Zur gü­ti­gen Aus­lö­schung

Delfi 02
Del­fi 02

Es muss­te ja so kom­men. Nach der an­spre­chen­den Aus­ga­be 01 mit zwei her­aus­ra­gen­den Tex­ten wirkt die zwei­te Aus­ga­be von Del­fi eher ma­ger. Wo­bei man in­di­rekt beim The­ma die­ses Hef­tes ist: Fleisch. Fleisch sei, so klin­gelt es im Edi­to­ri­al der Her­aus­ge­ber Fat­ma Ay­d­emir, Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah, En­ri­co Ip­po­li­to und Miryam Schell­bach, »in Wort und Sub­stanz fos­si­les Be­geh­ren. Es ist Ver­füh­rung und Pro­jek­ti­ons­flä­che.« Fleisch ist dem­nach nicht nur »ein Stück Le­bens­kraft« (© CMA-Wer­bung 1967ff), son­dern »schafft Sinn­lich­keit«. Und wei­ter heißt es, leicht heid­eg­gernd: »Fleisch ist…die Leit­me­ta­pher für den wo­gen­den, tä­ti­gen, sor­gen­den Leib der Be­ru­hi­gung, wir drücken uns an Brü­ste und le­gen den Kopf auf Schö­ßen ab.« Wie pro­gres­siv Kitsch for­mu­liert sein kann.

Mir hin­ge­gen fiel zu­nächst nur der Film von Rai­ner Er­ler aus 1979 mit dem Ti­tel Fleisch ein, in­dem es um Or­gan­han­del ging, und mit ihm be­gann die sehr lan­ge kol­por­tier­te Fa­ma vom ge­kid­napp­ten Mann aus dem Au­to oder vor dem Su­per­markt, der Stun­den spä­ter mit ei­ner gro­ßen Nar­be und oh­ne ei­ne Nie­re in ir­gend­ei­ner Ka­schem­me auf­wacht. Und nun al­so Fleisch als Mot­to, was, wenn man es nicht wüss­te, wäh­rend der Lek­tü­re ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht. Zwar gibt es hier und da ei­ni­ge fleisch­li­che, zu­meist ho­mo­ero­ti­sche Epi­so­den (sie sind meist ähn­lich lang­wei­lig wie die Schil­de­run­gen he­te­ro­se­xu­el­len Ak­tio­nen in der deut­schen Li­te­ra­tur; wer will, kann das bei Rai­ner Mo­ritz nach­schla­gen), aber die wir­ken zum Teil ein biss­chen pflicht­schul­dig, et­wa in der Ge­schich­te um den Tod ei­ner Groß­mutter (Bur­çin Te­tik mit Se­hers Gar­ten) und den Evo­ka­tio­nen der Er­zäh­le­rin von ih­ren di­ver­sen Som­mern in Groß­mutter-Gar­ten. War­um frau dort nicht nä­her drauf- oder bes­ser noch: auf­ge­schaut hat? Die­se Groß­mutter hat mich so­fort in­ter­es­siert; sie starb viel zu früh. Scha­de.

Wei­ter­le­sen ...

Me­la­nie Möl­ler: Der ent­mün­dig­te Le­ser

Na­tür­lich ist das Co­ver ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Sym­bo­le der »Gen­der­spra­che« – Stern, Un­ter­strich, Dop­pel­punkt. Ent­we­der oder. Hier al­les auf ein­mal. »Für die Frei­heit der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel. Dem Buch vor­an­ge­stellt ist ein Aus­zug aus Kaf­kas Brief an Os­kar Pol­l­ak, je­ne be­rühm­te Stel­le, in der er er­klärt, wie ein Buch ...

Wei­ter­le­sen ...

Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Das Co­ver ist in exi­sten­tia­li­sti­schem Schwarz, zeigt zwei Hän­de, die ein auf­ge­schla­ge­nes Buch hal­ten. An­son­sten ist nichts mensch­li­ches zu se­hen. Dar­über steht der Ti­tel Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher und man fragt sich zu­nächst, ob es nicht eher die Su­che nach dem ver­lo­re­nen Le­ser ist, aber das täuscht.

