Fest­ge­le­sen

Hier ha­be ich mich neu­lich fest­ge­le­sen:

Del­fi 01

Schreib­heft 101

En dé­tail:

Del­fi 01

Delfi 01

Del­fi 01

Man ist bis­wei­len über­rascht, wie vie­le Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten es im deutsch­spra­chi­gen Raum gibt und dann noch über­rasch­ter, wenn es jetzt so­gar noch ei­ne neue ge­ben soll. Sie nennt sich Del­fi (nicht »Del­phi« – es wird er­klärt, war­um) und den Preis für das häss­lich­ste Co­ver­bild hat man schon mal si­cher. Die Her­aus­ge­ber las­sen er­ah­nen, dass es nicht nur ein »Ma­ga­zin für neue Li­te­ra­tur« son­dern eben auch ei­ne Zeit­geist­zeit­schrift sein wird, mit ganz viel Di­ver­si­tät und man­che Tex­te lie­fern Ster­ne und Un­ter­stri­che in grö­ße­ren Men­gen. Es gibt Ly­rik und Pro­sa, ein In­ter­view und ei­nen Co­mic; kei­ne Se­kun­där­tex­te. Als über­ge­ord­ne­tes The­ma für die er­ste Num­mer wur­de »Tem­pel« aus­ge­ge­ben. Der Tem­pel, so heißt es, verändert…immer wie­der sei­ne Form und Funk­ti­on. Mal bie­tet er Schutz, mal wird er zum Ker­ker.« Mal ist er ei­ne Woh­nung, mal ein Ge­fäng­nis, so möch­te man er­gän­zen. Am En­de ist al­les Tem­pel. Im üb­ri­gen lernt man aus dem Vor­wort: »De­mut kann näm­lich ziem­lich hot sein, so­lan­ge sie uns ein­ver­nehm­lich in die Knie zwingt.«

Zwei Er­zäh­lun­gen ste­chen weit her­aus und das ist, wenn man es nüch­tern be­trach­tet, schon viel. Zum ei­nen ist es Ma­ria Ste­pa­no­vas Ge­schich­te ei­ner Vi­si­te (Über­set­ze­rin: Ol­ga Ra­detz­ka­ja). Es wird über den Be­such der bri­ti­schen Re­por­te­rin Mar­tha Gell­horn im Som­mer 1972 bei »Mrs. M.«, Na­desh­da Ja­kow­lew­na Man­del­s­tam, der Wit­we von Os­sip Man­del­s­tam er­zählt. Die Kriegs­re­por­te­rin Gell­horn ist (nicht nur in der da­ma­li­gen UdSSR) vor al­lem als ein­sti­ge Ehe­frau von Er­nest He­ming­way be­kannt. Ste­pa­no­va wur­de in dem Jahr ge­bo­ren, als Gell­horn für ein paar Ta­ge nach Mos­kau kam und die­se Da­me be­sucht hat. Sie er­zählt im Stil ei­ner li­te­ra­ri­schen Klatsch­re­por­te­rin über ei­ne li­te­ra­ri­sche Klatsch­re­por­te­rin, die über die Wit­we ei­nes le­gen­dä­ren Schrift­stel­lers schreibt, de­ren Wer­ke sie (al­so Gell­horn) mit gro­ßer Si­cher­heit nie ge­le­sen hat. Da ist es fast ein Vor­teil, dass man sich auch nicht sprach­lich ver­stän­di­gen kann. Das ist sehr ko­misch und, an­son­sten wä­re es kei­ne Li­te­ra­tur, viel mehr als das.

