Der Ausgangspunkt: Das Unbehagen mit Politik und Berichterstattung
Es wäre falsch zu behaupten, dass die Medien oder die Politik, die als eine solche Entität gar nicht existieren, in ihrer Gesamtheit ein schwarz-weißes Bild gezeichnet hätten und es noch immer tun, aber in der Breite der Berichterstattung, in dem was man so hört, dem das auch der politisch wenig Interessierte mitbekommt, tritt es deutlich zu Tage: Das Schwarze, das ist Russland oder personalisiert: Putin.
Dieses Bild, das viele Bürger zumindest ihrem Gefühl nach für falsch halten, bedarf der Korrektur, aber nicht im Sinne einer Umfärbung, der Farbe Weiß, sondern in der Wahl anderen Darstellung, einer in Graustufen: Ausgewogenheit statt zweierlei Maß.
In den nächsten Wochen werden die politischen Gesprächssendungen in Radio und Fernsehen nur ein Thema haben: Wer wird zukünftig im Bund regieren? Einen Vorgeschmack auf den Tsunami des Geschnatters vermeintlicher Experten hat man in den letzten Tagen schon bekommen. Ich erspare mir die Aufzählung der üblichen Verdächtigen.
Da werden veritable Gegenargumente für die Große Koalition aufgebracht. Man kann diese Phrasen allesamt in das Reich der Fabel verweisen. Es gibt keine andere Möglichkeit als die Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Man kann seine Lebenszeit besser verbringen, als der Kaffeesatzleserei unterbeschäftigter Medienvertreter anzuschließen. Was immer in den ach so schönen Planspielen der Diskutanten ausgeblendet wird: Die Situation im Bundesrat.
Es existiert schon lange, bricht immer wieder auf. Jetzt ist es wieder da, das Trauma der SPD. Es ist das Trauma der Unzuverlässigkeit, der mangelnden, fehlenden Staatstreue. Betrachtet man nur einmal die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit unglaublicher Frechheit gelang es den restaurativen und konservativen politischen Kräften in der neuen Bunderepublik die SPD als Kommunisten, mindestens jedoch Staatsfeinde hinzustellen. Dass es die SPD-Abgeordneten waren, die den Ermächtigungsgesetzen der Nazis nicht zugestimmt hatten – das wurde vergessen. Die SPD als verkappte Kommunisten – Goebbels’ Propaganda mobilisierte immer noch. »Keine Experimente« warnte man im Wahlkampf 1957 – es gab nie wieder einen größeren Sieg der CDU/CSU. Mit der sozial-liberalen Koalition 1969 und dem Machtverlust fand man sich nicht so ohne Weiteres ab. Willy Brandt wurde durch seine sogenannte Ostpolitik wieder einmal zum vaterlandslosen Gesellen denunziert, nachdem er bereits in den 50er Jahren ob seines Exils von Adenauer diffamiert wurde. Und das ein ehemaliger Kommunist wie Herbert Wehner geläutert sein könnte, das trauten diejenigen, die ein christliches Attribut in ihrem Parteinamen führten, nur ihren eigenen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Mitläufern zu.
Mit »Empathie und zugleich kritischer Distanz« habe sich der Biograph seinem Subjekt zu nähern, so Hans-Peter Schwarz im Epilog seiner politischen Biographie über Helmut Kohl. Der Leser hat dann bereits 940 eng gedruckte Seiten (zzgl. rd. 90 Seiten Annotationen) hinter sich gebracht. Schwarz’ Buch, das die Bereitschaft, sich auf das politische Leben Helmut Kohls en détail einzulassen, von seinem Leser mit einer konsequenten Radikalität abfordert, liegt einem zu diesem Zeitpunkt wie ein Kloß im Magen, obwohl es doch zunächst ein bekömmliches Gericht mit allenfalls gelegentlich überflüssiger Dekoration zu werden schien.
Dabei sind die Voraussetzungen ideal. Hans-Peter Schwarz, der als »der« Adenauer-Biograph gilt, basiert auf einer umfangreichen, komplexen Quellenlage. So konnten Sitzungsprotokolle eingesehen werden. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad Adenauer-Stiftung und das Pendant der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU in München standen zur Verfügung. Aus dem Unternehmensarchiv der Axel Springer AG wird zitiert. Am wichtigsten: 250 Schlüsseldokumente zur Außen- und Europapolitik aus dem Archiv des Bundeskanzleramtes wurden für Schwarz freigegeben, was die Kanzlerschaft Kohls zwischen 1982 und 1998 beleuchtet und zum Teil überraschende Einblicke gewährt. Schwarz führte Gespräche mit rund vierzig politischen Wegbegleitern (um nur einige zu nennen: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel, Volker Rühe, Bernhard Vogel, Walther Leisler Kiep), zitiert zum Teil aus deren Tagebüchern (oft unveröffentlichtes Material) und auch gelegentliche Mitteilungen Kohls an den Autor werden im Anmerkungsapparat vermerkt. Oft kombiniert Schwarz diese Informationen mit den zahlreich verfügbaren Memoiren und Erinnerungsbüchern der damaligen Protagonisten. All dies erzeugt bisweilen eine erstaunliche Echtzeitstimmung, die den Leser in den besten Momenten direkt an die Konferenztische führt. Man erfährt wie Kohl vorprescht, nachgibt, balanciert, antichambriert, taktiert aber auch tobt und lospoltert. So entsteht zuweilen ein multiperspektivisches Bild aus rund 50 Jahren bundesdeutscher und europäischer Politik.
