Hier habe ich mich neulich festgelesen:
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Nach Karlmann (2007) und Vaterjahre (2014) legt Michael Kleeberg nun mit Dämmerung den dritten (und letzten) Band der fiktiven Biographie von Karlmann Renn, genannt Charly, vor. Charly, Jahrgang 1959, erlebte in Karlmann die Zeit zwischen 1985 (es beginnt mit Boris Beckers erstem Wimbledon-Sieg) und September 1989. Vaterjahre spielt zwar nur an zwei Tagen (10.9.–11.9.2001), fasst ...
Da ist er also wieder: Frank Bascombe. Inzwischen 74 Jahre, sechs Jahre älter als bei den Erzählungen von Frank, die allerdings 2012 spielten, während der Hauptteil des neuen Romans Valentinstag 2019/2020 spielt. So ganz stimmt da was nicht (oder ich habe falsch gerechnet).
Seine erste Frau Ann, Mutter seiner Kinder Paul (47) und Clarissa (45), ist verstorben (sie litt an Parkinson). Frank selber ereilte in der Zwischenzeit ein »Mini-Schlaganfall« sowie »eine Episode globaler Amnesie und ein kleines, frisch entdecktes Loch« im Herz. Zuweilen tritt noch der (bekannte) Schwindel auf, aber ansonsten geht es ihm gut. Er hat in Haddam einen Teilzeitjob als »Hausflüsterer« bei seinem früheren Angestellten Mike Mahoney angenommen. Frank sitzt alleine in einem Büro, bewundert, was aus Mike, dem Tibeter, geworden ist und kümmert sich um Immobilienbeschaffung für Leute, die nicht in Erscheinung treten wollen. Potentielle Kunden leitet er dann an seinen Boss weiter, der sie wiederum in seinem kleinen Firmenimperium weiterbearbeitet.
Die Tage sind lang und so kommt Frank ans Räsonieren und Bilanzieren über Vietnam, seine Mutter, seine zweite Frau Sally, die als weltweite Trauerbegleiterin derzeit in Tschetschenien weilen soll oder einen gewissen Pug Minokur, der sich irgendwann einmal während seines kurzen Aufenthalts auf der Militärakademie für ihn beim Basketballtrainer eingesetzt hatte. Als sei es eine Verpflichtung, erzählt er ihm Jahrzehnte später auf einem Veteranentreffen davon. »Ich dankte ihm – für lebenslange Erinnerungen. Ich ergriff seine erstaunlich weiche, erstaunlich kleine und einst geschickte Hand – seine Werferhand – und schüttelte sie behutsam, um der guten alten Zeiten willen.« Teil eines Programms, »bevor der graue Vorgang fällt«. Ob Pug sich daran erinnert – egal.
Schließlich nimmt er sich frei, um den letzten Wunsch von Ann zu erfüllen, dass »die Hälfte ihrer kremierten Überreste auf dem Friedhof von Haddam neben unserem Sohn Ralph Bascombe begraben werden sollte, der jetzt einundfünfzig wäre und ein berühmter Physiker an der Cal Tech oder ein Lyriker oder ein viel bewunderter Solo-Oboist.« Und so reist er mit einem Zipper-Beutel im Flugzeug zu einem einstigen Familienidyllenort mit »Urkiefern und ‑tannen«, »drehte den Beutel um und ließ den körnigen Inhalt hinausrieseln.«
Andrea Giovenes Haus der Häuser, Band drei der Autobiographie des fiktiven Giuliano di Sansevero, endet im Juni 1940 mit dem Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg, von dem die Hauptfigur während einer Zugfahrt überrascht wurde. Licudi, der Zauberort am Meer, in dem die Welt stillstand, war von Touristen, Immobilienspekulanten und Archäologen eingenommen, die Beschaulichkeit zerstört ...
Im letzten Jahr beendete Ulrich Sonnenberg seine Arbeit an der Neuübersetzung der variantenreichen Himmerlandgeschichten des dänischen Nobelpreisträgers Johannes V. Jensen. Und nun liegt im Wallstein-Verlag mit Kaum ein Tag ohne Spektakel eine Anthologie eines anderen dänischen Autors vor: Henrik Pontoppidan (1857–1943), Sohn eines Pfarrers und 1917 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zusammen mit Marlene Hastenplug fungiert Sonnenberg hier als Herausgeber. Die Übersetzungsarbeit der zwischen 1881 und 1918 in diversen Publikationen erschienen Texte wurde von insgesamt zwölf Studentinnen und Studenten des Instituts für Skandinavistik in Frankfurt vorgenommen1. Neben zwölf Erzählungen wurden acht Feuilletons aufgenommen. Das Nachwort ist von Nils Gunder Hansen, Leiter des Pontoppidan Centers der Süddänischen Universität in Odense. Hier wird ein sehr instruktives Webportal zu Henrik Pontoppidan betrieben, auf dem sich Texte des Dichters im Original, aber auch auf Deutsch zu finden sind.
