Gesetze auf ihre Verfassungstauglichkeit zu überprüfen, ist seit vielen Jahren fast zur Routine geworden. Längst gilt das Bundesverfassungsgericht als die letztbegründende Instanz unter anderem für Datenschützer, Bürgerrechtler, Verfassungsinterpreten und Parlamentarier. Insbesondere Gesetze und Richtlinien, die mittel- oder unmittelbar mit der EU zu tun haben, landen regelmäßig in Karlsruhe (man fragt sich zuweilen, wann eigentlich Peter Gauweiler mal nicht geklagt hat). Fast immer enden die Verhandlungen in mehr oder minder starke Rüffel für die Gesetzgebung. Schlampig gearbeitet, Fristen verstreichen lassen, ungenau formuliert, Institutionen übergangen – die Liste ließe sich noch beliebig erweitern. Die Urteile sind in der Regel populär, weil sie dem Empfinden vieler Bürger entsprechen.
Dabei wird oft übersehen, dass das Gericht insbesondere beim Thema Europa einen Spagat zu vollführen hat. Es muss die Balance zwischen seriöser Europakritik und demagogischem Anti-Europäertum einhalten. Weder darf sich das Gericht als Vorreiter zeigen noch als beinharter Verfechter des Nationalstaates. Es kippte zum Beispiel nicht den Euro und billigte am Ende den Lissabon-Vertrag. Dabei müssen das Verhältnis und die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs im Auge behalten werden. Zwar ist (und bleibt) das deutsche Grundgesetz Maßstab des Urteils, aber – und das wird allzu selten berücksichtigt – was ist, wenn Mehrheiten die entscheidenden Grundgesetzartikel verändern?
Es mag ja auf den ersten Blick eine lobenswerte Sache sein, wenn die Rechte des Parlaments durch das Gericht gestärkt werden und nicht nur die Verhandlungsergebnisse zur Abstimmung kommen. Das Lob von Herrn Lammert ist dem Gericht gewiss. Aber wer stutzt nicht bei der Erinnerung der Befragung der Abgeordneten zum ersten Rettungsschirm? Wer hat denn wirklich die tausenden Seiten gelesen – und dann verstanden? Wer kann in überschaubaren Zeiträumen valide Risikoeinschätzungen treffen? Und schließlich: Wie behandelt man in den Fraktionen die sogenannten »Abweichler«? Eine Initiative, die ihre Möglichkeiten innerhalb der Fraktionen noch eingeschränkt hätte, ist zwar vorerst vom Tisch. Aber die Stoßrichtung ist eindeutig: Wer nicht mit der Herde stimmt, erhält keinen »guten« Listenplatz mehr.
Hier kann kein Verfassungsgericht mehr helfen. Seine Entscheidungen zur umfassenden Einbeziehung des Parlaments sind zwar formal wichtig und richtig – in der Praxis bestimmen jedoch längst die »weichen« Institutionen in den Fraktionen. Die permanenten Anrufungen des Gerichts können dann sogar irgendwann kontraproduktiv sein. Wenn die »Linke«-Parteivorsitzende Kipping eine Klage androht, wenn der Fiskalpakt beschlossen werden sollte, weil mit dieser Politik »eindeutig der falsche Weg eingeschlagen wird«, müssten eigentlich die Alarmglocken klingen: Das Gericht hat keine Gesinnungsurteile zu fällen. Noch fataler wenn Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Zustimmung zum Fiskalpakt als Formalie herunterdekliniert. Das ist nicht nur anmaßend, sondern verächtlich und unwürdig.
Als Christian Wulff Anfang des Jahres als Bundespräsident zurücktrat, galt Andreas Voßkuhle als einer der potentiellen Nachfolger. Voßkuhle war erst knapp zwei Jahre vorher Präsident des Bundesverfassungsgerichts geworden. Früh winkte er ab. Dabei ist er längst der heimliche Präsident Deutschlands. Aber das ist eine Hypothek, keine Freude.
