] erklärte Nietzsche die Juden zur „Tschandala-Rasse“, die die „arische“ Ethik der Veden zu einer Priester-Ethik umfunktioniert und damit den ursprünglichen Sinn zerstört habe.“!!!
Kein Geringerer als der wesentliche Mit-Herausgeber der Nietzsche-Gesamtausgabe Giorgio Colli – dessen Lebensmotto nach Platons Phaidros „Enthusiazon de lelethe tus pollus“ lautete, was soviel heißt: „… daß er aber begeistert ist, merken die Leute nicht“; gemeint ist derjenige, welcher ständig im Zustand der eleusischen Ekstase lebt und welchen folglich die meisten („hoi polloi“) für verrückt halten – schrieb folgende Sätze:
„Die jüngsten Studien über die griechische Religion haben einen asiatischen und nordischen Ursprung des Apollo-
kultes nachgewiesen. Von daher ergibt sich eine neue Beziehung zwischen Apollo und der Weisheit. Ein Fragment
von Aristoteles belehrt uns, daß PYTHAGORAS – EIN WEISER ALSO – VON DEN EINWOHNERN KROTONS DER HYPERBOREISCHE APOLLO GENANNT WURDE. DIE HYPERBOREER GALTEN DEN
GRIECHEN ALS EIN SAGENHAFTES VOLK IM ÄUSSERSTEN NORDEN.
Von dort scheint der mystische, ekstatische Charakter Apollos zu stammen, der sich in der Besessenheit der Pythia,
in den delirierenden Worten des DELPHISCHEN ORAKELS kundtut. IN DEN EBENEN DES NORDENS
UND ZENTRALASIENS IST EINE LANGE FORTDAUER DES SCHAMANISMUS, EINER BESONDE-REN TECHNIK DER EKSTASE BEZEUGT.
DIE SCHAMANEN ERREICHEN EINE MYSTISCHE VERZÜCKUNG, EINEN EKSTATISCHEN ZU-
STAND, IN DEM SIE FÄHIG SIND, WUNDERTÄTIGE HEILUNGEN ZU VOLLBRINGEN, DIE ZU-
KUNFT ZU SCHAUEN UND PROPHETIEN ZU VERKÜNDEN.
Das ist der Hintergrund des delphischen Apollokultes. Ein berühmter Passus bei Platon liefert uns hierüber Auf-
klärung. Es handelt sich um die Rede über die MANIA, den Wahnsinn, die Sokrates im PHAIDROS hält. Gleich
zu Beginn findet sich die Entgegensetzung des Wahnsinns und der Mäßigung, der Selbstbeherrschung, und für uns
Moderne paradoxen Umkehrung wird jener als überlegen und göttlich gerühmt. So heißt es im Text:
„Die größten Güter enstehen uns aus dem Wahnsinn, der jedoch durch göttliche Gunst verliehen wird. Denn die
Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn unserer Hellas viel Gutes in privaten
und öffentlichen Angelegenheiten zugewendet.“
Die Verbindung zwischen MANIA und Apollo wird also von Anfang an klar hervorgehoben. Dann werden vier
Arten des Wahnsinns unterschieden: der prophetische, der mysterienhafte, der poetische und der erotische; die
beiden letzten sind Varianten der beiden ersten. Der (so verstandene) Wahnsinn ist der Ursprung der Weisheit!
Die Moderne in der Gestalt des technichen Herstellens und Besorgens von Allem in seiner entäußerten Hyper-Mystik des globalen Gestells, ist der jüdisch-christliche Irrweg seit langem und daher der Inbegriff des nichtigen
Nichts, das unweigerlich in die KATASTROPHE führt.
Es gilt daher für einzelne Völker Sicherheitsmaßnahmen vernünftig vorauszuplanen.
Dugins „Ansichten eines Clowns“ sind (mit Einschränkungen) zu bejahen:
МАНИФЕСТ АРКТОГЕИ DAS ARKTOGEA-MANIFEST [Link zugefügt – G. K.]
[Nachfolgender Text, der aus copy & paste des o. e Links bestand, entfernt – G. K.]
