Mir hingegen fiel zunächst nur der Film von Rainer Erler aus 1979 mit dem Titel Fleisch ein, indem es um Organhandel ging, und mit ihm begann die sehr lange kolportierte Fama vom gekidnappten Mann aus dem Auto oder vor dem Supermarkt, der Stunden später mit einer großen Narbe und ohne eine Niere in irgendeiner Kaschemme aufwacht. Und nun also Fleisch als Motto, was, wenn man es nicht wüsste, während der Lektüre einigermaßen überrascht. Zwar gibt es hier und da einige fleischliche, zumeist homoerotische Episoden (sie sind meist ähnlich langweilig wie die Schilderungen heterosexuellen Aktionen in der deutschen Literatur; wer will, kann das bei Rainer Moritz nachschlagen), aber die wirken zum Teil ein bisschen pflichtschuldig, etwa in der Geschichte um den Tod einer Großmutter (Burçin Tetik mit Sehers Garten) und den Evokationen der Erzählerin von ihren diversen Sommern in Großmutter-Garten. Warum frau dort nicht näher drauf- oder besser noch: aufgeschaut hat? Diese Großmutter hat mich sofort interessiert; sie starb viel zu früh. Schade.
Natürlich ist das Cover eine Provokation. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Symbole der »Gendersprache« – Stern, Unterstrich, Doppelpunkt. Entweder oder. Hier alles auf einmal. »Für die Freiheit der Literatur« lautet der Untertitel. Dem Buch vorangestellt ist ein Auszug aus Kafkas Brief an Oskar Pollak, jene berühmte Stelle, in der er erklärt, wie ein Buch ...
Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Das Cover ist in existentialistischem Schwarz, zeigt zwei Hände, die ein aufgeschlagenes Buch halten. Ansonsten ist nichts menschliches zu sehen. Darüber steht der Titel Die Bibliothek der verlorenen Bücher und man fragt sich zunächst, ob es nicht eher die Suche nach dem verlorenen Leser ist, aber das täuscht.
Alexander Pechmann ist der Autor, er ist Übersetzer, Schriftsteller und Herausgeber und diese Vielseitigkeit merkt man diesem Buch an. Es beginnt mit einer Vorrede eines fiktiven, namenlos bleibenden »Unter-Unter-Bibliothekars«, einem einsamen Regalhüter der Bibliothek der nicht geschriebenen, verbrannten oder verlorenen Bücher. Man ist zunächst aufgeschreckt ob des plüschigen Conférenciertons, aber im Laufe der folgenden dreißig Aufsätze meldet sich der Bibliothekar glücklicherweise nur noch selten und wenn, dann eher als Botschafter der Möglichkeiten, denn er hat sie natürlich alle, diese geheimnisvollen, dem normalen Sterblichen verborgenen Werke der Weltliteratur.
Bisweilen gibt es einen kleinen Einblick in die verschollenen Manuskripte, so bei In Ballast to the White Sea von Malcolm Lowry oder dem Stück eines antiken Theaterdichters aus Abdera. Und manchmal greift der »Unter-Unter-Bibliothekar« auch in die Literaturszene ein, holt das ein oder andere Manuskript aus seinem Bestand und versteckt es derart, dass es irgendjemand dann überraschend »wiederfindet«, wie etwa Mary Shelleys Erzählung Maurice oder die Fischerhütte, eine Entdeckung von 1997, rechtzeitig zum 200. Geburtstag der Autorin.
Es gibt viele Gründe, warum Manuskripte und bisweilen Bücher auch bekannter Schriftsteller nicht (mehr) verfügbar sind. Hemingways frühe Aufzeichnungen gingen etwa auf einem Transport quer durch die Welt verloren; er hatte sich inzwischen weiterentwickelt und grämte sich kaum. Ähnlich wie bei T. E. Lawrence, der seine verschlampten Manuskripte zu Die sieben Säulen der Weisheit aus dem Gedächtnis rekonstruierte. Häufig fielen sie allerdings der Vernichtung durch den Autor selber zum Opfer, sei es aus politischen Gründen (von Protagoras zu Abdera über Dr. John Dee [Shakespeares »Prospero«-Vorbild], Dostojewski, Puschkin, einige von Thomas Manns Tagebüchern bis Blaise Cendars) oder weil der Verfasser nicht zufrieden war mit dem Geschriebenen und aus Wut, Selbsthass oder einfach nur zu viel Alkohol zum »Autodafé« schritt, wie beispielsweise Balzac bei seiner Erzählung Der Landarzt oder James Joyces Monumentalmanuskript Stephen Hero.
