Natürlich mussten die »kritischen« Juroren des Ingeborg-Bachmann-Preises 2004 »Was wir im Keller spielen…« auseinandernehmen. Einerseits die Blutleere und Ereignislosigkeit in der jungen, deutschsprachigen Literatur beklagend, andererseits stets das artifizielle lobend – da wird dann ganz gerne das kritisiert, was man eigentlich bei den anderen vermisst (schon, weil es Reibungsfläche bietet). Das »pralle« Leben war noch nie Sache der Kritik – sie zieht im Zweifel immer introspektive Belanglosigkeiten dem epischen Erzählen vor. So war es kein Wunder, dass vor zwei Jahren Saša Stanišić’ Text im Wettbewerb nicht reüssierte – beim Publikum darum umso mehr: er gewann den Publikumspreis, der aus einer Abstimmung im Internet heraus vergeben wurde.
Eine Ohrfeige für die Jury, die ihren eigenen Kriterien misstraute und einen Beitrag mit kleinlicher Attitüde niedermachte, der ihnen vermutlich auch nicht politisch korrekt genug erschien und statt eines Klageliedes ob einer Kindheit in Jugoslawien (als es noch ein Jugoslawien war) eine lebensfrohe Kindheitsbeschwörung las (»gezwungen« war, zu lesen), in der der junge Aleksandar zwar von den Schrecklichkeiten des Krieges erzählte (in etwa im Ton eines 12–14 jährigen – hier hatte man dann auch literaturkritisch den Hebel angesetzt), aber nicht im gängigen Betroffenheitsjargon des heutig Wissenden, sondern in einer farbenfrohen, heiteren, gelegentlich albernen, dann aber durchaus auch tiefgründigen Art (da weiss der Erzähler dann doch etwas mehr als der junge Aleksandar: warum auch nicht, denn Literatur ist keine Dokumentation).
Nach der Lektüre des Buches hat man dies offensichtlich erkannt (Stanišić’ Wettbewerbstext – das muss man konstatieren – findet sich allerdings so nicht mehr im Buch) – bis auf wenige, unrühmliche Ausnahmen, die in ihrem stoischen Unverständnis gefangen sind. »Wie der Soldat das Grammofon repariert« war immerhin in der »Endauswahl« der letzten sechs Bücher zum Deutschen Buchpreis 2006 (man zog dann – sich treu bleibend – Katharina Hacker vor).
Um es vorweg zu sagen: Stanišić’ Buch hat mich bewegt, verzaubert, manchmal wütend gemacht und manchmal sogar ergriffen oder »fast-ergriffen« (Peter Handke). In rasendem Tempo beim jungen Aleksandar beginnend (der Lieblings-Opa wird gerade beerdigt), entwickelt Stanišić einen Erzählfuror, der selten in der deutschsprachigen Literatur ist und vielleicht noch an den speziell von südamerikanischen Autoren angewandten magischen Realismus erinnert. Dennoch ist kein Wort zuviel, keine Stelle langweilig – ein pralles, volles Erzählen einer glücklichen Kindheit – bis zum Ausbruch des Krieges, der quasi über Nacht für den jungen Aleksandar das Idyll zerstört.
Über Nacht? Naja, nicht ganz: Wenn er von den mehreren Toden Titos erzählt (zuletzt wird das Bild in der Schule abgehängt – der letzte Tod: im Krieg bekommt das Bild einen Schuss ab: in ein Auge von Tito) oder den sich gelegentlich entwickelnden Konflikten bei Familienfeiern, als dort nationalistische Lieder angestimmt werden – dann merkt man schon, dass sich dort unheilvolle Entwicklungen breit machen.
Aber Aleksandar ist Kind, Träumer, »Zauberer« genug, um sich diesen Zeichen (noch) verschliessen zu können. In ausschweifendem Erzählen entwickelt Stanišić einen Personen(-/Familien-)kosmos, der – einzige, sanfte Kritik – gelegentlich der üblichen Balkanfolklore Vorschub leistet, wenn denn mal die Klischeesierung der Typen mit ihm durchgeht.