Nachträglich für „unseren“ größten Intellektuellen und Dichter der Gegenwart Botho Strauss zum 70. Geburtstag,
herzlichst ALLES LIEBE!!!
Kommentar #7 ist eine Notizenhalde. Das macht wenig Sinn.
ad Mete: Das Zitat fasst Staat vs. Bürgertum als Heterogenität. Ich wollte die beiden Ebenen (demokratisches System – politisches Subjekt) hervorheben, die m.M.n. nicht deckungsgleich sind. Der Staat kann mit einer Vielzahl von RelGem umgehen, aber das politische Subjekt ist nicht voraussetzungslos wie eine theoretische Schablone. Es nimmt stets Bezug auf seine höchst eigenen Gemeinschafts-Kategorien, und kann keinen universalen Standpunkt einnehmen. Daher die Tragik von Minister Kurz.
Dass wir (selektiv) trotzdem modern sind, ändert nichts am Strukturproblem, welches Unruhe »im Volk« erzeugt. Denn der Mensch ist zwar blöd (Beckett), aber so blöd ist er dann auch wieder nicht... Ergänze: um zu merken, dass die Politiker heucheln müssen, um die staatlichen Strukturen zu erschaffen.
@petervonkloss
Bitte bleiben Sie beim Thema. Hier soll in der Sache diskutiert und nicht irgendwelche Statements abgesondert werden. Wenn Sie Botho Strauß gratulieren wollen, machen Sie das anderswo.
Pingback: Staat und Religion | Makulatur
Pingback: Kwaku Ananse » Staat und Religion
Ich habe als Kommentar einen eigenen Beitrag geschrieben:
Staat und Religion
@Köppnick
Dein Kommentar ist ein Ärgernis, weil ich anderes schrieb als Du behauptest, dass ich hätte (siehe dort).
@die kalte Sophie
Für eine Änderung im Strukturproblem wollte ich damit gar nicht argumentieren (aber dass wir gar nicht modern wären, stimmt dann doch nicht).
Nee, sag’ ich ja. Wir sind schon modern, genau deshalb schleppen wir die Ambiguitäten und Unvereinbarkeiten mit uns rum. Ich bin nicht direkt gegen die Moderne, sie scheint mir aber kein großer Wurf zu sein. Wie soll ich das ohne Missverständnisse zu erzeugen ausdrücken... Versuch: die Bedeutung der Moderne liegt darin, dass sie unlösbare Konflikte oberflächlich befriedet. Sie kann sie nicht lösen. Anderes Beispiel, die fehlende Metaphysik: sie wird sie niemals beibringen. Kein Dach, weiterhin. Es wäre eine typisch »amerikanische« Schlussfolgerung zu sagen: Eben deshalb ist sie großartig. Jeder kann seine eigenen Unfertigkeiten unter die großen Fragen mischen. – Fällt gar nicht weiter auf (subsidiärer Individualismus).
Ich reagiere anders, ich sage: also wird man auch in Zukunft nicht viel erwarten dürfen (Dystopie). Und in Richtung Amerika: Es lebe der kosmologische Narzissmus.
Wahrscheinlich können wir uns darauf einigen, dass »die Moderne« selbst ambivalent ist, spätestens seit dem wir sie mit »spät« näher beschreiben; sie bedarf der Kritik, ja, aber dann? Verwerfen »können« wir sie nicht, in eine postmoderne Beliebigkeit auflösen auch nicht, auch wenn ich mich selbst mal in diese Richtung bewegt habe, schon deshalb, weil die diversen archaischen Strömungen dann einen überwältigenden Sieg davon tragen würden (inklusive ganzer Ströme von Blut): Das Krachen im Gebälk und unser Lebensgefühl zeigt uns, dass sich etwas ändern muss; die Frage ist, was das sein könnte (ein neuer Entwurf lässt sich leicht veranschlagen, wäre aber in seinem Überwindungsdenken wiederum genuin modern ... ich weiß es nicht).