Mit den drei Stücken Reich des Todes, Baracke und Lapidarium, die im soeben erschienenen Band Lapidarium versammelt sind und der parallel dazu publizierten Textsammlung wrong beendet der Schriftsteller Rainald Goetz seine sechsteilige Schlucht-Reihe, jenen 2007 begonnenen »Versuch der Erkundung der Dunkelzeit der Nullerjahre«, bestehend aus »Klage, Tagebuchessay; loslabern, Bericht; Johann Holtrop, Abriß der Gesellschaft, Roman; ...
Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war
Eigentlich sind es dreizehn Erzählungen, die Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt hat. Allesamt sind sie zwischen 1997 und 2018 publiziert worden und werden jetzt mit dem leicht-resignativen Titel Als ich noch unsterblich war endlich an einem Ort zusammengefasst. Wobei der abergläubische Autor in einem kleinen Vorwort von »12a« spricht, um diese ungeliebte Zahl zu vermeiden. Man kann allerdings auch einfach die Einleitung als 14. Geschichte lesen, zumal dort das Cover vom brennenden Schabrackentapir erläutert wird.
Ransmayr spricht in 12a von »Spielformen der Erzählkunst« und beweist in diesem Band seine Vielseitigkeit. Die Titelgeschichte, die den Band eröffnet, handelt von ihm als Kind, welches beim Essen der Buchstabensuppe durch die Mutter angelernt wird »mit einem Löffel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu halten und sich dem »Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches« hinzugeben. Dieser paradiesisch anmutende Zustand kommt zu einem jähen Ende, als die Mutter »kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb«. Auf dem Totenbett aus Verzweiflung nach Worten ringend, mahnte die Mutter ihren Sohn gestikulierend zur Stille. Ein bewegendes Bild.
Auch die an vorletzter Stelle wie beiläufig eingearbeitete Vatergeschichte An der Bahre eines freien Mannes ergreift den Leser. Karl-Friedrich Ransmayr wird hier als ein Wiedergänger von Michael Kohlhaas erzählt. Dabei klingt es zunächst mehr nach Bartleby. Ransmayrs Vater widerstand als Schüler dem Druck, auf eine Nazi-Eliteschule zu gehen und lehnte es später ab, die Offizierslaufbahn in der Wehrmacht einzuschlagen. »Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden«, erklärte er hinterher. Nach dem Krieg wurde er Lehrer und engagierte sich ehrenamtlich, verfasste Eingaben und Gesuche »für Bauern, Handwerker, Gastwirte, Faßbinder und Schichtarbeiter«, schließlich stellvertretender Bürgermeister und vergab hemdsärmelig und unkonventionell Kredite an Kleingewerbetreibende. Seine Beliebtheit weckte Neider, man denunzierte ihn, Gelder veruntreut zu haben. Es wurde ermittelt, Karl-Friedrich Ransmayr »verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürgermeister«. Der Prozess ergab, dass er sich zwar nicht bereichert und der Gemeinde keinen Schaden zugefügt hatte, aber der juristische Tatbestand der Untreue blieb bestehen. »Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nachsicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit« und »weigerte sich, das Urteil anzunehmen.« Immerhin: »Nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik« erfolgte die vollständige Rehabilitation. Dann starb seine Frau, Ransmayrs Mutter. Der Vater »lehnte…die Wiederaufnahme in die dörfliche Gemeinschaft ab« und organisierte sein Leben neu. Ein zärtlich-bewundernder Ton ist in dieser Erzählung eingewoben.
Eigentlich sind es zwei ganz unterschiedliche Geschichten, die der französische Schriftsteller Mathias Enard in seinem neuesten Roman erzählt. Und das spiegelt sich (absichtlich oder nicht?) bereits in der deutschen Übersetzung des Titels. Im Original heißt der Roman Déserter, in der deutschen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller Tanz des Verrats. Zum einen handelt es ...
