Von Zwie­beln und Ur­he­ber­rech­ten

Gün­ter Grass hat die Dis­kus­si­on um sei­ne SS-Zu­ge­hö­rig­keit ver­mut­lich mehr ge­trof­fen, als an­fangs an­ge­nom­men. Er hat je­den­falls ei­ne Un­ter­las­sungs­kla­ge ge­gen die FAZ er­wirkt, die Brie­fe von ihm an Karl Schil­ler in Gän­ze ver­öf­fent­licht hat­te. Grass sah das Ur­he­ber­recht bei sich. Ich bin kein Ju­rist, aber es gibt hier Zwei­fel. Die einst­wei­li­ge Ver­fü­gung, die er er­wirkt hat, sagt ja nichts über ein even­tu­el­les Ur­teil aus.

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Ar­no Gei­ger: Es geht uns gut

Arno Geiger: Es geht uns gut
Ar­no Gei­ger: Es geht uns gut
Phil­ipp ist ein Tau­ge­nichts; ein Tag­träu­mer. Ei­nem Be­ruf geht er of­fen­sicht­lich nicht nach. Er hat ein Ver­hält­nis mit der ver­hei­ra­te­ten Jo­han­na, die ihn be­sucht, wenn es mal Streit zu Hau­se ge­ge­ben hat. Ge­le­gent­lich schläft er auch noch mit der Post­bo­tin. Phil­ipp be­wohnt im April 2001 das lee­re Haus sei­ner Gross­el­tern. Wie es nicht an­ders kom­men kann, über­man­nen ihn die Er­in­ne­run­gen bzw. das, was er da­für hält. Zum Auf­räu­men und Aus­mi­sten (Tau­ben ha­ben sich in gro­sser Zahl im Dach­stuhl seit Jah­ren ein­ge­rich­tet) hat er we­der Kraft noch Ideen. Statt­des­sen schreibt er sei­ne Phan­ta­sien in ein Heft; der Le­ser wird im Un­kla­ren ge­las­sen, ob wir Phil­ipps Heft zu le­sen be­kom­men (da­ge­gen spricht, dass der [aukt­oria­le] Er­zähl­duk­tus nie­mals ver­las­sen wird).

Ar­no Gei­gers hym­nisch ge­prie­se­nes Fa­mi­li­en­epos (?) »Es geht uns gut« wur­de 2005 mit dem Deut­schen Buch­preis aus­ge­zeich­net. Könn­te man auf­grund der Qua­li­tät die­ses Bu­ches auf die Qua­li­tät der im Wett­be­werb um den Buch­preis ge­schei­ter­ten Kan­di­da­ten rück­schlie­ssen – so blie­be ei­nem ei­ne Men­ge po­ten­ti­el­ler Lek­tü­re er­spart. Wenn ein sol­ches Buch tat­säch­lich das be­ste ge­we­sen sein soll, kann es um die an­de­ren nicht gut ste­hen. Aber ge­mach – die Ve­he­menz der Kri­tik mu­tet bö­ser an, als ge­dacht.

Gei­ger zeich­net das Por­trait ei­ner öster­rei­chi­schen Fa­mi­lie, be­gin­nend in den 30er Jah­ren bis 2001.

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Chri­stoph Hein: In sei­ner frü­hen Kind­heit ein Gar­ten

Wenn man hi­sto­ri­sche Be­ge­ben­hei­ten li­te­ra­risch be­ar­bei­tet, so gibt es meh­re­re Fall­stricke, in die sich der Au­tor ver­fan­gen kann: Er kann mit sei­ner The­se der Er­eig­nis­se in ei­nen Fu­ror der Un­be­lehr­bar­keit ver­fal­len – die Ge­burt der Ver­schwö­rungs­theo­rie. Er kann in Ein­sei­tig­keit ver­sin­ken und den not­wen­di­gen Ab­stand ver­ges­sen – blin­de Par­tei­nah­me. Der schlimm­ste Fall ist aber das Ver­schwim­men von Fik­ti­on und Do­ku­men­ta­ri­schem. In­dem rea­le Er­eig­nis­se, die min­de­stens aus­schnitt­wei­se in ei­ner be­stimm­ten Zeit öf­fent­lich ge­macht wur­den, als Grund­la­ge li­te­ra­ri­scher Be­ar­bei­tung die­nen, ist dem Le­ser ab ei­nem ge­wis­sen Zeit­punkt nicht mehr klar, wann die Frei­heit des Dich­ter­den­kens be­ginnt und die Fak­ten zu die­sen Gun­sten auf­ge­ge­ben wer­den.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit
Chri­stoph Hein: In sei­ner frü­hen Kind­heit