Alex­an­der Pech­mann ist der Au­tor, er ist Über­set­zer, Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber und die­se Viel­sei­tig­keit merkt man die­sem Buch an. Es be­ginnt mit ei­ner Vor­re­de ei­nes fik­ti­ven, na­men­los blei­ben­den »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kars«, ei­nem ein­sa­men Re­gal­hü­ter der Bi­blio­thek der nicht ge­schrie­be­nen, ver­brann­ten oder ver­lo­re­nen Bü­cher. Man ist zu­nächst auf­ge­schreckt ob des plü­schi­gen Con­fé­ren­cier­tons, aber im Lau­fe der fol­gen­den drei­ßig Auf­sät­ze mel­det sich der Bi­blio­the­kar glück­li­cher­wei­se nur noch sel­ten und wenn, dann eher als Bot­schaf­ter der Mög­lich­kei­ten, denn er hat sie na­tür­lich al­le, die­se ge­heim­nis­vol­len, dem nor­ma­len Sterb­li­chen ver­bor­ge­nen Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur.

Bis­wei­len gibt es ei­nen klei­nen Ein­blick in die ver­schol­le­nen Ma­nu­skrip­te, so bei In Bal­last to the White Sea von Mal­colm Lo­wry oder dem Stück ei­nes an­ti­ken Thea­ter­dich­ters aus Ab­de­ra. Und manch­mal greift der »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kar« auch in die Li­te­ra­tur­sze­ne ein, holt das ein oder an­de­re Ma­nu­skript aus sei­nem Be­stand und ver­steckt es der­art, dass es ir­gend­je­mand dann über­ra­schend »wie­der­fin­det«, wie et­wa Ma­ry Shel­leys Er­zäh­lung Mau­rice oder die Fi­scher­hüt­te, ei­ne Ent­deckung von 1997, recht­zei­tig zum 200. Ge­burts­tag der Au­torin.

Es gibt vie­le Grün­de, war­um Ma­nu­skrip­te und bis­wei­len Bü­cher auch be­kann­ter Schrift­stel­ler nicht (mehr) ver­füg­bar sind. He­ming­ways frü­he Auf­zeich­nun­gen gin­gen et­wa auf ei­nem Trans­port quer durch die Welt ver­lo­ren; er hat­te sich in­zwi­schen wei­ter­ent­wickelt und gräm­te sich kaum. Ähn­lich wie bei T. E. Law­rence, der sei­ne ver­schlamp­ten Ma­nu­skrip­te zu Die sie­ben Säu­len der Weis­heit aus dem Ge­dächt­nis re­kon­stru­ier­te. Häu­fig fie­len sie al­ler­dings der Ver­nich­tung durch den Au­tor sel­ber zum Op­fer, sei es aus po­li­ti­schen Grün­den (von Prot­agoras zu Ab­de­ra über Dr. John Dee [Shake­speares »Prospero«-Vorbild], Do­sto­jew­ski, Pusch­kin, ei­ni­ge von Tho­mas Manns Ta­ge­bü­chern bis Blai­se Cen­dars) oder weil der Ver­fas­ser nicht zu­frie­den war mit dem Ge­schrie­be­nen und aus Wut, Selbst­hass oder ein­fach nur zu viel Al­ko­hol zum »Au­to­da­fé« schritt, wie bei­spiels­wei­se Bal­zac bei sei­ner Er­zäh­lung Der Land­arzt oder Ja­mes Joy­ces Mo­nu­men­tal­ma­nu­skript Ste­phen Hero.

Wei­ter­le­sen ...

Rai­nald Goetz: wrong

Mit den drei Stücken Reich des To­des, Ba­racke und La­pi­da­ri­um, die im so­eben er­schie­ne­nen Band La­pi­da­ri­um ver­sam­melt sind und der par­al­lel da­zu pu­bli­zier­ten Text­samm­lung wrong be­en­det der Schrift­stel­ler Rai­nald Goetz sei­ne sechs­tei­li­ge Schlucht-Rei­he, je­nen 2007 be­gon­ne­nen »Ver­such der Er­kun­dung der Dun­kel­zeit der Nuller­jah­re«, be­stehend aus »Kla­ge, Ta­ge­buch­es­say; los­la­bern, Be­richt; Jo­hann Hol­trop, Ab­riß der Ge­sell­schaft, Ro­man; ...