Aber dann die Schilderungen der Drina – denn Aleksandars Kindheit spielt in einem Dorf in der Nähe von Višegrad. Und natürlich ist (im Erzählten) der grosse Ivo Andrić immer auch schon da (und nicht nur das Ivo-Andrić-Denkmal, das – natürlich – während des Krieges zerstört wird: ein Symbol für das Ende des Staates Jugoslawien). Aleksandars grosses Vorbild, der Opa, ein Titoist, ein Parteifunktionär, ein Träumer, ein Protagonist Jugoslawiens – mit seinem Tod endet auch Aleksandars Kindheit. Da hilft auch der so schmerzlich vermisste Zauberhut nicht – der Opa wird nicht mehr wiedererweckt.
Wenig später sind die Soldaten im Dorf, in der Wohnung, überall. Nichts ist mehr so, wie es war. Aleksandar und seine Freunde versuchen, der Welt des Krieges durch das Spielen zu entfliehen – aber es hilft nichts. Er verliert in den Wirren die Spur zur Freundin Asija; die Familie flüchtet, kommt über Umwege nach Deutschland, nach Essen und der neunmalkluge Aleksandar lernt schnell, ist wissbegierig, lernt schon mal die ersten Seiten des Wörterbuches auswendig und die Unterschiede zwischen dem Leben in seiner Heimat und den Unterkünften in Deutschland – sie zählen zum tragikomischen Teil des Buches (Wir haben eine neue Wohnung, nur für unsere Familie. In die alte kam dreimal die Polizei. Die trägt hier Grün und ist auch sonst anders als bei uns, sie legt die Hand an den Pistolengriff und will keinen Schnaps.). Aleksandar bemerkt an seiner Mutter, dass sie die Fähigkeit verloren [hat], Dinge schön zu sehen. Die weit verstreute Verwandtschaft hält über alle Distanzen Kontakt – sie und Aleksandars Freunde kommen zu Wort. Und wie eindringlich sein Freund Zoran, im Dorf verblieben, seinen Hass auf alle und jeden – auch auf sich selbst – schildert. Und wie viele »Und« könnte man noch nennen...
Aleksandar sucht seine Asija – er schreibt ihr (obwohl er nicht einmal genau ihren Nachnamen kennt), rührende Briefe voller Selbstbehauptungswillen; Jahre später ruft er einfach irgendwelche Telefonnummern in Sarajevo an, noch später fährt er dort hin, spricht Leute auf der Strasse an, klingelt an Häusern. Und ständig diese Erinnerungen, diese Wieder-Holungen, diese Beschwörungen – und alles (fast alles) ohne Kitsch. Stanišić lässt seiner Figur Aleksandar Raum für Entwicklung – aus dem Jungen wird ein Heranwachsender, schliesslich ein Mann; ein Träumer, manchmal ein nostalgischer Schwelger (er spricht es selbst an im Buch); manchmal ein Melancholiker.
Die ehemaligen Dorfbewohner werden im Krieg gezeigt, in Sarajevo oder in Bosniens Hinterland oder in Kroatien oder in der Fremde. Es gibt eine Erzählung eines Fussballspiels zwischen Serben und den »Territorialen« während eines kurzen Waffenstillstands – dieses Fussballspiel wird man nie mehr vergessen, diese Mischungen zwischen Eskalation und Deeskalation, zwischen Menschlichkeit und Hass: die gesamte Tragik dieses/dieser Kriege spiegelt sich in der unwirklichen, bedrohlichen, verrückten (und auch: tröstenden? – ja, tröstenden!) Erzählung und wenn der erwachsene Aleksandar dann später Višegrad, die Drina und sein Dorf Veletovo, sich auf die Spurensuche begibt, seinen Musiklehrer trifft (der an Demenz erkrankt ist: wie würdevoll Stanišić diesen Mann in seiner Krankheit schildert), sich mit Marija anfreundet und verliebt, den Stationsvorsteher nicht findet und seine Urgrosseltern besucht – in dieser verzweifelten und traurigen Stimmung, die alle überkommt (auch das bleibt unvergesslich: die Totenfeier am Jahrestag am Grab des Opas bei strömendem Regen), selbst dort: eine winzige Hoffnung. Nicht zurück zu den Zeiten der Kindheit (die Liste der »unfertigen Bilder«, die diese Kindheit zurückbeschwören wollen [Als alles gut war oder Fest ohne Pistolen oder Teig an den Händen von Teta Amela, der besten Brotbäckerin der Welt] bleiben unfertig) – diese ist endgültig zu Ende, nur noch Erzählung; Geschichte.
