»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

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Li­te­ra­tur fur­niert

Über­le­gun­gen zu Ten­den­zen ge­gen­wär­ti­ger Li­te­ra­tur Nach der Lek­tü­re von Hel­mut Böt­ti­gers »Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung« möch­te man Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers Text über den »Tod der Li­te­ra­tur« vom Kurs­buch 1968 in Gän­ze le­sen. Mög­lich ist es u. a. im Sam­mel­band »Pa­la­ver – Po­li­ti­sche Über­le­gun­gen 1967–1973«, der 1974 er­schie­nen war. Der Text trägt den et­was kryp­ti­schen ...

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Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Es gibt in­zwi­schen un­zähl­ba­re ana­ly­tisch-hi­sto­ri­sche Be­trach­tun­gen zu der Epo­che, die all­ge­mein ver­kür­zend mit »1968« be­zeich­net wird (und die ei­gent­lich 1966 be­gann). In den letz­ten Jah­ren sind nun ver­mehrt Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen, die ein­zel­ne Jah­re aus dem 1970er-Jahr­zehnt un­ter­su­chen und hi­sto­ri­sche Zä­su­ren ent­deck­ten, die maß­geb­lich den Vor­gang der Ge­schich­te be­stimm­ten. So ana­ly­sier­te Kar­sten Kram­pitz das Jahr 1976 als An­fang vom En­de der DDR (und so­mit in­di­rekt auch des »re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus«) . Der Hi­sto­ri­ker Frank Bösch li­ste­te in Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann wich­ti­ge welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als rich­tungs­wei­send auf. Und der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Phil­ipp Sa­ras­sin un­ter­such­te un­längst mit 1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA«, die sich, so die The­se »im Jahr 1977 bün­deln las­sen« (das Er­geb­nis über­zeugt eher we­ni­ger).

Der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger nimmt sich nun auf fast 500 Sei­ten (mit 37 Ab­bil­dun­gen) des gan­zen Jahr­zehnts an. In Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung (an­ge­lehnt an den Ti­tel ei­ner Er­zäh­lung von Pe­ter Hand­ke) re­sü­miert er die 1970er-Jah­re als ei­ne »wil­de Blü­te­zeit der deut­schen Li­te­ra­tur« (so der Un­ter­ti­tel). Im Un­ter­schied zu den oben ge­nann­ten Bü­chern sucht Böt­ti­ger nicht zwang­haft nach hi­sto­ri­schen Wen­de­punk­ten, son­dern ver­sucht zu be­schrei­ben, wie die 68er-»Revolution« und ih­re Aus­wir­kun­gen in die Li­te­ra­tur po­li­tisch und vor al­lem äs­the­tisch über­führt wur­de.

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Zit­tern und Lust

»Die be­vor­ste­hen­de Ka­ta­stro­phe wird mit Zit­tern und zu­gleich mit Lust be­schwo­ren, mit Angst und zu­gleich mit Sehn­sucht er­war­tet. So wie in der deut­schen Ge­sell­schaft zwi­schen den bei­den Welt­krie­gen Kla­ges und Speng­ler den apo­ka­lyp­ti­schen Ton an­ga­ben, so fun­gie­ren heu­te […] die öko­lo­gi­schen Kas­san­dras als Buß­pre­di­ger ei­ner Klas­se, die nicht mehr an die ei­ge­ne Zu­kunft glaubt; ver­än­dert ...

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst

Hans Magnus Enzensberger: Fallobst - Nur ein Notizbuch
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst – Nur ein No­tiz­buch

Fall­obst ge­hört, wie man nach­le­sen kann, zur Ka­te­go­rie »Wirt­schafts­obst«. Da­mit wird Obst be­zeich­net, wel­ches als Ta­fel­obst »nicht ge­eig­net«, aber den­noch und zur wei­te­ren Ver­ar­bei­tung oder Zu­be­rei­tung vor­ge­se­hen ist (wie z. B. als Most). Wenn je­mand wie Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sei­ne No­ta­ten­samm­lung als »Fall­obst« be­zeich­net, ist das ein we­nig ei­tel. Was durch den Un­ter­ti­tel »Nur ein No­tiz­buch« fort­ge­setzt wird.

Es ist ein um­fang­rei­ches No­tiz­buch mit mehr als 360 Sei­ten, bis­wei­len auf­ge­lockert von Il­lu­stra­tio­nen des 2011 ver­stor­be­nen Bernd Bex­te, dem En­zens­ber­ger am Schluß ei­ne klei­ne Hom­mage wid­met. Die ein­zel­nen No­ta­te sind nicht da­tiert; mit et­was de­tek­ti­vi­schem Ge­spür lässt sich der Zeit­raum ir­gend­wo zwi­schen 2012 und 2018 ver­or­ten. Die Un­ter­tei­lung in drei »Kör­be« (der er­ste um­fasst da­bei fast 300 Sei­ten) wirkt et­was my­ste­ri­ös. Ge­gen En­de wer­den die No­ti­zen et­was aus­führ­li­cher.