Wei­ter­le­sen ...

Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war
Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Ei­gent­lich sind es drei­zehn Er­zäh­lun­gen, die Chri­stoph Rans­mayr in sei­nem neu­en Buch ver­sam­melt hat. Al­le­samt sind sie zwi­schen 1997 und 2018 pu­bli­ziert wor­den und wer­den jetzt mit dem leicht-re­si­gna­ti­ven Ti­tel Als ich noch un­sterb­lich war end­lich an ei­nem Ort zu­sam­men­ge­fasst. Wo­bei der aber­gläu­bi­sche Au­tor in ei­nem klei­nen Vor­wort von »12a« spricht, um die­se un­ge­lieb­te Zahl zu ver­mei­den. Man kann al­ler­dings auch ein­fach die Ein­lei­tung als 14. Ge­schich­te le­sen, zu­mal dort das Co­ver vom bren­nen­den Schab­racken­ta­pir er­läu­tert wird.

Rans­mayr spricht in 12a von »Spiel­for­men der Er­zähl­kunst« und be­weist in die­sem Band sei­ne Viel­sei­tig­keit. Die Ti­tel­ge­schich­te, die den Band er­öff­net, han­delt von ihm als Kind, wel­ches beim Es­sen der Buch­sta­ben­sup­pe durch die Mut­ter an­ge­lernt wird »mit ei­nem Löf­fel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu hal­ten und sich dem »Zau­ber der Ver­wand­lung von et­was in Spra­che et­was selt­sam Fried­li­ches« hin­zu­ge­ben. Die­ser pa­ra­die­sisch an­mu­ten­de Zu­stand kommt zu ei­nem jä­hen En­de, als die Mut­ter »kaum sech­zig­jäh­rig, an ei­nem hei­ßen Au­gust­tag starb«. Auf dem To­ten­bett aus Ver­zweif­lung nach Wor­ten rin­gend, mahn­te die Mut­ter ih­ren Sohn ge­sti­ku­lie­rend zur Stil­le. Ein be­we­gen­des Bild.

Auch die an vor­letz­ter Stel­le wie bei­läu­fig ein­ge­ar­bei­te­te Va­ter­ge­schich­te An der Bah­re ei­nes frei­en Man­nes er­greift den Le­ser. Karl-Fried­rich Rans­mayr wird hier als ein Wie­der­gän­ger von Mi­cha­el Kohl­haas er­zählt. Da­bei klingt es zu­nächst mehr nach Bart­le­by. Rans­mayrs Va­ter wi­der­stand als Schü­ler dem Druck, auf ei­ne Na­zi-Eli­te­schu­le zu ge­hen und lehn­te es spä­ter ab, die Of­fi­ziers­lauf­bahn in der Wehr­macht ein­zu­schla­gen. »Ich woll­te un­ter die­sen Leu­ten nichts wer­den«, er­klär­te er hin­ter­her. Nach dem Krieg wur­de er Leh­rer und en­ga­gier­te sich eh­ren­amt­lich, ver­fass­te Ein­ga­ben und Ge­su­che »für Bau­ern, Hand­wer­ker, Gast­wir­te, Faß­bin­der und Schicht­ar­bei­ter«, schließ­lich stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster und ver­gab hemds­är­me­lig und un­kon­ven­tio­nell Kre­di­te an Klein­ge­wer­be­trei­ben­de. Sei­ne Be­liebt­heit weck­te Nei­der, man de­nun­zier­te ihn, Gel­der ver­un­treut zu ha­ben. Es wur­de er­mit­telt, Karl-Fried­rich Rans­mayr »ver­lor sei­ne Stel­le als Ober­leh­rer, ver­lor al­le sei­ne Funk­tio­nen in den Ver­ei­nen des Or­tes und na­tür­lich auch sei­nen Rang als stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster«. Der Pro­zess er­gab, dass er sich zwar nicht be­rei­chert und der Ge­mein­de kei­nen Scha­den zu­ge­fügt hat­te, aber der ju­ri­sti­sche Tat­be­stand der Un­treue blieb be­stehen. »Aber Kohl­haas, mein Va­ter, woll­te zum er­sten Mal in sei­nem Le­ben kei­ne Nach­sicht, auch kei­ne Mil­de, son­dern Ge­rech­tig­keit« und »wei­ger­te sich, das Ur­teil an­zu­neh­men.« Im­mer­hin: »Nach fünf Jah­ren Nacht­ar­beit am Fließ­band der Pa­pier­fa­brik« er­folg­te die voll­stän­di­ge Re­ha­bi­li­ta­ti­on. Dann starb sei­ne Frau, Rans­mayrs Mut­ter. Der Va­ter »lehnte…die Wie­der­auf­nah­me in die dörf­li­che Ge­mein­schaft ab« und or­ga­ni­sier­te sein Le­ben neu. Ein zärt­lich-be­wun­dern­der Ton ist in die­ser Er­zäh­lung ein­ge­wo­ben.