Hansen weist in seinem Nachwort kurz auf die epischen Romane Pontoppidans hin (die im übrigen in deutscher Übersetzung nur ungenügend lieferbar sind) und den auch in Dänemark virulenten Wunsch nach dem umfassenden Gesellschaftsroman (das scheint überall und zu allen Zeiten ein Verlangen zu sein), um dann den Fokus auf die ausgewählten Texte zu richten. Man lernt, dass der Erstkontakt mit Pontoppidan im Schulunterricht in Dänemark durch die Erzählungen Ane-Mette und Gnadenbrot hergestellt wird. Ane-Mette spielt auf einem dörflichen Friedhof, eine Viertelmeile entfernt vom (fiktiven) Ort Lillelunde (den Pontoppidan in mehreren Erzählungen verwendet). Der Kirchhof ist »nackt und unheimlich«, die Vogelstimmen bilden gegen Abend ein »Höllenkonzert«, was im Kontrast zu den bunten Tönen der Bäume im Herbst steht. Aber es ist Sommer und warm und es geht um eine Person, eine Frau, die in Trauerhaube auf einer Bank sitzt. Später erfährt man, dass sie noch in Begleitung eines zwölfjährigen Mädchens ist. Die Trauerhaube trägt die Frau nicht wegen ihres vor vier Jahren an einem »glücklichen Wintermorgen« dahingeschiedenen Mannes (einem Trunkenbold). Sie ist dort, weil ihre vor zwanzig Jahren verstorbene, damals dreijährige Tochter, von zwei Männern exhumiert wird, weil genau an dieser Stelle ein Kind einer reichen Familie begraben werden soll. Die beiden Männer beeilen sich, aber die Aktion wird erschwert, weil man noch unverhofft die Gebeine eines Mannes findet, der auf dem Kind bestattet worden ist. Erst dann sammelt man die Kinderknochen auf und es gibt sogar noch eine Haarlocke von jener Ane-Mette. Die prunkvolle und gesangreiche Beerdigung der Reichen nutzt die Frau als Hintergrund, um die Überreste ihres Kindes in einem Rasenstück mit der Würde zu beerdigen, die ihr damals nicht möglich war. »Sie fühlte sich so leicht ums Herz…so wie jemand, der eine alte Schuld beglichen hat…«
Gnadenbrot erzählt von einem neu gebauten »Armen- und Arbeitshaus«, in dem sich die »verbrauchten Kräfte« versammeln, »wenn die Hand zu schwach und der Rücken zu krumm wird, um die Last des Lebens noch lange zu tragen.« Die Schilderung der Opulenz des neuen Bauwerks kontrastiert mit der sarkastischen Schilderung der Verbringung jeder »erschöpften Existenzen« und ihrer Verpflegung, beispielsweise morgens mit einem »halben Liter abgekochtem, verdünnten Wasser«, welches Bier genannt würde. Mittags »gibt es Grünkohl mit Rüben und Kartoffeln – und den Geruch des Rindfleischs des Inspekteurs…« Eigentlich sind alle ganz zufrieden mit diesem neuen Heim, nur eine nicht und das ist Trine Bødkers. Und wie die sich wehrt und wie die anderen sich darauf wehren – das erzählt diese Geschichte mit einer sarkastischen Unerbittlichkeit.
In alphabetischer Reihenfolge: Philipp Botte, Randi Drümmer, Sarah Fengler, Jona Gola, Rebecca Jacobi, Mona Langhorst, Lara Ringel Fraile, Natalie Scheib, Julia Schmidt, André Wilkening, Alexander Witzko, Anastassis Zaltsberg. ↩
Die grünen Fensterläden beginnt – und das ist ungewöhnlich – mit einem Vorwort des Autors: Die Hauptfigur des Romans, der Schauspieler Maugin, sei »weder dieser noch jener. Er ist Maugin, ganz einfach, mit den guten wie schlechten Eigenschaften, die nur ihm gehören und für die einzig und allein ich verantwortlich bin.« Man solle, so Georges Simenon, ihn nicht mit lebenden oder toten Schauspielern vergleichen oder gleichsetzen.
In der Tat lädt die Figur des »großen Maugin« dazu ein, Parallelen zu suchen. Wieviel davon ist von Charlie Chaplin? Oder gibt es doch mehr Parallelen zu Jean Gabin? Die Allüren des herrischen, alkohol- wie arbeitssüchtigen Schauspielers könnten auch die eines Schriftstellers oder bildenden Künstlers sein. Vom Publikum verehrt – als Privatmensch gefürchtet, ja: gehasst.
Im Rahmen seiner Simenon-Neueditionen publiziert der Kampa-Verlag Die grünen Fensterläden, 1950 erstmals erschienen, in einer neuen Übersetzung von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Letzterer steuert ein sehr informatives Nachwort bei. Er vertritt die These, dass Simenons Distanzierung nicht nur justiziable Gründe hatte. Doch dazu später.