Stanišić zeigt die Verwandlungen der Menschen, die für immer unheilbaren Wunden, die dieser Krieg geschlagen hat. Er zeigt die Toten, er zeigt die persönlichen Fluchten der Überlebenden – den Wahnsinn; das trotzige Weiterleben; das Sich-Arrangieren; das Fliehen in die Fremde (seine Eltern sind in die USA emigriert [sind sie es wirklich, oder erzählt uns Aleksandar das nur?]). Er zeigt – und hier wird er fast unerbittlich – im fast wörtlichen Sinne das Verschwinden einer Kindheit. Sie, die Kindheit, lebt nur fort in den Geschichten; in Erzählungen. Ihre Landschaft, ihre Menschen, ihre Dinge – sie sind vergangen; es gibt sie nicht mehr. Niemand ist mehr der, der er vor dem Krieg gewesen war.
Mit der Kindheit ist auch sein Land, seine Heimat verloren gegangen. Sie kommt nie mehr wieder. Aleksandar ist In Višegrad ein Deutscher – in Deutschland ein Bosnier. Nur Jugoslawe kann er nie mehr sein. Nie urteilt oder verurteilt er – er hört nur zu, beobachtet, erzählt. Nie ist sein Ton pathetisch oder klagend. Selbst das Traurige kommt eine komische Seite – und wird dadurch gerade so treffend, so zupackend. Überall schimmert die Doppelbödigkeit hervor – unangestrengt, gekonnt und niemals trivial.
Zu der Zeit-Kritik von Iris Radisch:
sie bestätigt, dass man auch aus »trustworthy« Quellen nicht immer die »Wahrheit« erfährt. Gegen subjektive Kritik lässt sich auch nicht viel sagen, das Kritikerhandwerk wäre sehr rasch ausgestorben.
Aber eins hat mich daran schon frappiert:
Zitat:
»Denn die Verzauberung und kindliche Poetisierung des Jugoslawienkrieges, die Undurchsichtigkeit und Entrücktheit des Krieges, die in dieser manieriert kindischen Erzählhaltung beschlossen liegt, entspricht durchaus dem diffusen Gefühl, das der westeuropäische Betrachter bis heute mit diesem Krieg verbindet. Wer da eigentlich gegen wen war und ob das Ganze nicht nur eine auf ewig unaufklärbare, rätselhafte Kinderei darstellte, scheint bis heute nicht feststellbar zu sein.«
Vielleicht kann ein Kind nicht den Hintergrund begreifen, doch eine Kritikerin sollte als Erwachsene schon soviel Interesse an Zeitgeschichte haben, dass sie den Krieg nicht als unaufklärbare und rätselhafte Kinderei bezeichnet.
Ich kann mich erinnern, dass in Österreich zB Dr. Mock sehr genau bereits vor der Eskalation die Hintergründe des Krieges beschrieben hat und versucht hat, darauf aufmerksam zu machen, dass sich Europa da viel früher einmischen hätte müssen.
Da kann ich nur ungläubig den Kopf schütteln.