Be­son­ders zu Be­ginn gibt es sehr vie­le Zi­ta­te. Der Grund­ton der ei­ge­nen No­ta­te ist hei­ter und lau­nig. Da sind ety­mo­lo­gi­sche Sprach­spie­le, die bis­wei­len in Li­sten mün­den. Bei­spiels­wei­se über »Sucht­ge­fah­ren« – d. h. Haupt­wör­ter, die mit »-sucht« er­gänzt wer­den kön­nen, oder auch »Lü­ste« auf »-lust«. Oder Su­che nach Wör­tern, die et­was mit »Spit­zen-« zu tun ha­ben. Auf­ga­ben, die man Gym­na­sia­sten stel­len könn­te. Hübsch die­se kur­ze Ab­hand­lung über die Kunst des »Schwur­belns«. Und es gibt so­gar ei­ne Auf­zäh­lung von be­son­ders »ge­lun­ge­nen« Schla­ger­rei­men. Be­grif­fe wie »Ho­heit«, »sa­lopp« oder auch das in­zwi­schen in­fla­tio­när ver­wen­de­te »gut auf­ge­stellt« wer­den auf­ge­spießt (er wür­digt en pas­sant die Jour­na­li­stin Ga­brie­le Gött­le für ihr Sprach­ge­fühl).

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Ei­ne Ex­per­ten-Re­vue in 89 Num­mern

Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Ei­ne Ex­per­ten-Re­vue in 89 Num­mern

Seit vie­len Jah­ren zeigt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sei­ne Zu­nei­gung zum En­zy­klo­pä­di­schen, zur Samm­lung des Wis­sens. In sei­ner »An­de­ren Bi­blio­thek« war der größ­te En­zy­klo­pä­dist des 18. Jahr­hun­derts, De­nis Di­de­rot, im­mer wie­der als Au­tor prä­sent. 2013 – En­zens­ber­ger war nicht mehr bei Eich­born in­vol­viert – er­schien dort in ei­ner neu edi­tier­ten Pracht­aus­ga­be Di­de­rots En­zy­klo­pä­die.

Der En­zy­klo­pä­dist sam­melt nicht nur, er ord­net auch, wägt ab, trennt Un­wich­ti­ges von Wich­ti­gem. Sei­ne Aus­wahl ist im­mer sub­jek­tiv. Für sei­ne text­li­che Ver­ar­bei­tung hin­ge­gen gilt das Ob­jek­ti­vi­täts­ge­bot. Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers »Ex­per­ten-Re­vue in 89 Num­mern« ist nicht di­rekt ein en­zy­klo­pä­di­sches Buch. Es sind per­sön­li­che An­mer­kun­gen und Va­ria­tio­nen des Au­tors En­zens­ber­ger zu dem, was den Men­schen vom Tier un­ter­schei­det: Der Ar­beits­tei­lung und der Spe­zia­li­sie­rung.

Zu Be­ginn wird in ei­nem Dia­log »der Na­tur mit ei­nem Un­zu­frie­de­nen« der »Dä­mon der Ar­beits­tei­lung« als der Kern »vor­läu­fi­gen Sie­ges« des ei­gent­lich hin­fäl­li­gen und schwa­chen Men­schen auf dem Pla­ne­ten Er­de halb be­wun­dernd, halb ver­äng­stigt kon­sta­tiert. Ar­beits­tei­lung im­pli­ziert Spe­zia­li­sten- und Ex­per­ten­tum. Aber: »Die mei­sten [Ex­per­ten] ha­ben ei­nen Spar­ren und ja­gen ganz blöd­sin­ni­gen Pro­jek­ten nach.« Und es gibt, so er­klärt die Na­tur dem Un­zu­frie­de­nen, drei be­son­de­re Me­ta-Ex­per­ten, »Ex­per­ten des Ex­per­ten­tums«. Sie wer­den mehr an­ge­deu­tet als ge­nannt (kei­ne Sor­ge – sie sind pro­blem­los zu ent­schlüs­seln): Ber­nard Man­de­ville (»Der un­zu­frie­de­ne Bie­nen­stock«), Adam Smith und – na­tür­lich – Karl Marx.