Es beginnt mit Maugins abendlicher Privataudienz bei einem Prominentenarzt. Er ist 59 habe aber das Herz eines 75jährigen, so lautet die Diagnose. Er bekommt ein paar Pillen und den Ratschlag, kürzer zu treten. Das ist schwierig, weil er sich in den nächsten zwölf Monaten verpflichtet hat, fünf Filme abzudrehen und ansonsten abends täglich Theater zu spielen (zuzüglich noch zwei Nachmittagsvorstellungen). Das Geld braucht er für seinen aufwendigen Lebensstil mit großem Personal: Manager, Faktotum, Hausmädchen, Fahrer, Nanny, Köchin. Und er ist verheiratet mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau; Baba, das Kind, ist mittlerweile zwei Jahre alt. Maugin ist allerdings froh, dass der Arzt sein Alkoholproblem nicht angesprochen hatte und trinkt sich darauf erst einmal ein paar Gläser.
Aber der Besuch hat etwas in ihm bewegt. Er rekapituliert sein Leben. Aus armen Verhältnissen kommend und sich mit kleinen Jobs nach oben arbeitend, begann er spät mit der Schauspielerei und zunächst auch nur mit mäßigem Erfolg. »Bis fünfzig lebte er nur vom Theater. Bis vierzig wurde es am Monatsende eng. Bis dreißig war er ein Hungerleider.«
Dabei nutze ihm seine erste Ehe mit der Diva Yvonne Delobel, bekannt als »die unvergessliche Künstlerin«, die ihn für einen Grobian hielt und, wie er feststellte, noch mehr trank als er. Eines Tages führte sie ihn etwas außerhalb von Paris zu einem weißen Haus, »geräumig, makellos, mit grünen Fensterläden und Schieferdach, in einem Garten, samt gepflegtem Rasen, sorgfältig geharkten Wegen.« Bevor sie Maugin kennenlernte, hatte sie sich dieses Haus als Refugium gekauft. Aber es ging nicht: »In der ersten Woche habe ich gebrüllt vor Verzweiflung. In der zweiten bin ich weggerannt und hab nie wieder einen Fuß zwischen diese Mauern gesetzt.« Das erdachte Ideal eines einfachen (andere würde sagen: spießigen) Lebens scheitert. Erst jetzt wird Maugin klar, was damals gemeint war.
Vor neun Jahren musste ich vor der Lektüre von So kalt, so schön des Thomas-Bernhard-Monographisten, Schriftstellers, Herausgebers und Künstlers Jens Dittmar kapitulieren. Der »Schelmenroman« (Verlagswerbung) über die Figur Aleph Kraus-Góngora, dieses opulent-überbordende Gemisch aus Rätselspielen, Scharaden und Mockumentary mit vielen deutlichen und vermutlich noch mehr versteckten literarischen Referenzen und Anspielungen hatte mich überfordert. Daher hatte ich auch lange Zeit die drei Jahre später erschienene »Mordgeschichte« Falknis ins Regal der ungelesenen Bücher gestellt, freilich mit der Ambition, dies irgendwann zu ändern. Der im letzten Jahr erschienene Roman Neulich in Bärwalde war jetzt der Anlass, sich Jens Dittmar erneut anzunehmen.
Falknis ist eine Art Tagebuchroman. Dr. Linus Frick, seines Zeichens arbeitsloser (und sich unverstanden fühlender) Künstler, bilanziert zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015 vor allem die Ereignisse um seinen Halbbruder Hauke, der urplötzlich verschwunden ist. Hauke war ein Genie auf dem Gebiet des Kunststoff- und Plastik-Recycling, hatte mehrere Patente zur Wiedergewinnung von Plastikabfällen und eröffnete eine Fabrik für Flüsterasphaltherstellung in Kroatien. In seinem Firmenkonstrukt arbeiteten irgendwann 800 Menschen; es lief sehr gut, aber er wollte auch aus seinem Heimatort Balzers in Liechtenstein, genauer: dem Gebiet um das Dreiländereck Liechtenstein, Schweiz und Österreich um den Berg Falknis, eine Art Alpen-Disneyland mit saudi-arabischem Investment errichten. Schnell gewann er die lokale Politik, denn es ging natürlich auch um Arbeitsplätze. Aber plötzlich war Hauke verschwunden. Man ermittelte wegen Steuerhinterziehung und Veruntreuung, aber ein vielsagender Abschiedsbrief lässt die Polizei an Selbstmord glauben. Die Restzweifel (es gab keine Leiche) genügten, um bisweilen Linus auf den Zahn zu fühlen. Der weiß natürlich nichts, weil er – wie fast immer – nie in Haukes Geschäfte eingeweiht war.