Die an­de­re Er­zäh­lung ist Der La­de­raum von Mo­ha­med Mbou­gar Sarr, der in der deutsch­spra­chi­gen Öf­fent­lich­keit im letz­ten Jahr mit dem groß­ar­ti­gen Ro­man Die ge­heim­ste Er­in­ne­rung der Men­schen re­üs­sier­te. Aber­mals fun­gier­ten Hol­ger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler als Über­set­zer. Er­zählt wird von Fran­cis Hen­ry, ei­nem ehe­ma­li­gen Arzt, der nun, im Al­ter, in ei­nem Ses­sel sit­zend, zu­nächst meist schwei­gend, plötz­lich ei­nem jun­gen Men­schen die Ge­schich­te ei­nes Le­bens er­zählt. Es ge­schah auf ei­ner Fahrt auf ei­nem Han­dels­schiff als Hilfs­chir­urg vor vier­zig Jah­ren, ein Er­leb­nis, dass täg­lich aufs Neue da­zu führt, »das My­ste­ri­um, die Wahr­heit und die Schön­heit« der Welt zu se­hen.

Zu Be­ginn sei­ner Er­zäh­lung fragt Fran­cis den jun­gen Mann, ob er si­cher sei, dass die »Schul­tern stark ge­nug« sei­en für das, was er hö­ren wer­de. Die­se Fra­ge muss sich auch der Le­ser stel­len. Und vie­les spricht da­für, dass man, nach­dem man die­se Er­zäh­lung ge­le­sen, al­so »ge­schul­tert« hat, auch ein ganz klei­nes biss­chen nicht mehr der Mensch sein wird, der man vor­her war. Mehr kann man von Li­te­ra­tur nicht er­war­ten. Und man fragt sich nur, wann end­lich die an­de­ren Bü­cher von Mo­ha­med Mbou­gar Sarr über­setzt wer­den.

Man ist ge­spannt auf 02, wer ei­nem dort auf die Knie bringt.

Schreib­heft 101

Schreibheft 101

Schreib­heft 101

Zwi­schen Del­fi und Schreib­heft lie­gen nicht nur ge­nau 100 Aus­ga­ben. Im neue­sten Schreib­heft gibt es ne­ben zwei gro­ßen Blöcken mit Bei­trä­gen von und über die Au­toren Ame­lia Ros­sel­li (1930–1996) und Lar­ry Eig­ner (1927–1996) auch ei­nen Es­say des un­ga­ri­schen Schrift­stel­lers Ist­ván Ke­mé­ny (über­setzt von Ti­mea Tan­kó) mit dem in­ter­es­san­ten Ti­tel 50 + 1 li­te­ra­ri­sche Pfei­ler. Der 1961 ge­bo­re­ne Ke­mé­ny nimmt sich die Fif­ty Li­te­ra­ry Pil­lars des Ame­ri­ka­ners Wil­liam A. Gass zum Vor­bild und er­stellt sei­ne per­sön­li­che »Au­to­bio­gra­phie« (so der ge­wähl­te Un­ter­ti­tel). Da­bei er­weist sich die Apo­stro­phie­rung »Pfei­ler« als ziem­lich ge­lun­gen.

Die Tex­te va­ri­ie­ren zwi­schen we­ni­gen Zei­len und ma­xi­mal ei­ner Sei­te und zei­gen die höchst per­sön­li­che Le­ser­wer­dung Ke­mé­nys in Re­mi­nis­zen­zen und Re­fle­xio­nen von der Kind­heit bis in die Ge­gen­wart. Manch­mal wird er so­gar ein biss­chen weh­mü­tig. Ne­ben Pro­sa- und Ly­rik­au­toren wer­den auch Phi­lo­so­phen auf­ge­nom­men. Die Spann­brei­te reicht von Ho­mers Odys­see über Pla­ton, das Lu­kas­evan­ge­li­um, Don Qui­jo­te, Coo­pers Le­der­strumpf, das Kom­mu­ni­sti­sche Ma­ni­fest, Tho­mas Manns Zau­ber­berg, na­tür­lich auch ein Goe­the, Lam­pe­du­sas Leo­pard bis zu Ro­ber­to Bo­la­ños Die wil­den De­tek­tive. Es gibt Tex­te zu ei­nem Mär­chen oh­ne Au­tor (Die red­se­li­ge Schild­krö­te), über ein Ge­mäl­de von Wat­teau und Thor He­yer­dahl, wo­bei Ke­mé­ny ein biss­chen klein­laut be­kennt, dass ihm frü­her ein­mal der For­scher Erich von Dä­ni­ken bes­ser ge­fal­len ha­be. Sehr in­struk­tiv die Be­mer­kun­gen über C. G. Jungs Er­in­ne­run­gen, Träu­me, Ge­dan­ken.

