John Banvilles »Die See« ist bei aller Melancholie und gelegentlichem Sentiment kein Bericht eines selbstmitleidigen Helden, der in den »besten Jahren« die obligatorische Sinnkrise bekommt. Im Gegenteil. Der Grundton ist elegisch, aber fast immer wenn das Pathos droht dröhnend zu werden, ruft der Erzähler sich selber zur Ordnung. Max’ Erinnerungen, nein: die Wieder-Holungen, oft überfallartig, ungewollt, unsteuerbar (meistens wenn er eine Erinnerung »erzwingen« will, scheitert es) – er möchte in ihnen schwelgen, kann es aber nicht bzw. kaum, da er um den Lug und Trug der Evokationen zu genau weiss (oder sie zumindest fürchtet). Das Wachsfigurenkabinett der Erinnerung – Max ist zu klug, ihm zu vertrauen und sein erster Eindruck fällt entsprechend aus: In der Pension »Zu den Zedern« ist kaum noch etwas von der Vergangenheit übrig, von jenem Teil der Vergangenheit, den ich hier erlebt habe. Und viel später heisst es: Der Raum sah im Grossen und Ganzen noch genauso aus, wie ich ohne in Erinnerung hatte, oder jedenfalls sah er so aus, als sähe er noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, denn wenn man an einen Ort aus der Vergangenheit zurückkehrt, sind die Erinnerungen stets bestrebt, sich nahtlos an die Dinge und Gegebenheiten, die dort herrschen, anzupassen.
Nicht zur die Dinge passen sich den Erinnerungen (scheinbar) an (es kommt also letztlich nicht auf Genauigkeit an, sondern auf die Erzählung) – auch die Personen. Max schloss sich in diesem Urlaub in der Kindheit der Familie Grace an, steigerte damit auch seinen sozialen Status (man wohnte in dieser Pension, die damals einigen Luxus bot, statt in einem einfachen Ferienhaus wie die eigenen Eltern) – aber, und das war das Entscheidende, Max’ Interesse an der lasziven Mrs. Grace (wunderbar, wie Banville die neugierigen Blicke des Max auf Mrs. Grace erzählt, ohne ins schlüpfrige zu verfallen oder das Kind als voyeuristisch zu denunzieren), der Mutter der beiden Kinder Chloe (einer frühreifen Göre) und dem stummen Myles; dieses erste Aufflammen sexuellen Interesses an einer Frau, welches sich dann im Laufe des Sommers auf die Tochter Chloe überging. Ein Genuss, diese Szene, als die Schwärmerei Mrs. Grace gegenüber in fast einem Moment, von einer Sekunde auf die andere, verloren ging. Von nun an sind Max, Chloe, Myles und das Kindermädchen Rose (ein seltsames Quartett) unzertrennlich, einen Sommer lang – und wie das Banville dann erzählt, wie er gelegentlich dann doch seinem alternden Max freien Lauf lässt, das ist schon sehr schön und dicht und manchmal sogar episch – gerade weil Banville bewusst lakonisch erzählen will, geraten die Stellen, an denen es nicht »gelingt«, so kunstvoll und eindringlich.
So bleibt das Ende dieser Sommerfrische für den Leser sehr lange unerahnbar, weil Max sich auch in einer gewissen Chronologie »erinnert«; kein allwissender Erzähler schürt eine künstliche Spannung (wie beispielsweise in Kerstin Gunns auch meisterlicher Novelle »Regentage«, die vom Ende aus retrospektiv erzählt) – und natürlich wird hier auch davon nichts verraten.
Ständig wird in dem Buch zwischen den Erinnerungen dieses Sommers und dem Leben mit Anna changiert. Max phantasiert hier insbesondere den Anfang ihrer Beziehung, die schnelle Eheschliessung (und die Komplikationen) und das Leiden Annas an und während der Krebserkrankung. Aber auch hier bleibt der Reflexionsprozess ein wesentliches Merkmal der Poetik Banvilles: ...am Ende kehren die Gestalten aus der fernen Vergangenheit noch einmal zurück und verlangen ihre Schuldigkeit. Und plötzlich weiss Max, dass er nichts mehr weiss, und diese Stelle des fruchtbaren Selbstverlierens, dieses Zertrümmern der nur scheinbaren (Selbst-)Gewissheit, sei hier exemplarisch für den Ton und die Methode Banvilles zitiert:
Ich dachte an Anna. Ich zwinge mich, an sie zu denken, das sind so Exerzitien, die ich mache. Sie ist in mich hineingestoßen wie ein Messer, und dennoch fange ich schon an, sie zu vergessen. Schon fängt ihr Bild in meinem Kopf allmählich zu verschleißen an, die Farbpigmente werden immer blasser, und die Vergoldung blättert ab. Ob eines schönen Tages die ganze Leinwand leer sein wird? Langsam begreife ich, wie wenig ich Anna gekannt habe, ich meine, wie oberflächlich mein Wissen von ihr war, wie ungenau. Nicht, dass ich mir deswegen Vorwürfe mache. Vielleicht sollte ich es tun. War ich zu träge, zu unaufmerksam, zu sehr mit mir selbst beschäftigt? Ja, alles zusammen, und trotzdem kann ich keine Schuld darin sehen, in diesem Vergessen, diesem Nichtwissen. Ich glaube eher, meine Erwartungen im Hinblick auf das Kennen sind zu hoch gewesen. Wie kann ich mir nur einbilden, einen anderen wirklich zu kennen, so wenig, wie ich von mir selber weiß?
Aber Moment mal, nein, das ist es nicht. Ich bin nicht ehrlich – das ist ja ganz was Neues, sagst du, jaja. Die Wahrheit ist, es war nicht unser Bedürfnis, einander zu kennen. Im Gegenteil, es war unser Bedürfnis, einander nicht zu kennen. Habe ich schon irgendwo gesagt – keine Zeit jetzt, zurückzublättern und nachzuschauen, zu sehr beschäftigen mich plötzlich die Strapazen dieser Überlegung -, dass das, was ich bei Anna von Anfang an gefunden habe, die Möglichkeit war, meine Phantasievorstellungen von mir selber zu verwirklichen? Als ich das sagte, war mir gar nicht so richtig klar, was ich damit meine, doch nun, wo ich ein wenig genauer darüber nachdenke, verstehe ich es auf einmal. Oder doch nicht. Ich will versuchen, es hervorzukitzeln, Zeit habe ich mehr als genug, denn diese Sonntagabende sind endlos.
Es gibt Bücher, die sehr kunstvoll und schön geschrieben sind, aber nicht besonders lange nachhallen. Man nimmt sie später gerne wieder zur Hand und liest dann einige Kapitel nochmals. Und es gibt Bücher, da genügt ein Bild oder ein Geräusch und man erinnert sich sofort ihrer; man hütet sie wie einen Schatz, weil man weiss, man wird sie irgendwann noch einmal brauchen, sie dann noch einmal lesen, noch mehr Nuancen feststellen als beim ersten Mal – man wird dieses Buch immer wieder ein bisschen neu lesen und sich dem Sog erneut willig hingeben. »Die See« gehört für mich zweifellos zur zweiten Kategorie.
Der Ausschnitt stimmig,hinreißend nicht nur *schön*.Es gibt kein Wort
für diese Zeilen, es würde sie zerstören.Gratuliere ‚Volltreffer beim Zitieren.
Sensible Rezension! Macht Lust zum Lesen – ich finde hochgejubelte Bücher sonst immer etwas verdächtig.