Das Bewusstsein des Menschen arbeitet mit Worten und Zahlen, das Unterbewusstsein mit Bildern und Metaphern. Das Unterbewusstsein lässt sich programmieren und damit der Kulturmensch durch selektive geistige Blindheit an eine noch fehlerhafte Makroökonomie anpassen, indem elementare makroökonomische Zusammenhänge mit archetypischen Bildern und Metaphern exakt umschrieben und diese dann mit falschen Assoziationen und Begriffen verknüpft werden, an die der Untertan glaubt. Der Glaube an die falschen Begriffe erzeugt eine geistige Verwirrung, die es dem Programmierten so gut wie unmöglich macht, die makroökonomische Grundordnung, in der er arbeitet, zu verstehen; noch weniger kann er über die Makroökonomie, die in den Grundzügen seine Existenz bestimmt, hinausdenken. Diese Technik, die in früheren Zeiten – etwa bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert – noch eine exakte Wissenschaft war und die nur von eingeweihten Oberpriestern betrieben werden durfte, nennt sich »geistige Beschneidung von Untertanen«, bzw. Religion = Rückbindung auf künstliche Archetypen im kollektiv Unbewussten. Auch das, was heute »moderne Zivilisation« genannt wird, entstand aus der Religion:
http://www.deweles.de/files/gen1-1_11‑9.pdf
»Im Anfang war das Wort«, was bedeutet: Wer den Text nur gehört oder gelesen, aber ihn nicht verstanden hat, befindet sich im »Programm Genesis« und kommt nicht wieder heraus, bis er den Text verstanden hat. Dass der Text NICHT verstanden wird, ist die Aufgabe aller jüdischen, katholischen und islamischen Priester, auch wenn sie schon lange nicht mehr wissen, was sie tun (die katholischen und islamischen Priester wussten es nie, und die jüdischen Oberpriester etwa bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert). Denn es ist irrelevant, welchen Unsinn die Schweinepriester (seit die Religion schädlich ist, darf man das sagen) von sich geben; Hauptsache, die eigentliche, rein ökonomische Bedeutung des Textes bleibt im Verborgenen und damit die ganze halbwegs zivilisierte Menschheit im längst veralteten Programm. Wer hat etwas davon? Niemand. Außer, dass in »dieser Welt« ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung mit eigentlich sinnfreien Tätigkeiten beschäftigt ist, die von den sinnvoll Beschäftigten mitbezahlt werden müssen. Doch die Einbildung, wir lebten in der »besten aller möglichen Welten«, gehört bekanntlich zur so genannten Allgemeinbildung...
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/11/macht-oder-konkurrenz.html
@ mete
Da sind wir einig. Ich habe inzwischen auch den Sprachgebrauch »Spätmoderne« adaptiert, ich hoffe im konventionellen Sinne. Die Moderne gelangt in die Gleitphase (nach der Steigphase), muss Ungleichzeitigkeiten geschehen lassen, verliert die ganzheitliche Teleologie, etc.
Was Sie ansprechen, beunruhigt mich ebenfalls. Man muss einwirken, und die Zumutung der Randständigkeit ignorieren. Man muss gemeinsame Existenzialia bestimmen, ohne auf die Auflage bzw. die Klicks zu schielen. Der alte Traum einer ungetrübten Humanität braucht ein Refugium, das beschrieben und beschützt werden muss. Es gibt so verdammt viel zu tun.
@Stefan Wehmeier
Stimmt, den islamischen Priesterstand hatte ich ganz vergessen. — Oder gibt es den am Ende gar nicht?
@die kalte Sophie
Es ist ein bisschen so als wüsste, ja hörte man, dass jede Menge Sand im Getriebe ist; zugleich aber hat man keine Ahnung was denn zu ändern wäre (vielleicht auch, weil uns manches ganz gut gefällt).
@ Wehmeier
Verstehe rein gar nichts. Die Religion weigert sich partout, in ökonomische Betrachtungen einzutreten (christliche Soziallehre längst passé). Wie kann die Eroberung von Archetypen indirekt die Reflexion über die Ökonomie verhindern?! Ist das nicht ein bloß ein Analogie-Schluss, gemäß dem Schema: die Priester sagen nichts darüber, also wird’s für mich (Subjekt) nicht wichtig sein...