Be­reits auf den er­sten Sei­ten wird klar: Chri­stoph Hein be-(oder ver-?)arbeitet den Tod des mut­mass­li­chen Ter­ro­ri­sten Wolf­gang Grams vom Ju­ni 1993 auf dem Bahn­hof von Bad Klei­nen. Der Ort wird na­ment­lich nicht ver­frem­det – die Prot­ago­ni­sten sehr wohl. Wolf­gang Grams heisst Oli­ver Zu­rek; die Haupt­prot­ago­ni­sten die­ses Kam­mer­spiels, die El­tern, Ri­chard und Frie­de­ri­ke.

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Erich Wolf­gang Skwa­ra: Zer­brech­lich­keit oder Die To­ten der Place Bau­doy­er

Erich Wolfgang Skwara: Zerbrechlichkeit
Erich Wolf­gang Skwa­ra: Zer­brech­lich­keit

Am An­fang des Bu­ches sitzt der öster­rei­chi­sche Li­te­ra­tur­pro­fes­sor Stein, der in den USA lebt und ar­bei­tet, im Flug­zeug. Für ihn, dem hei­mat­lo­sen Welt­bür­ger, sind dies fast die schön­sten Stun­den; Hor­te der Ru­he; Zei­ten, in dem von ihm kei­ne Hand­lun­gen, kei­ne Ent­schei­dun­gen ab­ver­langt wer­den. Stein sieht ei­ne po­li­ti­sche Talk­show im Flug­zeug­fern­se­hen. Er nimmt nicht so­fort den Kopf­hö­rer, son­dern schaut nur dem Fern­seh­bild zu.

Dann wur­de ihm plötz­lich die Lä­cher­lich­keit die­ser Fern­seh­run­de be­wusst. Wie we­nig die hier zum Ge­spräch ge­la­de­nen Herr­schaf­ten zu über­zeu­gen ver­moch­ten, so­lan­ge der Ton aus­ge­schal­tet blieb! Al­lein am Ge­hört­wer­den hing ih­re Exi­stenz; wie sie da mit den Hän­den gro­sse Ge­sten in den Raum schrie­ben und mit ih­ren durch­wegs mü­den – denn be­gei­stert war da kei­ner mehr – Ge­sich­tern ein we­nig Lei­den­schaft für ihr The­ma vor­zu­täu­schen ver­such­ten, er­gab ein trau­ri­ges Bild...Das »Welt­ge­sche­hen« be­stand dar­in, dass dar­über ge­re­det wur­de.

Stein, 48 Jah­re alt, ver­hei­ra­tet, hat zwei fast er­wach­se­ne Töch­ter (15 und 19), ei­nen nicht be­son­ders an­stren­gen­den, aber gut do­tier­ten Be­ruf, der ihm al­ler­dings kei­ne Be­frie­di­gung ver­schafft, weil ihm die An­er­ken­nung ver­sagt bleibt (was wohl dar­an liegt, dass er ir­gend­wann schlicht­weg das In­ter­es­se an der Li­te­ra­tur ver­lo­ren hat [in­ter­es­san­te In­nen­an­sicht ei­nes zum Nicht­le­ser ge­wor­de­nen]). Sei­ne Flü­ge nach Eu­ro­pa die­nen meist nur ober­fläch­lich sei­nem Be­ruf; er be­sucht sei­nen Freund Sté­pha­ne in Pa­ris, ein sehr er­folg­rei­cher und be­kann­ter An­walt – in vie­lem das Ge­gen­stück zu Stein. Und er be­sucht sei­ne Ge­lieb­ten. Sté­pha­ne, der dem Be­ruf ver­haf­te­te Mensch, ex­tro­ver­tiert, mit wech­seln­den Frau­en­af­fä­ren, in den Tag hin­ein­le­bend – Stein der Grüb­ler, in­tro­ver­tiert; aber eben­falls mit wech­seln­den Ge­blieb­ten.