Das ist ei­ne dis­pa­ra­te und höchst sub­jek­ti­ve Aus­wahl. Dar­aus macht Ke­mé­ny gar kei­nen Hehl. Viel­leicht wird man Na­men wie Kaf­ka, Joy­ce oder Ca­mus ver­mis­sen, aber es ist eben, auch wenn vie­le be­kann­te Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur auf­tau­chen, ex­pli­zit kein Ka­non. Aber da­für gibt es Mög­lich­kei­ten, ei­ni­ge im deutsch­spra­chi­gen Raum eher un­be­kann­te (meist un­ga­ri­sche) Au­toren ken­nen­zu­ler­nen. Bei­spiels­wei­se springt man so­fort auf La­dis­lav Klí­mas Die Lei­den des Für­sten Ster­nen­hoch an. Die An­ti­qua­ri­ats­prei­se sind al­ler­dings ziem­lich üp­pig. Wenn ich es rich­tig über­blicke, lebt nur ei­ner der vor­ge­stell­ten Au­toren (Piotr Szewc). Der an­de­re, Pé­ter Ester­há­zy, starb so­zu­sa­gen wäh­rend des Schrei­bens des Bei­trags, der mit »Au­gust – Ok­to­ber 2016« da­tiert wird.

Von man­chen Au­toren be­spricht er nicht das gän­gi­ge Buch, son­dern ein Ne­ben­werk, wie et­wa bei Tol­ki­en Der Hob­bit oder von Da­ni­el De­foe Ka­pi­tän Sin­gle­ton (und nicht Herr der Rin­ge bzw. Ro­bin­son Crusoe). Von Do­sto­jew­ski nimmt er der Ein­fach­heit hal­ber »Al­les« und klärt dies auf 18 Zei­len. Et­li­che Schluss­fol­ge­run­gen sind kühn und ge­ra­de des­halb be­le­bend. Et­wa war­um man Eng­land zu ei­nem Kö­nig, wie ihn Shake­speare in Hein­rich V. ent­wirft, be­nei­den kann. Oder das Tom Sa­wy­er Achil­leus und Huck­le­ber­ry Finn Odys­seus ist. Und das es für je­man­den, der im po­li­tisch kor­rek­ten So­zia­lis­mus auf­ge­wach­sen ist, ziem­lich schwer zu ver­ste­hen ist, dass man Mark Twa­in nun aus dem Lehr­plan neh­men will. Wo­bei: Hier tau­melt Ke­ré­my dann doch ein biss­chen zwi­schen Op­por­tu­nis­mus und Li­te­ra­tur.

Das un­ge­wöhn­li­che an die­sem Es­say: Er ist in für deut­sche Le­ser fast un­ge­wohn­ter Hei­ter­keit oh­ne die lei­der zu häu­fig ver­fass­ten pein­li­chen Lob­hu­de­lei­en oder künst­li­chen Be­gei­ste­run­gen ver­fasst. Bei T. S. Eli­ot be­kennt Ke­mé­ny am En­de: »Auch wenn ich Eli­ot al­so nicht ganz ver­stan­den ha­be, so weit schon, dass er, ne­ben End­re Ady, zu mei­nem zwei­ten Dich­ter wur­de.« (End­re Ady ist der ein­zi­ge Dich­ter, der mit zwei Tex­ten be­spro­chen wird.)

Au­ßer die­sen Es­say ken­ne ich an­son­sten kei­ne Pu­bli­ka­ti­on von Ist­ván Ke­mé­ny – und das än­dert rein gar nichts. Denn hier hat je­mand Freu­de am Le­sen. Und es macht Freu­de, so et­was zu le­sen.

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