@Mete
Merkwürdig, ja. Die Wahrnehmung der Disfunktionalität der Gesellschaft scheint nicht nur mit dem Verstand (Quartalszahlen, Kritik) sondern auch über die Haut und andere Sinnesorgane zu geschehen. Diese sagen mir: So viel Reibung kann nicht nur von Dummheit verursacht sein. Die perfekte Sozialisation scheint abgewehrt zu werden. Was passt dem Menschen nicht?! Hatte schon die Idee, dass wir es mit einer non-anthropogenen Gesellschaft zu tun haben, einem unpassenden Überbau auf die biologische Matrix. Passen Mensch und Gesellschaft (als Komplex) am Ende gar nicht zusammen?!
So, jetzt komme ich auch einmal der Chronistenpflicht nach.
@die kalte Sophie
Da gibt es sicherlich einige Gründe und Ursachen, etwa die ökonomische Organisation, fehlende Sinnstiftung, fehlende Gemeinschaft, die Rasanz der Lebenswelt (das Zerinnen der Zeit) ... vielleicht liegt der eigentliche Mittelpunkt nicht mehr im Zentrum?
die kalte Sophie sagt:
4. Dez. 2014 um 9:47
„Kommentar #7 ist eine Notizenhalde. Das macht wenig Sinn.“
Na dann lesen Sie mal die „Notizen“ oder „Daß fast alles anders ist“ von Ludwig Hohl, deren Sinn sich auch nicht unmittelbar erschließt und er- Albin Zollinger zitierend – das Wesen seiner fragmentarischen Literatur charakterisiert:
„Jetzt stand er außerhalb jeder Ordnung, im Freien der Urangst, angeweht vom Luftzug aus Gründen des Todes.“
@ peter
Mag schon sein, aber »außerhalb jeder Ordnung« impliziert: »Jenseits der Kommunikation«. Das Auf- und Zuwerfen von Texten ist dekadent. Die Kommentare werden in der Regel spontan verfasst, und beanspruchen nur eine lokale Relevanz.
@mete
Ich glaub’, ich weiß, was Sie meinen. Die Mitte war eine geteilte Illusion. Und da stellt sich das Auffinden der »eigentlichen« Mitte als Ralley an den Rändern dar. Es lebe das Denken, oder: Wohl und Wehe jenen, die die Vergötzung eines abstrakten Subjekts immer mehr zugunsten eines unbeendbaren Abenteuers an den Grenzen des Selbst ausschlagen!
Oder so ähnlich.
»Verstehe rein gar nichts.«
Das sollen Sie ja auch nicht. Genau das ist eigentliche Aufgabe aller jüdischen, katholischen und islamischen Priester, auch wenn sie schon lange nicht mehr wissen, was sie tun:
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/11/einfuhrung-in-die-wahrheit.html
Verstehe. Ein weiterer großer Widersacher der Wahrheit ist übrigens der Irrtum. Zusammen sind sie, die Lüge und der Irrtum, allzu mächtig. Verneigen wir uns vor ihnen!
DFTT
@die kalte Sophie
Eine Bekannte sagt, wenn es ihr nicht gut geht, in fast verzweifeltem Tonfall, dass sie morgen funktionieren müsse (da tut sich für mich exemplarisch zumindest ein Teil der gesellschaftlichen Problematik auf).
—
Ein (negatives) Beispiel zu den Schulen und zur Auslandsfinanzierung, dort.
Die Schulen müssen unbedingt aus den weltanschaulichen Konflikten heraus gehalten werden. In Bayern, zumal abseits der Zentren, ist die Verbindung von Schule und Kirche (wie gewachsen) sehr stark. Die allermeisten »Privatschulen« sind ebenfalls in kirchlicher Hand. Für die Anders-Gläubigen gibt’s Ethik-Unterricht, that’s it. Ich bin über diese enge Konstellation nicht eben glücklich, sehe aber kein dringliches Argument, das itzo heute eine laizistische Säuberung der Strukturen begründen könnte. Wer eine Rechnung mit der Kirche offen hat, wird seine Ressentiments gerne in »progressive Politik« ummünzen. Aber selten bleiben solche Motive unbemerkt.
Die Saudi-Schule ist ein gutes Beispiel für schlechte Schulpolitik. Eine Schule in voller Breite mit halbseidenen Organigramm und zweifelhaften Personal. Wer hat das zu verantworten?! Das Grauen.
