In seiner Autobiografie »Ich nicht« kolportiert Joachim Fest gegen Ende eine Anekdote:
Auf einer Geburtstagsfeier in den 80er Jahren habe ein ehedem Untergebener ihm als seinem früheren HJ-Vorgesetzten ein von diesem im Frühjahr 1945 verfaßtes Schreiben über den Tisch gereicht, das ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Führer und die unerschütterliche Erwartung des Endsieges enthielt. Ohne einen genauen Blick auf das Schriftstück zu werfen, so geht die Geschichte nach dem Zeugnis mehrerer Teilnehmer und Eingeweihter weiter, habe der Angesprochene das Papier zerknüllt in den Mund gesteckt und nicht ohne einiges Herauf- und Herunterwürgen geschluckt. Man mag darin eine Art Schadensabwicklung sehen, die Belastungen der Vergangenheit für immer loszuwerden.
(zitiert nach H.-U.Wehler in der »ZEIT«
Angespielt wird – obwohl sein Name nicht erwähnt wird – auf Jürgen Habermas und Fest aus seiner Zeit des »Historikerstreits« durch innige Feindschaft verbunden.
Forciert wurde diese Angelegenheit durch einen Artikel von Jürgen Busche in der aktuellen »Cicero«-Ausgabe. Unter dem Titel »Hat Habermas die Wahrheit verschluckt?« bohrt Busche in polemisch-spekulativer Manier der »Affäre« nach; Habermas sei, so insinuiert Busche, ein gläubiger, endsieggläubiger Adept des nationalsozialistischen Regimes gewesen. Auch wenn er am Ende in einer seltsamen Volte die grossen Ungereimtheiten der Schilderungen eingesteht und als hypothetisch relativiert, bleibt ein sehr schaler Geschmack nach der Lektüre.
Der »Fall« wurde in den Feuilletons diskutiert. Habermas, erst durch Busches Artikel auf die Stelle in Fests Buch aufmerksam geworden, schrieb einen Brief an den Herausgeber des »Cicero«, der – wie es heisst – »scharf« formuliert sei (hierauf wird noch einzugehen sein). Der Brief erreichte sein Ziel: Seit einigen Tagen ist Busches Artikel in der Online-Ausgabe des »Cicero« nicht mehr abrufbar. Habermas’ Brief darum um so zentraler. Soviel zum ersten, wie der Verfechter des herrschaftsfreien Diskurses in seinem eigenen Fall den Diskurs zu verhindern versteht.
Hans-Ulrich Wehler beschreibt in der aktuellen Ausgabe der »ZEIT« seine Sicht des Vorgangs (An diesem Bericht ist so gut wie kein Wort richtig) – er nimmt dabei Fests Darstellung vollkommen auseinander und wirft ihm Verfälschung vor, obwohl er, Wehler, Fest den Sachverhalt korrekt geschildert habe. (»Habermas hat nichts verschluckt«) Wehler habe Habermas 1943 lediglich eine Postkarte »Aufforderung zum Dienst« zukommen lassen; ein normaler Vorgang, in dem »Feldscher« seine Schäfchen nach mehrmaligem Fernbleiben zum Dienst zusammengetrommelt habe.
Wie viele Kommentatoren vermutet auch er eine Art »Abrechnung« Fests mit Habermas. Dieser hatte auf einen Artikel Ernst Noltes in der FAZ 1986 mit einer Polemik in der »ZEIT« reagiert und den sogenannten »Historikerstreit« ausgelöst. Fest war keineswegs nur derjenige, der die abstrusen Thesen Noltes (die als eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen empfunden wurde) publizistisch aus Gründen des Meinungspluralismus veröffentlichte – Fests Reaktionen auf die Diskussion (insbesondere auf Habermas) fielen seinerzeit sehr polemisch und aggressiv aus und leg(t)en den Schluss nahe, Fest teile die Ansichten von Nolte oder hielt sie mindestens für erwägenswert.
Nach landläufiger Meinung gelten Habermas et al. als »Gewinner« dieser Auseinandersetzung. Nolte ist bis heute publizistisch nicht rehabilitiert (er gilt selbst unter Kollegen immer noch als persona non grata – freilich nur im deutschsprachigen Raum; in Italien beispielsweise geniesst er einen guten Ruf als kompetenter Faschismus-Forscher). Fest hatte ebenfalls als Historiker Reputation eingebüsst; er büsste übrigens noch mehr ein, als ihm anlässlich seiner Speer-Biografie immer mehr vorgeworfen wurde, den Beteuerungen Speers allzu leichtfertig geglaubt zu haben, und einem der grössten Täter des Regimes auf dem Leim gegangen zu sein (zuletzt dezidiert in Heinrich Breloers Film »Speer und Er«, in dem sich Fest weitgehend unbeeindruckt und nur sehr begrenzt selbstkritisch zeigte).