Der aukt­oria­le Er­zäh­ler, eher Stein zu­ge­wandt, weiss viel zum Ver­hält­nis der bei­den zu er­zäh­len – bis zur Fra­ge, was sie denn tat­säch­lich als Freun­de ver­bin­det oder ob es nicht nur ei­ne Art Bin­dung ist, die kei­ner von bei­den bis­her be­en­det hat (aus Be­quem­lich­keit oder Ge­wohn­heit). Frei­lich sind die Ban­de der De­ser­teu­re des Le­bens nicht mit den gän­gi­gen Mu­stern ei­ner nor­ma­len »Freund­schaft« zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Ob­wohl Stein sich dann fast selbst ent­rü­stet zu­sieht, als er Sté­pha­ne zu des­sen 50. Ge­burts­tag ei­nen Flug in die Staa­ten schenkt. Sehn­süch­tig er­war­tet Stein, dass der Flug­gut­schein ver­fal­len mö­ge – kurz vor­her je­doch kün­digt der quir­li­ge Freund sein An­kom­men je­doch an.

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A. L. Ken­ne­dy: Glei­ssen­des Glück

A. L. Kennedy: Gleissendes Glück
A. L. Ken­ne­dy: Glei­ssen­des Glück

He­len ist ei­ne nor­ma­le Haus­frau. Sie träumt von ei­nem glück­li­chen Le­ben, ar­bei­tet nicht. Ihr Mann ist sel­ten zu Hau­se, trinkt sich ei­nen oder sitzt im Un­ter­hemd vor dem Fern­se­hen. He­len macht Mor­gen­gym­na­stik und lauscht den Le­bens­hil­fen ei­nes ge­wis­sen Pro­fes­sor Gluck (sic!). Der hat ei­ne Me­tho­de ent­wickelt, wie je­der Mensch glück­lich wird oder zu sich sel­ber fin­det oder bei­des oder was an­de­res.

A. L. Ken­ne­dy zeigt uns et­was, was wir seit un­se­rer Kind­heit ken­nen, et­was was wir nur bei an­de­ren se­hen, nie bei uns: das Kli­schee. So gut, so schön. Ei­ne Vor­trags­rei­se des Le­bens­hel­fers nach Deutsch­land nutzt sie, ihn zu be­glei­ten. Ihr Brief hat ihn be­ein­druckt, man trifft sich; der Pro­fes­sor ist auch so, wie man sich im all­ge­mei­nen sol­che Leu­te vor­stellt: ar­ro­gant, her­ab­las­send, kei­ne Zeit.

Man weiss da­mit nach un­ge­fähr 30 Sei­ten, was pas­siert. Der Pro­fes­sor ent­puppt sich als gar nicht so toll, wie er scheint; der Mann prü­gelt sei­ne Frau als er er­fährt, wo sie wirk­lich war, sie flüch­tet zu Gluck, ei­ne zar­te Lie­bes­ban­de be­ginnt (der Pro­fes­sor muss sei­nem La­ster, un­ab­än­der­lich Por­nos sich an­se­hen zu müs­sen, ent­sa­gen und ra­siert statt­des­sen der Frau die Scham­haa­re), usw. usw.

Un­fass­bar ist nicht die Ge­schich­te, die die Schot­tin hier er­zählt. Un­fass­bar ist, wie ein Sam­mel­su­ri­um von Kli­schees, Holz­schnit­ten und Plat­ti­tü­den der­art en­thu­sia­stisch von der Li­te­ra­tur­kri­tik be­spro­chen wer­den konn­te. Das Buch ist oh­ne Spra­che, durch­schau­bar, fast fad. Die Spröd­heit, La­ko­nie, die ei­ne er­zäh­le­ri­sche Grund­hal­tung aus­drücken soll, ist so zäh wie al­tes Brot, was zu lan­ge an der Luft ge­le­gen hat. Das En­de, die fast pu­ber­tär an­mu­ten­de ge­schlecht­li­che Ver­ei­ni­gung zwi­schen der durch glück­li­che Um­stän­de (Selbst­tö­tung) zur Wit­we ge­wor­de­nen Frau und dem „be­kehr­ten“ Glücks­pro­phe­ten schwül­stig. Hät­te man im 19. Jahr­hun­dert ei­nen Ge­schlechts­ver­kehr „be­schrei­ben“ kön­nen, es hät­te so ge­sche­hen kön­nen.