Ich habe die Befürchtung, dass es noch mehr »Überanpassungsleistungen« von Politik und Behörden geben könnte. Da wird nur Porzellan zerschlagen. Gerade die Katholische Kirche erlebt seit 20 Jahren eine enorme Legitimationskrise, weil man Dogmen und Lehre überstrapaziert hat. Der Versuch Ratzingers, den Glauben auf eine verstandes-kompatible Ebene zu heben, die ersehnte Hochzeit von Theologie und Intellekt, ist der ärgste Ausschlag für dieses falsches Selbstverständnis. Man wollte mithalten, mit Natur- und Geisteswissenschaften, und sieht sich jetzt auf der Verliererstraße. Will sagen: Krise an allen Fronten, auch im christlichen Lager.
Stichwort Funktionalität: In der Tat ist der Maschinenmensch noch immer eine »aktive Utopie«, denn das Funktionieren fordert man/frau unentwegt von sich und anderen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst zu instrumentalisieren, sich auszubeuten, sich zu verkaufen, dass man am liebsten gar nicht wissen möchte, was die Leute so aus sich machen. Frauen sind die besseren Zombies! Vor 50 Jahren war noch Selbstverwirklichung angesagt, jetzt geht der Trend eindeutig zur Selbstausbeutung. N.b.: Natürlich nur bei jener Sorte Leistungsmensch, die es gewohnt sind, viel von sich zu fordern.
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Das Christentum (und der Sozialismus) nach der Weihnacht.
Ein Gott erscheint, und andre müssen weichen.
Statt Wahrheit Irrtum nur mit neuen Zeichen.
Wir stehen jetzt in anderer Ewigkeit,
und gleichwohl: besser war die alte Zeit.
Blind pflügt die Wissenschaft die Erde um.
Ihm Wahn erträumt der Glaube seinen Kult.
Ein neuer Gott ist nur ein Wort. Darum glaub
nicht und such nicht: Alles ist okkult.
Fernando Pessoa
Für sehr Viele ist es nun wichtig geworden, sich ehrlich einzugestehen, dass man mit seinen fortschrittlichen Idealen und Vorhaben so gut wie gescheitert ist und nun offensichtlich zu den Verlierern gehört.
Ich habe Peter Sloterdijk (innerlich zustimmend ) gesagt, daß es mit dem Christentum oder dem Weltkapitalismus/Weltsozialismus (Westen) noch viel schlimmer ist als er es hier aus pädagogischen Gründen nur andeutet.
Es verletzt bei vielen tiefgehende Gefühle die auch bei aufgeklärten Verhältnissen nicht aufgedeckt sein wollen.
In meinen früheren Kommentaren habe ich immer wieder versucht diese Zusammenhänge mittels meiner beschei-denen Mittel in diesem Blog (Wiesaussieht) aufzuzeigen.
Das paulinische Christentum und der deutsche Protestantismus sind letztlich die entscheidenden areligiöse Formen der technischen Welterzeugung, die sie als entäußerte Form der echten Mystik für Krethi und Plethi erzeugen.
Ich habe immer wieder Heraklit als komplementäres Momentum darzustellen versucht.
Schon Celsus´ aristokratischer Ärger über das Massenwesen der Christen bezeugt, daß die antike – insbesondere in seinem Fall – platonisch-esoterische Weisheit davon lebte, daß sie hermetisch und nur Wenigen und Fähigen zu-
gänglich war.
Nach Celsus ist Jesus ein Betrüger und Zauberer gewesen. Meiner Ansicht nach ist er nichts anderes
als eine orientalische Form des nordischen Schamanen und das eigentliche „Intellektualverbrechen“ liegt nach Nietzsche in Paulus, soweit es überhaupt einer Person zurechenbar ist.
[copy&paste entfernt – G. K.]