Wei­ter­le­sen ...

Ma­thi­as Enard: Tanz des Ver­rats

Ei­gent­lich sind es zwei ganz un­ter­schied­li­che Ge­schich­ten, die der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Ma­thi­as Enard in sei­nem neue­sten Ro­man er­zählt. Und das spie­gelt sich (ab­sicht­lich oder nicht?) be­reits in der deut­schen Über­set­zung des Ti­tels. Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man Dé­ser­ter, in der deut­schen Über­set­zung von Hol­ger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler Tanz des Ver­rats. Zum ei­nen han­delt es ...

Wei­ter­le­sen ...

Szc­ze­pan Twar­doch: Käl­te

Szczepan Twardoch: Kälte
Szc­ze­pan Twar­doch: Käl­te

Es ist 2019, ein Jahr vor ei­ner Pan­de­mie und drei Jah­re vor ei­nem neu­en Krieg in Eu­ro­pa. Ein Schrift­stel­ler, der sich Szc­ze­pan nennt, flüch­tet vor »der Welt und dem Le­ben«, reist nach Spitz­ber­gen, nimmt die Fäh­re nach Py­ra­mi­den, ei­ner ehe­ma­li­gen Berg­ar­bei­ter­stadt, in der nur noch ein paar Rus­sen le­ben, und ver­bringt ei­ne Wo­che im Eis, in der Nä­he des Glet­schers Jo­t­un­fon­na. Dann kehrt er zu­rück, trinkt in ei­nem schä­bi­gen Ho­tel in Barents­burg ei­nen Whis­ky, will im­mer noch nichts von Men­schen se­hen und hö­ren, was fast ge­lingt. Bis ihn ei­ne äl­te­re Frau an­spricht, ei­ne ge­wis­se Bor­g­hild Moen, die rasch sei­ne Neu­gier weckt. »Der Oze­an ist mei­ne ein­zi­ge Hei­mat«, sagt die­se rü­sti­ge Da­me, zeigt ihm ih­re mo­der­ne, 50 Fuß lan­ge Yacht »Isbjørn« und lädt ein, auf ei­ne Tour zu ge­hen, wo­bei sie nicht das Ziel nennt, was den Schrift­stel­ler nur noch neu­gie­ri­ger macht, denn da ist ein »ver­bor­ge­nes Ge­heim­nis« in die­ser 82jährigen Frau. Er sagt al­le Ter­mi­ne ab, nimmt die mür­ri­schen Kom­men­ta­re ent­ge­gen, und kommt sich in Be­zug auf sei­ne bei­den Kin­der ein we­nig schä­big vor. Die »Isbjørn« ist tech­nisch sehr gut aus­ge­stat­tet, der Pro­vi­ant üp­pig (er be­tei­ligt sich mit 2000 Kro­nen dar­an). Sei­ne nau­ti­schen Kennt­nis­se hel­fen ihm; bald ent­steht ein stil­les ge­gen­sei­ti­ges Ver­trau­en und Bor­g­hild Moen legt ihm ein al­tes Heft vor, das No­tiz­buch ei­nes Kon­rad Wi­duch, be­gin­nend am 16. Ju­ni 1946. Er soll es »mit Ver­stand le­sen«. Dann ist das Vor­wort von Szc­ze­pan Twar­dochs neu­em Ro­man Käl­te (wie im­mer ist Olaf Kühl der Über­set­zer) vor­bei und es be­ginnt.