P.S. Eigentlich sollte ich einen Leserbrief an die Zeit schreiben. Aber die Leserbriefusancen der Zeitungen sind mir zuwider.
Stanisic betreibt eben keine »Poetisierung des Jugoslawienkrieges« – das wäre ja ganz einfach nur Kitsch (was sie natürlich dem Buch auch prompt vorwirft). Es gibt eine Stelle, in der das Kind Aleksandar in einen anderen Teil des damaligen Jugoslawien fährt. Er schaut dort Fernsehen und bemerkt (sinngemäss), dass ‘die dort genau das Gegenteil von dem sagen, was sie bei uns sagen’. Und wenn von den Leichen erzählt wird, die die Drina irgendwann nicht mehr aufnehmen kann, so ist das wirklich keine Verkitschung mehr.
Stanisic behält übrigens diesen »kindlichen Ton« im Fortgang des Buches nicht bei. Eine Deutung: Er dient als Erinnerung des Erwachsenen an die Kindheit, der diese versucht, mit der Sprache des Kindes (von damals) wieder zu holen. Das ist m. E. genau eben nicht das »Verfahren« von Kertész. Es bleibt natürlich problematisch, da immer die Gefahr »droht«, dass das Kind zu schlau (oder zu dumm) ist.
Über die Ursachen des Krieges kann heftig gestritten werden. Eine grosse Mitschuld hat hier m. E. Deutschland. Genscher hatte sehr früh (und als Vorreiter in der EU; wie es heisst unabgesprochen) die Sezessionen von Slowenien und Kroatien anerkannt. Damit wurde den Milizen sozusagen ein Freibrief erteilt...
dankeschön
für diese schöne, kluge, treffliche Besprechung. Einen besseren Leserbrief kann Frau Radisch gar nicht bekommen.
Dank zurück
Die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Radisch das hier jemals lesen wird, ist mikroskopisch gering.
Im übrigen weiss ich aus eigener Erfahrung, dass sie Argumenten gegenüber nicht unbedingt immer zugänglich ist. Vermutlich immunisiert man sich als Kritiker damit im Laufe der Zeit. Wie käme man denn dazu, sich von dahergelaufenen Lesern das Weltbild durcheinanderwirbeln zu lassen?
selten genug, dass es dahergelaufene Leser gibt, die so genau lesen.
Lovely Review, Keuschnig!
I wonder what Handke has to say about this book, if he has read it. Re: Iris R. : it is beyond me why someone enjoys any respect as a critic.
Spekulativ
Handke hat ja Márquez einmal als »Lesefutterknecht« bezeichnet – das war m. E. nur halb so despektierlich gemeint, wie es klingt. Man kann nun Stanisic nicht mit Márquez vergleichen – aber eben auch nicht mit dem von ihm so verehrten Andric.
»Die Brücke über die Drina« und der »Soldat« lassen sich schwer vergleich. Dass die beiden in Visegrad spielen (größtenteils) und dass bewaffnete Konflikte und ihr Wirken auf die Stadt eine Rolle spielen, das ja. »Soldat« ist, wenn man möchte, eine Forstsetung der Chronik dieser Stadt mit anderen Mitteln – sowohl sprachlichen, als auch perspektivischen. Im »Soldaten« sind bewußt Signale gesetzt: »hier nehme ich bezug auf Andric«, da wäre einmal die Zerstörung seiner Statue an der Brücke, einmal die Sequenz, als die Panzer die Brücke überqueren und die »Brücke hält« – so wie sie bei Andric die meiste Zeit gehalten und ausgehalten hatte. Dann auch der Fluß – im »Soldaten« ein roter Faden durch die Geschichte, ein Freund des Erzählers, ein poetisch-magischer Raum. Die letzte Rolle nimmt er bisweilen bei Andric auch ein.
@Zwiebel...
Ja, richtig. Ich wollte es nicht vergleichen, aber Fortsetzung der Chronik...mit anderen Mitteln trifft es sehr gut.