Habermas hat nun – wie es am Freitag in der Tagesschau vermeldet wurde – sogar mittels einstweiliger Verfügung erwirkt, dass Fests Biografie (derzeit durchaus ein Bestseller) in der vorliegenden Version nicht mehr ausgeliefert werden darf. »Herrschaftsfreier Diskurs« – zum zweiten!
Man wird an den »Fall« Grass und dem Eingeständnis seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS erinnert – und das war auch wohl der Sinn dieser Kampagne: Hier sollte eine unliebsame Persönlichkeit diskreditiert werden. Selbst wenn alles stimmen würde (was ja wohl nach allen Aussagen nicht der Fall ist) – warum soll man sich nach 60 Jahren über eventuelle Grillen eines 15jährigen aufregen? Kann dadurch ernsthaft ein Lebenswerk diskreditiert werden?
Einerseits. Und andererseits? Warum reagiert Habermas mit einer derartigen Schärfe? Und wie steht es mit der Empörung von Rüdiger Safranski ob einer Formulierung in Habermas’ Brief an Wolfram Weimer von »Cicero«:
Fest hat mir offenbar die Kritik an jenen Vordenkern des NS-Regimes übelgenommen, die er in seinem Blatt rehabilitieren liess.
Safranski meint, Habermas unterstelle Fest hiermit (posthum; Fest starb am 11.09.), »Vordenker des Nationalsozialismus« in seinem Blatt (der FAZ – er war damals Mitherausgeber) rehabilitiert, also quasi reingewaschen zu haben und ihnen und ihren Thesen ein Forum gegeben zu haben: »Das heißt ja nichts anderes, als ihn in die Nähe zum ideologischen Nazismus zu bringen. Ich finde das eine ganz ungeheuerliche Feststellung«, so Safranski im Deutschlandfunk. Zweifellos ein schweres Geschütz, da hat Safranski recht. Habermas – zum dritten.
Also warum diese Heftigkeit? Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Deutungshoheit in der Bundesrepublik, die in der Vergangenheit mehrheitlich von linksliberalen Intellektuellen bestimmt war. Wenn diese Intellektuellen jetzt systematisch diskreditiert werden (und sei es nur über Lächerlichkeiten), dann wird damit – wenn dies gelingt – der Weg frei für neue Deutungen, neue Ambitionen, neue Positionierungen. Dabei soll der »alte« politische und soziale Konsens nicht durch neue Programmatik ersetzt werden – nein, die ursprünglichen moralischen Vorbilder sollen tiefgreifend und dauerhaft desavouiert und diskreditiert werden. Dies wird über biografische »Verfehlungen« versucht – eine fachliche Auseinandersetzung unterbleibt. Habermas’ Rolle im Historikerstreit ist nicht so glänzend, wie dies den Adepten scheint. Seine Polemiken und auch teilweise irrig geführten Angriffe sind oft genug beschrieben worden. Dennoch hat sich den Tenor seiner Sichtweise auf Noltes Thesen durchgesetzt – alleine schon deswegen, weil das Gros der Historiker Habermas’ Meinung waren.
Soweit die gängige Deutung dieser Vorgänge. Aber es gibt vielleicht noch eine andere, weitaus persönlichere Sicht. Fest erzählt in seiner Autobiografie seine Kindheit und Jugend während der Zeit des Nationalsozialismus. Dreh- und Angelpunkt ist der Vater, der den Einvernehmungen des NS-Regimes von Anfang an widersteht. Fests Vater, ein Lehrer, tritt nicht der Partei bei, verliert dadurch sehr schnell seine Arbeit, bleibt aber standhaft und schlägt sich mit seiner Frau und den Kindern und einigen wenigen gleichgesinnten durch. Sein moralischer Rigorismus wird mehrfach beleuchtet, etwa dort, wo der junge Fest mit den »Buddenbrooks« von Thomas Mann erscheint, und der Vater quasi die Lektüre verbietet, da Thomas Mann einer der Totengräber der (Weimarer) Demokratie gewesen sei. Da war Mann schon längst im Exil.
Fest setzt seinem Vater ein Denkmal. Gleichzeitig zeigt er, dass ein passiver Widerstand im Nationalsozialismus durchaus möglich war, ohne primär Gefahren für Leib und Leben zu erleiden. Fest wäscht damit einerseits durchaus das Bildungsbürgertum ein bisschen rein – klagt es aber gleichzeitig in seinem Opportunismus an, in dem er zeigt, dass es möglich war, sich nicht gemein zu machen. Die Familie hat trotz der wirtschaftlichen Pressionen durchgehalten – zu berücksichtigen ist ja, dass niemand wusste, wie lange das Verbrecherregime an der Macht blieb; das es »nur« zwölf Jahre waren, wusste damals niemand – es hätten auch fünfzig sein können.