Carsten Schneider ist der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er sagt oft etwas, weil er oft gefragt wird. So richtig habe ich seine Pseudo-Opposition, was die Griechenland-/Euro-Aktivitäten der Regierung Merkel angeht, nicht verstanden, denn immer wenn sogenannte Hilfspakete zur Abstimmung standen, stimmte Schneider zu. Gründe mag es dafür genug gegeben haben; ich sah sie nicht. Deshalb ist Carsten Schneider für mich kein Oppositionsabgeordneter mehr gewesen. Dass, was er sagte, war eine Kritik jenseits eines tatsächlich anderen Politikentwurfs; allzu oft nur ritualisierte Gegenrede.
Am Mittwoch früh horchte ich jedoch auf. Schneider sagte in einem Interview im Dudelsender WDR2: »Eine Entscheidung zu Griechenland ist in dieser Woche nicht vorstellbar.« Der Zeitdruck, den die Bundesregierung aufbaue, verhindere eine sorgfältige Entscheidung. Er sei auch gar nicht notwendig. Schneider bekannte, dass er sich nicht in ein, zwei Tagen für oder gegen die Beschlüsse entscheiden könne.
Wilfried Scharnagl: Bayern kann es auch allein
Irgendwie gehörte Wilfried Scharnagl schon immer dazu. Ich war nur überrascht, als ich in den 70er Jahren erfuhr, er sei »Journalist«. Unter einem Journalisten stellte ich mir einen wenigstens formal dialektischen, offenen Geist vor. Ein Irrtum, der mir ab und zu auch heute noch unterläuft, mich aber längst nicht mehr derart konsterniert wie damals. Zwar muss man auch Journalisten ihre eigene Meinung, ihr eigenes Weltbild, zugestehen. Aber wie kann jemand derart selektiv und parteiisch sein und sich gleichzeitig noch auf der Karte des Journalisten fahren? Da Scharnagl auf der politischen Seite stand, die ich rigoros ablehnte, kam mir die Verzerrung noch viel deutlicher vor. Aber wer sich derart zum Sprachrohr, zum Blindversteher seines Mentors, also Franz Josef Strauß, machte, verspielte jegliche Glaubwürdigkeit.
Mit Strauß’ Tod 1988 ließ Scharnagls mediale Präsenz nach. Sein Einfluss als Strippenzieher im Hintergrund dürfte jedoch längere Zeit noch erheblich gewesen sein. Auf Strauß folgte »Amigo« Streibl als bayerischer Ministerpräsident. Danach dann der »Saubermann« Stoiber, der in einem heute noch nicht einmal ansatzweise aufbereiteten CSU-internen Putsch 2007 zum Rücktritt gezwungen wurde. 2001, zwei Jahre nachdem Stoiber Ministerpräsident geworden war, hatte Scharnagl seinen Posten beim »Bayernkurier« geräumt. Aber noch heute nimmt er an Sitzungen der obersten CSU-Parteigremien teil. Er ist Mitglied des Vorstands der Hanns-Seidel-Stiftung. Und gelegentlich darf er in seinem immer noch polternden Stil in einer der zahlreichen Talkshows exotische Positionen einnehmen.
Gesetze auf ihre Verfassungstauglichkeit zu überprüfen, ist seit vielen Jahren fast zur Routine geworden. Längst gilt das Bundesverfassungsgericht als die letztbegründende Instanz unter anderem für Datenschützer, Bürgerrechtler, Verfassungsinterpreten und Parlamentarier. Insbesondere Gesetze und Richtlinien, die mittel- oder unmittelbar mit der EU zu tun haben, landen regelmäßig in Karlsruhe (man fragt sich zuweilen, wann eigentlich Peter Gauweiler mal nicht geklagt hat). Fast immer enden die Verhandlungen in mehr oder minder starke Rüffel für die Gesetzgebung. Schlampig gearbeitet, Fristen verstreichen lassen, ungenau formuliert, Institutionen übergangen – die Liste ließe sich noch beliebig erweitern. Die Urteile sind in der Regel populär, weil sie dem Empfinden vieler Bürger entsprechen.
Am Ende seines Buches über »Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011« knüpft Holm Sundhaussen, Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor des Berliner Kollegs für vergleichende Geschichte Europas, an seine Bemerkung vom Anfang an: Nicht »die Geschichte« ist es, die sich wiederholt. Der Mensch wiederholt sich. Dies sei die wichtigste Lehre, die ...