Gemeint ist der Hinterbänkler (seltener: die Hinterbänklerin). Es ist ganz leicht, sich über sie zu amüsieren. Journalisten machen das sehr gerne. Erst verschaffen sie ihnen (endlich einmal) einen gewissen Raum – um sich dann darüber lächerlich zu machen. Man kennt das ja mit dem Hoch- und Runterschreiben. Der Hinterbänkler durchlebt diese Phasen in sechs Wochen. Andere Politiker brauchen dafür Jahre.
Außerhalb des Sommerlochs wird der Hinterbänkler nur bei ganz besonderen Ereignissen auf die Bühne geholt. Beispielsweise jetzt, da ein Bundespräsident mit seinen merkwürdigen Krediten und einem »Krieg« gegen den Springer-Verlag immer weiter für Schlagzeilen sorgt. Man lernt FDP- und CDU-Abgeordnete kennen, die sich von Wulff distanzieren und ihm Rücktritt nahelegen. Das sind, so liest man allenthalben, doch nur Hinterbänkler mit Profilneurose. Noch zeigen sich die Parteispitzen resistent, fordern – interessant genug – ein »Ende der Diskussion« (als könne man so etwas per Knopfdruck abstellen). Insbesondere die Wulff-Befürworter nehmen die Vokabel des Hinterbänklers in den Mund. Es ist ein Euphemismus, der eigentlich sagen soll: »Halt das Maul«. Oder: »Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen«. Wir wissen inzwischen, dass diese Verbalinjurien in der Politik (ebenso) an der Tagesordnung sind (wie sonst überall auch). So weit, so gut.
Der Hinterbänkler ist geduldet, solange er exotische bis lächerliche Vorschläge abgibt. Wenn er zu substantiellen Themen eine »abweichende« Meinung vertritt, wird er zum Abweichler. (Eher singulär ist der Abweichler, der mehr ist als nur ein Hinterbänkler – man könnte ihn vielleicht den »Bosbach« nennen.) Der abweichende Hinterbänkler geht ein Risiko ein: Unverhohlen drohen dann die Strucks, Münteferings und Kauders mit Konsequenzen. Wie war das noch mit dem Listenplatz bei der nächsten Wahl? Vielleicht doch etwas weiter unten? Oder, bei Direktkandidaten: Warum nicht einen stromlinienförmigen Konkurrenten aus der eigenen Partei als Gegenkandidaten aufbauen? Drohungen, hinter denen sich Wulffs Rubikon-Gequatsche wie ein Komödienstadl anhört.
Der Atem der Parteiführung ist lang: Offen werden Hinterbänkler kaum noch kritisiert; dies würde dem Image schaden. Intern dürfte dies anders aussehen. In zwei Jahren wissen wir mehr über Herrn Wellmann und Herrn von der Marwitz.
In seltenen Fällen wird der Hinterbänkler instrumentalisiert: Die Parteiführung wartet ab, bis sich ein, zwei Abgeordnete aus der Deckung wagen (auch hier also das scheinbar unvermeidliche bellizistische Vokabular). Damit testet sie die Reaktionen in Fraktion und Partei. Im filigranen Spiel zwischen Angriff, Gegenangriff und Verteidigung kann man nun erkennen, ob der eingeschlagene Kurs beibehalten werden soll (die Hinterbänkler also abgewiegelt werden) oder die Stimmung umschlägt und man seinerseits die Position zu verändern hat. Es wäre übrigens ein Irrtum zu glauben, der Hinterbänkler könnte im zweiten Fall einen Vorteil aus seiner Vorreiterrolle ziehen: Man liebt zwar den Verrat, aber nicht den Verräter.
Die Qualifizierung als Hinterbänkler ist mehr als nur die Sehnsucht nach dem Fetisch Geschlossenheit. Sie ist Ausdruck eines mindestens gestörten Verhältnisses zur Demokratie. Sie sagt aus, dass es Abgeordnete unterschiedlicher Relevanz gibt. Sie degradiert den »normalen«, d. h. nicht durch besondere Aufgaben hervorgehobenen Abgeordneten, zum Volksvertreter zweiter Klasse. Wer Hinterbänkler sagt, meint: ein Stimmvieh-Abgeordneter, der zu »funktionieren«, d. h. im Sinne der Fraktionsführung abzustimmen hat. Und ansonsten ist Ruhe die erste Abgeordnetenpflicht.
Eine Demokratie kennt keinen Hinterbänkler. Wer diese Vokabel pejorativ verwendet demaskiert sein aristokratisch-hierarchisches Demokratieverständnis. Man sollte sich vor solchen Leuten fürchten.
Man könnte sich den Hinterbänkler auch als öffentlichkeitsscheu vorstellen: Obwohl er substanzielle Arbeit leistet, tritt er kaum in Erscheinung – seine Öffentlichkeit steht entgegen seiner Bedeutung als Abgeordneter.
Eine Wortmeldung gewinnt dann an Bedeutung, wenn man sich gut positioniert äußert oder in den Chor Gleichgesinnter einreiht und diesen noch stimmgewaltiger macht. Das ist die vermeintliche Stunde der Hinterbänkler: Man holt sie hervor und benutzt sie – ihre Meinung ist endlich einmal gefragt! -, weil man einem Dritten (einer anderen öffentlichen Person) durch diese (gesteuerte, weil man eine bestimmte Antwort vorhersieht) Meinungsäußerung schaden will und kann.
Diese Deutung geht noch weiter als meine Instrumentalisierungsthese, aber auch das ist natürlich denkbar. In der Praxis dürfte es durchaus »Mischformen« geben: Instrumentalisierte wie auch »Freiwillige«, die sich geschmeichelt fühlen, endlich einmal wahrgenommen zu werden.
Ich halte so einen Gruppierung für wesentlich respektloser als zum Beispiel die Bezeichnung eines Präsidenten als Lügner. Das liegt ja aber nicht an dem Wort, das ja eine sehr bildliche und korrekte Beschreibung der Tatsache ist, dass sie meist eben dort sitzen, sondern an der Interpretation.
Wir (mein Umfeld und ich) sprachen und sprechen da immer von U‑Bootlern, die, auch wenn man sie gerade nicht sieht, unter der dem Aufmerksamkeitswasserspiegel treu ihre Arbeit verrichten und nur dann auftauchen, wenn es wirklich notwendig ist. Im Gegenteil zur öffentlichen Darstellung sind das übrigens Persönlichkeiten, die eben nicht plötzlich »abweichen«, sondern treue Streiter in der Sache sind, auch wenn die grossen Kreuzer vorne wieder einmal den Kurs ändern. (Nachteil: Das Kriegsjargon verlässt diese Beschreibung auch nicht. Man kann nicht alles haben.)