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten

Hans Magnus Enzensberger: Eine Handvoll Anekdoten - auch Opus incertum
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger:
Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten – auch Opus in­cer­tum

»Ei­ne Hand­voll An­ek­do­ten« nennt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sein neue­stes Buch und da ist auch schon das er­ste von so vie­len Un­der­state­ments. Denn es sind ins­ge­samt 107 Ge­schich­ten, Fund­stücke (der Un­ter­ti­tel: »Opus In­cer­tum«!). Ex­kur­sio­nen in die Ver­gan­gen­heit ei­ner Kind­heit und Ju­gend. Die Aus­flü­ge wer­den ein­hundertzwanzig Mal kon­ge­ni­al be­bil­dert; sehr viel aus dem »FAE«, dem Fa­mi­li­en­ar­chiv En­zens­ber­ger (nur man­ches ist über­flüs­sig – ei­nen Schä­fer­hund kennt man schon heut­zu­ta­ge noch). Ge­le­gent­lich ver­lässt En­zens­ber­ger die Er­eig­nis­se, er­zählt vom Schick­sal der Per­so­nen oder lei­tet aus dem Ge­sche­hen Prä­gun­gen für sein wei­te­res rest­li­che Le­ben ab.

Die Haupt­fi­gur heißt »M.«, wo­mit na­tür­lich der Ver­fas­ser ge­meint ist. Oder, et­was ge­nau­er: M. ist die Fi­gur, wie sich En­zens­ber­ger heu­te an sei­ne Kind­heit und Ju­gend er­in­nert. Die drit­te Per­son Sin­gu­lar ist da­bei die kleinst­mög­li­che Dis­kre­ti­ons­stu­fe, wenn es um sich und sei­ne Fa­mi­lie geht. »Wenn er über sich sel­ber schreibt,//schreibt er über ei­nen an­dern.«, so heißt es denn auch in ei­nem vier­zei­li­gen »En­voi« am En­de. Den­noch: Ein So-tun-als-ob gibt es für den 89jährigen nicht. En­zens­ber­ger ver­sucht erst gar nicht, die kind­li­che oder ju­gend­li­che Er­zähl­per­spek­ti­ve zu si­mu­lie­ren. Da­für weiß er zu ge­nau wie es (mit und oh­ne ihn) wei­ter geht.

Es be­ginnt chro­no­lo­gisch (in den er­sten Jah­ren noch leicht in­ter­mit­tie­rend). Vom Ge­burts­jahr 1929 hat der Er­zäh­ler des Er­zäh­lers na­tur­ge­mäß nur we­nig in Er­in­ne­rung. Ir­gend­wann je­doch ei­ne nicht en­dend wol­len­de Schlan­ge von gel­ben Post­au­tos – pas­send zum »Post­as­ses­sor« des Va­ters, der auch noch als Kom­par­se in Stumm­fil­men und als Ra­dio­an­sa­ger tä­tig war. Un­ter­for­dert sei er in sei­ner Tä­tig­keit ge­we­sen. In sei­ner Frei­zeit bau­te er ei­ne Holz­ei­sen­bahn, zeich­ne­te Ent­wür­fe zu Bau­wer­ken und pho­to­gra­phier­te.

Ja, Mit­glied in der Par­tei war er schon, der Va­ter. Weil er sei­nen Sta­tus als Be­am­ter nicht ver­lie­ren woll­te (er stieg auf zum »Te­le­gra­phen­di­rek­tor«). Jah­re spä­ter lauscht M. ei­nem Ge­spräch des Va­ters mit ei­nem Freund. Ei­ne bes­se­re Po­si­ti­on ha­be man ihm an­ge­bo­ten, in Ber­lin. Aber das woll­te er nicht, die­ses Sich-ge­mein-Ma­chen. Und als der ei­gent­lich ZbV ein­ge­stuf­te 1940 für den Neu­auf­bau des Pa­ri­ser Te­le­fon­net­zes für ei­ni­ge Mo­na­te zum »Etap­pen­ha­sen« wird, abon­niert er nach sei­ner Rück­kehr wei­ter­hin die »Brüs­se­ler Zei­tung«, die et­was un­ab­hän­gi­ger als der »Völ­ki­sche Be­ob­ach­ter« be­rich­tet. Am En­de des Krie­ges sitzt er im Ge­fäng­nis we­gen »Wehr­kraft­zer­set­zung«. Kon­tak­te zum Wi­der­stand wer­den ver­mu­tet. Aber die An­klä­ger sind schon so klug, die Ak­ten ver­schwin­den zu las­sen. Was da­zu führt, dass die »Per­sil­schei­ne« des Va­ters den Ame­ri­ka­nern zu glatt vor­kom­men.

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Über­le­bens­künst­ler

»99 li­te­ra­ri­sche Vi­gnet­ten aus dem 20. Jahr­hun­dert« nennt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sei­ne Text­samm­lung »Über­le­bens­künst­ler« im Un­ter­ti­tel. Wer rät­selt wie dies ge­meint ist, wird im knap­pen aber deut­li­chen Vor­wort auf­ge­klärt. Über­le­bens­künst­ler ist hier na­he­zu wört­lich zu ver­ste­hen. Die Be­schrän­kung auf das 20. Jahr­hun­dert be­zieht sich auf die wich­tig­ste Le­bens­epo­che der Prot­ago­ni­sten. Das Buch ist nach den ...

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