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Fritz H. Din­kel­mann: Das Op­fer

Fritz H. Dinkelmann: Das Opfer
Fritz H. Din­kel­mann: Das Op­fer
Ge­richts­re­por­ta­gen von Fritz H. Din­kel­mann lö­sten bei mir im­mer ein ge­stei­ger­tes In­ter­es­se an den Men­schen aus, die Ver­bre­chen aus­üb­ten. Sie rüt­tel­ten da­bei an die schein­bar so fest in­stal­lier­te „Rechts­ord­nung“, die glaubt, mit der Be­stra­fung ei­ner Straf­tat die­se nach­träg­lich „aus­zu­glei­chen«. Zwar ist al­len Be­tei­lig­ten klar, dass bei­spiels­wei­se bei ei­nem Mord oder Tot­schlag der je­weils Ge­tö­te­te nicht mehr le­ben­dig wird, aber das in uns al­len we­sen­de Ge­fühl der Ra­che (oder ist es der Süh­ne?) muss be­frie­digt wer­den.

Hier­für dient das Straf­recht. Aber es kommt stets zu spät: Die Tat ist längst ge­sche­hen und meist ist das Ge­sche­he­ne un­um­kehr­bar. Dem Pro­zess kommt da­bei die Rol­le des Voll­streckers des Süh­ne­ge­dan­kens zu. In ei­nem Rechts­staat muss es ei­nen Pro­zess ge­ben, um zwei­fels­frei fest­zu­stel­len, ob die Tat vom An­ge­klag­ten tat­säch­lich aus­ge­übt wur­de.

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Rai­nald Goetz: Ab­fall für Al­le

Rainald Goetz: Abfall für Alle
Rai­nald Goetz: Ab­fall für Al­le

Ein Schrift­stel­ler, einst als Pro­vo­ka­teur auf­tre­tend und sich heu­te als Que­ru­lant se­hend (min­de­stens als Schrei­ber, nicht so sehr als All­tags­mensch), ent­deckt das Me­di­um In­ter­net und er­mög­licht es uns, je­den sei­ner Ta­ge schrift­lich dort zu ver­fol­gen. So Rai­nald Goetz 1998 mit ei­nem über ein Jahr an­ge­setz­ten Pro­jekt. So ganz neu ist das na­tür­lich nicht; Ta­ge­bü­cher gibt es seit eh und je, mei­stens sind sie auf­ge­bla­sen – dies meist dann, wenn es sich um mehr oder we­ni­ger er­zwun­ge­ne No­ta­te han­delt, die je­mand ge­macht hat, weil er eben glaub­te je­den Tag et­was schrei­ben zu müs­sen.

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Os­car Peer: Ak­kord

Oscar Peer: Akkord
Os­car Peer: Ak­kord

Nach drei Jah­ren Ge­fäng­nis kommt Si­mon, jetzt 65 Jah­re alt, in sein Dorf zu­rück – Schwei­zer En­ga­din; um 1935 (man muss die Zeit aus dem Er­zählten re­kon­stru­ie­ren). Ein Jagd­un­fall, fahr­läs­si­ge Tö­tung; vie­le Dörf­ler hal­ten es für Mord. Und das ein Jahr nach der Aus­ein­an­der­set­zung im Dorf um die Je­ni­schen, als sich Si­mon mit der Dorf­no­men­kla­tu­ra an­ge­legt hat­te, die sie lie­ber heu­te als mor­gen aus dem Dorf wie­der ver­trie­ben hät­ten. Sei­ne Frau ist wäh­rend des Ge­fäng­nis­auf­ent­halts ver­stor­ben – man hat es ihm nach der Be­er­di­gung mit­ge­teilt.

Si­mon fin­det Un­ter­kunft und Ta­ge­lohn­ar­beit; das Dorf ist hin­sicht­lich sei­ner Per­son ge­spal­ten. Sei­nen (un­aus­ge­spro­che­nen) Wunsch, man mö­ge die­sen Un­fall ver­ges­sen und sich an das er­in­nern, was er vor­her für das Dorf ge­lei­stet hat, wird nicht er­füllt. Trotz der teil­wei­se feind­li­chen Stim­mung möch­te er im Dorf – sei­ner Hei­mat – blei­ben; ei­ne (kur­ze) Be­schäf­ti­gung im Ho­tel der na­he­ge­le­ge­nen Stadt be­frie­digt ihn nicht. Er, Wald­ar­bei­ter Si­mon, der Ein­zel­gän­ger, sucht das Dorf, die Ge­mein­schaft – und lehnt sie gleich­zei­tig ab. Hin- und her­ge­ris­sen freun­det er sich mit Ve­ra an, die für sich und ih­ren Mann „sein“ Haus ge­kauft hat. Die dicke The­re­sa, die al­les vom Dorf weiss, stört ihn aber be­reits mit ih­ren Ge­wiss­hei­ten und Fak­ten.

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