„Zwar ist (und bleibt) das deutsche Grundgesetz Maßstab des Urteils, aber – und das wird allzu selten berücksichtigt – was ist, wenn Mehrheiten die entscheidenden Grundgesetzartikel verändern?“
Du beschreibst doch den mittlerweile unhaltbaren Zustand genau. Wenn das Grundgesetz eine sogenannte „alternativlose“ Entscheidung nicht mehr hergibt, dann muss halt das Grundgesetz geändert werden. Findet sich dafür keine Mehrheit, ist so ein Gesetz verfassungswidrig. Es ist einfach ein Skandal, dass die jeweiligen Regierungen seit Jahren zunehmend wissentlich verfassungswidrige Gesetze beschließen lassen und darauf hoffen, zumindest in Teilen beim BVG damit durch zu kommen. Die Klagebegründung der „Linken“ ist natürlich völliger Humbug, aber ob der Fiskalpakt grundgesetzkonform ist, wage ich auch zu bezweifeln.
Tatsächlich ist das Grundgesetz in den mehr als 60 Jahren bis 2009 im Schnitt weniger als 1 x pro Jahr geändert worden. Das kann man genau hier nachlesen.
Die zum Teil handwerklich miserablen Gesetze erkläre ich mir zum Teil mit Zeitdruck, zum Teil auch mit einer gewissen Ignoranz gepaart mit Arroganz. Seit der Regierung Schröder ist das fast inflationär geworden. Gerade das kann jedoch dazu führen, dass Gesetze erst einmal beschlossen werden, weil man dann weiss, dass sie irgendwann wieder »kassiert« werden. Dann kann man dem BVerfG den schwarzen Peter zuspielen.
Ob der Fiskalpakt grundgesetzwidrig ist, vermag ich nicht zu sagen; ich bin kein Verfassungsrechtler und habe die entsprechenden Dokumente nicht gelesen. Grundsätzlich könnte man mutmaßen, dass jede Abgabe von Haushalts-Souveränität nicht mit dem GG vereinbar ist. Dann wäre es zwingend, es entsprechend zu ändern.
Ich denke, dass Katja Kippings bzw. der Antrag der Linken ok ist, wenn man den (pragmatischen) Sprüchen »Der Feind meines Feindes ist mein Freund«, »Der Zweck heiligt die Mittel« und ähnlichem wenigstens teilweise etwas abgewinnen kann. Die Stuttgart21-Gegner (mit dem Juchtenkäfer) und viele andere Initiativen verhalten sich ähnlich.
Was derzeit in der Finanzpolitik abläuft, kann kein gutes Ende nehmen. Praktisch versucht man die Fehler der Vergangenheit (es wurde zu viel Geld ausgegeben) dadurch zu korrigieren, dass man noch mehr Geld ausgibt. Die im Gegenzug angemahnten »Reformen« können nicht annähernd so viel Geld wieder aus dem Kreislauf nehmen, wie jetzt in die Finanzlöcher versenkt wird.
Naja, wenn jeder vor das BVerfG zieht, der seine Politik nicht verwirklicht sieht, kann man Doppel- und Dreifachschichten einfahren...
Natürlich sind beide Varianten, die (vermeintlich) zur Disposition stellen, nahezu gleich falsch. Im einen Fall spart man sich buchstäblich zu Tode. Und folgt man Keynes, dann wird unaufhörlich das gemacht, was zur Krise führte. (Das gilt auch für die Vergemeinschaftung der Schulden.)
Die USA praktizieren die Politik des billigen Geldes seit vielen Jahren; interessanterweise berührt es den Markt kaum. Daher raten auch sehr viele angelsächsische Ökonomen, Geld zu drucken. Dies würde eh’ niemals eingelöst werden; mit der so eintretenden Inflation wird sogar die Staatsverschuldung bekämpft.
Lustig das Vierertreffen heute mit D, F, I und ESP. Zwei der vier Länder sind in angespannter Lage; Frankreich braucht auch bald Geld. Sie vereinbaren ein »Wachstumspaket« in Höhe von 130 Milliarden. Ich bin gespannt, wie das Geld zusammenkommen soll.