Wi­duch, da­mals 51, »ge­bo­re­ner Preu­ße«, aus Pilch­o­witz, Schle­si­en stam­mend, zum Zeit­punkt der Nie­der­schrift ge­fan­gen im ark­ti­schen Eis auf ei­nem Schiff mit dem hoch­tra­ben­den Ti­tel »In­vin­ci­b­le«, schreibt, ja kotzt sei­ne Le­bens­ge­schich­te in die­ses Heft, in mä­an­dern­dem, bur­les­kem Ton, ge­rich­tet an ei­ne an­ony­me Le­se­rin, an die er zwar nicht glaubt, aber dann doch ir­gend­wie er­hofft, denn an­son­sten wür­de das Auf­schrei­ben sinn­los sein. Die Kind­heit ist schwer, der Va­ter ist früh ver­schwun­den, die Mut­ter gibt sich mit im­mer neu­en Män­nern ab und mit 14 ver­lässt Wi­duch das El­tern­haus, nach­dem er dem neue­sten Lieb­ha­ber der Mut­ter aus Ra­che für ei­nen ge­bro­che­nen Arm mit dem an­de­ren Arm und ei­nem Schür­ha­ken zu­sam­men­ge­schla­gen hat­te. Er geht 1912 »an die Ruhr«, dann zur See, wird auf der kai­ser­li­chen »Hel­go­land« Ma­tro­se, spä­ter Maat. Als man ihm und den an­de­ren be­fiehlt, Ka­no­nen­fut­ter für die Eng­län­der zu wer­den, re­bel­liert die Be­sat­zung. Wi­duch nimmt 1918 am Ma­tro­sen­auf­stand teil und wird zum Kom­mu­ni­sten, er, des­sen »of­fi­zi­el­le zi­vi­le Aus­bil­dung mit der Grund­schu­le zu En­de war.«

Der Le­ser ist ge­for­dert, den Le­bens­lauf aus den ab­schwei­fen­den und zeit­lich im­mer wie­der durch­ein­an­der wir­beln­dem Er­zähl­strom des Schrei­ben­den zu ord­nen, denn es be­ginnt mit grau­si­gen Fol­ter­me­tho­den, die der in ei­nem Gu­lag sah und bis­wei­len am ei­ge­nen Leib er­leb­te (dut­zen­de Ma­le er­klärt er, die­sen Ort nicht na­ment­lich zu nen­nen, als wür­de da­mit ein Fluch ge­bannt). Die Schil­de­run­gen sind nichts für zar­te Ge­mü­ter. Im­mer­hin: Sei­ner Frau So­fie und den bei­den Töch­tern dürf­ten die Flucht ge­lun­gen sein, denn sonst wür­de man ihn in Ver­hö­ren nicht nach ih­nen fra­gen. Das war um 1937, nach­dem Wi­duch in den 1920er Jah­ren den gro­ßen Marsch vom Kau­ka­sus in die Ukrai­ne, al­so den rus­si­schen Bür­ger­krieg ge­gen »die Wei­ßen« mit­ge­macht hat­te, und der Le­ser er­fährt wie ne­ben­bei, dass er auch kein En­gel war, et­wa als er die­sen jun­gen pol­ni­schen Leut­nant ge­fan­gen nahm, der um sein Le­ben jam­mer­te. Wi­duch wog ihn in Si­cher­heit und dann schoss er ihn von hin­ten in den Kopf, sich im­mer noch rüh­mend, den Of­fi­zier vor den Mal­trä­tie­run­gen der Ko­sa­ken (Spe­zia­li­tät: Pe­nis ab­schnei­den) be­wahrt zu ha­ben.

Wei­ter­le­sen ...