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/zeitgenossen/?em_cnt=722312&em_cnt_page=3
Argumente des Celsus:
„Es sei absurd zu glauben, dass sich die höchste Gottheit in einen menschlichen Körper begebe, noch dazu einen normalen und unauffälligen, dem man das Göttliche nicht ansieht, und dass Gott sich mit Bösem und Hässlichem abgebe und dem Leid aussetze.[13] Außerdem sei nicht einsichtig, dass Gott dies erst zu einem bestimmten Zeitpunkt getan habe und nicht schon früher.[14]
Es sei unsinnig zu glauben, dass Gott sich um die Juden und die Christen mehr kümmere als um die übrige Welt und nur zu ihnen seine Boten entsende. Ebenso könnten Würmer oder Frösche sich einbilden, dass das Weltall ihretwegen bestehe und dass Gott sie gegenüber allen anderen Wesen bevorzuge.[15]
Wenn alle Menschen so wie die damaligen Christen sich der Beteiligung an der staatlichen Gemeinschaft verweigern würden, müsse das Reich zugrunde gehen; dann würden Barbaren die Macht übernehmen und jegliche Zivilisation und Weisheit vernichten. Auch vom Christentum bliebe dann schließlich nichts übrig.[16]
Dem linearen, eschatologischen Geschichtsverständnis der Christen stellt Kelsos eine zyklische Geschichtsdeutung entgegen. Nach seiner Überzeugung strebt die Geschichte nicht einem Endpunkt wie dem Weltuntergang und Jüngsten Gericht zu, sondern ist ein ewiger Kreislauf.[17]
Es gebe keinen Grund anzunehmen, die Welt sei um des Menschen willen geschaffen worden. Eher könne man sogar behaupten, sie sei um der Tiere willen da. Zwar würden die Tiere vom Menschen gejagt und verspeist, aber das Umgekehrte komme auch vor und sei früher – bevor die Menschen Waffen, Netze und Jagdhunde einführten – sogar der Normalfall gewesen. Daher scheine Gott eher die Raubtiere bevorzugt zu haben, da er ihnen ihre Waffen schon mitgab. In Wirklichkeit sei die Welt jedoch eine Gesamtheit; es sei nicht einer ihrer Teile um des anderen willen da oder eine Gattung von Lebewesen wegen einer anderen geschaffen, sondern jeder Teil bestehe unmittelbar im Hinblick auf das Ganze.[18]
Es sei ein Widerspruch, dass Jesus als Sohn eines Zimmermanns bezeichnet wird und zugleich sein Stammbaum zu den jüdischen Königen zurückverfolgt wird.[19]
Jesus drohe und schimpfe, weil er unfähig sei zu überzeugen.[20]
Die Christen seien ungebildet und betrachteten dies nicht als einen Mangel, sondern als ob es ein Verdienst wäre. Sie meinten, ein Ungebildeter habe besseren Zugang zur Wahrheit als ein Gebildeter.[21]
Es sei unsinnig anzunehmen, dass Gott außerstande gewesen sei, sein eigenes Geschöpf Adam zu überzeugen.[22]
Es sei lächerlich, Gott menschliche Leidenschaften wie Zorn zuzuschreiben.[23]
Die Lehre von der Auferstehung des Fleisches unterstelle Gott ein naturwidriges und unsinniges Verhalten.[24]
Es sei abgeschmackt anzunehmen, dass Gott nach dem Sechstagewerk der Schöpfung einen Ruhetag benötigt habe, als wäre er wie ein Handwerker nach der Arbeit ermüdet.[25]
Es werde nicht einsichtig gemacht, warum man glauben soll, sondern der Glaube werde als Voraussetzung für die Erlösung einfach gefordert.[26]
Der Teufelsglaube, also die Idee, dass Gott einen Widersacher habe, sei ein Zeichen von größter Ignoranz. Wenn es den Teufel gäbe und er die Menschen betrogen hätte, so gäbe es für Gott keinen Grund, den Betrogenen zu drohen; überhaupt drohe Gott niemandem.[27]“
http://www.gkpn.de/Pfahl-Traughber_AntikeKritiker.pdf
„Berücksichtigen sie bitte bei den Dienstleistungen der Berliner Bürgerämter die Allzuständigkeit.“
——–Das muß man sich mal vorstellen.
Ich hingegen empfehle CELSUS „GEGEN DIE CHRISTEN“ Matthes & Seitz.