Hier sehe ich eine Motivation für Fests Vorstoss: Zur gleichen Zeit, als Grass sich freiwillig zur Wehrmacht meldete und bei der Waffen-SS landete und als Habermas Kärtchen für das nächste HJ-Treffen verschickt, um »seine Schäfchen« einzusammeln, hat er in seiner Familie ob der Widerständigkeit seines Vaters am Regime gelitten. Später waren es jene, die dem Regime nicht widerstanden hatten, die zu moralischen Instanzen gemacht wurden und sich selbst gemacht haben. Fest sah sich moralisch in ungleich höherer Position – er brauchte nicht erst geläutert zu werden, er war es durch sein Leben. Gelegentlich bemerkte die Kritik eine Form der Anmassung bei Fest, der den Widerstand des Vaters (»Ich nicht!«) für die eigene Person verwendet – dies, obwohl Fest selbst damals diese Entscheidung ja gar nicht getroffen hatte, gar nicht hat treffen können.
Dies antizipierend, wird dann auch das publizistische Werk Fests (einschliesslich der ambivalenten Punkte) selbst wieder relativiert: Jemand, der wie Fest, sich als Widerständler des NS-Regimes fühlte, »darf« sehr wohl auch Gegen-Mainstream-Meinungen äussern; die moralische Legitimation hierzu wurde durch die Vita erworben, und nicht durch ausschliesslich intellektuelle Akte, die in Anbetracht der Vergangenheit einiger Protagonisten von Fest als ziemlich heuchlerisch betrachtet wurden.
Diskurs – zum vierten. Klappe. Ende.
Fest hat die Wahrheit
mit ins Grab genommen.Er schrieb »über ehemalige NS-Täter,die sich nach dem Krieg durch großes Verleunen hervorgetan haben«(Spiegel)
Laut Habermas Anwalt sei sein Mandant »eindeutig entschlüsselt«.
Aha.
Herr Busche ist auf den Zug aufgesprungen und hat sich damit produziert und nun das große Entsetzen:Eine einstweilige Verfügung!Und diese Zensur von einem, der den »herrschaftsfreien Diskurs »predigte.
Ich sehe da einen dicken Haufen Eitelkeiten und die krude Kindheit eines Fest ist schon prägend gewesen.Das läßt sich nicht leugnen.Allerdings gibt sie auch keine moralische Legitimation.
Sie hat ihn sicher hart gemacht aber sie »legitimiert« nicht.
Aliquid sempera heret, Herr Habermas!
habermas muss sich aufregen! in diesem Fall insbesonders
Wie Sie ja wissen Keuschnig, ich kenne das Werk des Herrn Habermas,auch die Person. Ich wuerde sagen, dass jemand der Habermas’s Ruf besitzt, sich auch um jeden an den Ruf kommenden Makel kuemmern muss, da die Autentizitaet seines moralischen Anspruchs, und ueberhaupt, besonders in diesem Fall mit der Person identisch ist. Es ist kein Fall wie der des Grass, der als Kuenstler sich da noch irgendwie durschwursteln kann, und hat wenn man die Zwiebel Seiten alle entschaelt hat. Also Philosoph der auch ueber Recht philosophiert [nach denkt], also Soziologe wuerde Habermas viel abgesprochen wenn er die ganze Zeit verschwiegen haette er waere ein bloed fanatische glaeubiger Bub and Endsieg und so was gewesen.
Die Frage war eher...
rhetorisch gemeint. Er muss sich vermutlich wirklich aufregen – aber so?
An sich ist diese Affäre ja lächerlich; scheint einem schlechten Buch entnommen. In der »Feuerzangenbowle« verspeist Pfeiffer vor dem Lehrer auch einen Zettel, der ihn entlarven würde. Busche und Cicero bewegen sich hier auf sehr trivialem, ja lächerlichen Feld. Dennoch müsste ein Mann wie Habermas m. E. mehr Souveränität an den Tag legen und nicht derart zurückkeilen, wie er dies im Brief an Weimer tut; ein, m. E., erschreckendes Dokument. Die Adepten finden es natürlich grossartig, nur: wer genau liest, entdeckt eben die unangemessenen Unterstellungen.
#1 – Alexander Fest
schreibt in einem kleinen Artikel in der ZEIT (Nr. 46), warum sein Vater Wehlers Brief nicht mehr hat in sein Buch entsprechend einbringen können. Zum Zeitpunkt des Eingangs von Wehlers Brief war er todkrank (wie Fest schreibt, sogar im Koma). Im August war sein Vater dann für kurze Zeit wieder da und konnte sogar zum Fall Grass noch Stellung nehmen. Am 11.9. starb er dann.
Aus dem Artikel (leider nicht online verfügbar) ist deutlich herauszulesen, dass Fest die Sache beenden möchte. Ob es zuviel verlangt gewesen wäre, durch einen Lektor diesen Fehler zu korrigieren, kann ich nicht beurteilen; ich kenne mich in diesem Metier nicht aus. So wie es aussieht, hat J. F. daneben gegriffen, worunter m. E. (ob berechtigt oder nicht) die Glaubwürdigkeit seines Buches leidet. Falls Busche (und/oder Cicero) die Absicht hatten, das Denkmal Habermas vom Sockel zu stossen, sind sie gründlich gescheitert.