B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

B. Traven: Das Totenschiff
B. Tra­ven: Das To­ten­schiff

Zum er­sten Mal er­schien B. Tra­vens Das To­ten­schiff 1926 im Rah­men der Bü­cher­gil­de Gu­ten­berg, ei­nem »ge­werk­schaft­li­chen Buch­club« (Vol­ker Kut­scher). Es wur­de ein Rie­sen­er­folg für ei­nen Au­tor, des­sen Iden­ti­tät nie­mand kann­te, der je­doch zu­vor be­reits im so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­wärts mit dem Fort­set­zungs­ro­man Der Baum­woll­pflücker für Auf­se­hen ge­sorgt hat­te. Die Fra­ge, wer die­ser B. Tra­ven war, ist bis heu­te nicht ein­deu­tig ge­klärt. Es ist wohl­tu­end, dass Vol­ker Kut­scher in sei­nem Nach­wort zur ak­tu­el­len Neu­auf­la­ge die­ses Ro­mans nicht die un­ter­schied­li­chen Ver­sio­nen der Iden­ti­tät auf­drö­selt. Mehr­heit­lich glaubt man, dass es sich um den An­ar­chi­sten und Schau­spie­ler Ret Ma­rut ge­han­delt ha­be, der in den 1920er Jah­ren nach Me­xi­ko ge­flo­hen oder, freund­li­cher for­mu­liert, emi­griert war. Ma­rut soll wie­der­um ein Pseud­onym für den Ge­werk­schafts­se­kre­tär Ot­to Fei­ge ge­we­sen sein. Der Ein­fach­heit hal­ber wer­den nun mehr­heit­lich die Le­bens­da­ten die­ses Ot­to Fei­ge für B. Tra­ven ver­wen­det.

Tra­vens Ge­dan­ke war, dass der Au­tor nicht zu viel Auf­merk­sam­keit be­kom­men soll­te. Tat­säch­lich trat das Ge­gen­teil ein. Es ist er­staun­lich, wie be­reits in den 1920er Jah­ren die Un­si­cher­heit der Au­toren­iden­ti­tät bzw. die Ab­we­sen­heit des Au­tors die Öf­fent­lich­keit der­art auf­wüh­len konn­te. Dar­an hat sich we­nig ge­än­dert. Vor ei­ni­gen Jah­ren brü­ste­ten sich Pseud­onym-In­spek­teu­re mit per­ver­sem Stolz, Ele­na Ferran­te ent­tarnt zu ha­ben – als wür­de sich da­mit der Blick auf das Werk ent­schei­dend än­dern.

Nicht zu­letzt durch ei­ni­ge Ver­fil­mun­gen sei­ner Bü­cher haf­tet B. Tra­ven das Eti­kett des Aben­teu­er­schrift­stel­lers an. Aber be­reits zu Be­ginn stellt der See­mann Ga­les, der Ich-Er­zäh­ler aus Das To­ten­schiff, klar: »Die Ro­man­tik der See­ge­schich­ten ist längst vor­bei.« Kut­scher führt zu recht aus, dass Das To­ten­schiff kein klas­si­scher Aben­teu­er­ro­man sei und mit ei­ner Idea­li­sie­rung des See­fahr­erle­bens nichts zu tun ha­be. Auf den rund 400 Sei­ten be­tritt Ga­les erst auf Sei­te 142 die »Yo­rik­ke«, je­nes »To­ten­schiff«, das oh­ne Na­tio­na­li­tä­ten­flag­ge un­ter an­de­rem falsch de­kla­rier­te Wa­ren (Waf­fen in Schmug­gel­gut) ver­frach­tet. Dort ar­bei­ten nur See­män­ner, die un­ter ei­nem »Schiffs­not­ge­setz« ste­hen. Sie ha­ben kei­ne oder nur ob­sku­re Pa­pie­re, mit de­nen sie auf kei­nem se­riö­sen Schiff an­heu­ern kön­nen. Zu den Not­män­nern ge­hört jetzt auch der ame­ri­ka­ni­sche »Deck­ar­bei­ter« Ga­les. Als er nach ei­nem Land­gang in Ant­wer­pen zu­rück­kommt, ist sein Schiff oh­ne ihn ab­ge­fah­ren. Un­glück­li­cher­wei­se blie­ben See­manns­kar­te und Pass an Bord. Von nun an ist er ein Nie­mand. »Pa­pie­re ha­ben et­was Un­mensch­li­ches«, kon­sta­tiert Ga­les, der ein ähn­li­ches Schick­sal durch­macht wie Zuck­may­ers Schu­ster Voigt. Oh­ne Pa­pie­re kann er nicht auf den »Ei­mern« an­heu­ern. Und oh­ne Heu­er kann er ei­gent­lich nicht le­ben.

Wei­ter­le­sen ...