Es ist 2019, ein Jahr vor einer Pandemie und drei Jahre vor einem neuen Krieg in Europa. Ein Schriftsteller, der sich Szczepan nennt, flüchtet vor »der Welt und dem Leben«, reist nach Spitzbergen, nimmt die Fähre nach Pyramiden, einer ehemaligen Bergarbeiterstadt, in der nur noch ein paar Russen leben, und verbringt eine Woche im Eis, in der Nähe des Gletschers Jotunfonna. Dann kehrt er zurück, trinkt in einem schäbigen Hotel in Barentsburg einen Whisky, will immer noch nichts von Menschen sehen und hören, was fast gelingt. Bis ihn eine ältere Frau anspricht, eine gewisse Borghild Moen, die rasch seine Neugier weckt. »Der Ozean ist meine einzige Heimat«, sagt diese rüstige Dame, zeigt ihm ihre moderne, 50 Fuß lange Yacht »Isbjørn« und lädt ein, auf eine Tour zu gehen, wobei sie nicht das Ziel nennt, was den Schriftsteller nur noch neugieriger macht, denn da ist ein »verborgenes Geheimnis« in dieser 82jährigen Frau. Er sagt alle Termine ab, nimmt die mürrischen Kommentare entgegen, und kommt sich in Bezug auf seine beiden Kinder ein wenig schäbig vor. Die »Isbjørn« ist technisch sehr gut ausgestattet, der Proviant üppig (er beteiligt sich mit 2000 Kronen daran). Seine nautischen Kenntnisse helfen ihm; bald entsteht ein stilles gegenseitiges Vertrauen und Borghild Moen legt ihm ein altes Heft vor, das Notizbuch eines Konrad Widuch, beginnend am 16. Juni 1946. Er soll es »mit Verstand lesen«. Dann ist das Vorwort von Szczepan Twardochs neuem Roman Kälte (wie immer ist Olaf Kühl der Übersetzer) vorbei und es beginnt.
Widuch, damals 51, »geborener Preuße«, aus Pilchowitz, Schlesien stammend, zum Zeitpunkt der Niederschrift gefangen im arktischen Eis auf einem Schiff mit dem hochtrabenden Titel »Invincible«, schreibt, ja kotzt seine Lebensgeschichte in dieses Heft, in mäanderndem, burleskem Ton, gerichtet an eine anonyme Leserin, an die er zwar nicht glaubt, aber dann doch irgendwie erhofft, denn ansonsten würde das Aufschreiben sinnlos sein. Die Kindheit ist schwer, der Vater ist früh verschwunden, die Mutter gibt sich mit immer neuen Männern ab und mit 14 verlässt Widuch das Elternhaus, nachdem er dem neuesten Liebhaber der Mutter aus Rache für einen gebrochenen Arm mit dem anderen Arm und einem Schürhaken zusammengeschlagen hatte. Er geht 1912 »an die Ruhr«, dann zur See, wird auf der kaiserlichen »Helgoland« Matrose, später Maat. Als man ihm und den anderen befiehlt, Kanonenfutter für die Engländer zu werden, rebelliert die Besatzung. Widuch nimmt 1918 am Matrosenaufstand teil und wird zum Kommunisten, er, dessen »offizielle zivile Ausbildung mit der Grundschule zu Ende war.«
Der Leser ist gefordert, den Lebenslauf aus den abschweifenden und zeitlich immer wieder durcheinander wirbelndem Erzählstrom des Schreibenden zu ordnen, denn es beginnt mit grausigen Foltermethoden, die der in einem Gulag sah und bisweilen am eigenen Leib erlebte (dutzende Male erklärt er, diesen Ort nicht namentlich zu nennen, als würde damit ein Fluch gebannt). Die Schilderungen sind nichts für zarte Gemüter. Immerhin: Seiner Frau Sofie und den beiden Töchtern dürften die Flucht gelungen sein, denn sonst würde man ihn in Verhören nicht nach ihnen fragen. Das war um 1937, nachdem Widuch in den 1920er Jahren den großen Marsch vom Kaukasus in die Ukraine, also den russischen Bürgerkrieg gegen »die Weißen« mitgemacht hatte, und der Leser erfährt wie nebenbei, dass er auch kein Engel war, etwa als er diesen jungen polnischen Leutnant gefangen nahm, der um sein Leben jammerte. Widuch wog ihn in Sicherheit und dann schoss er ihn von hinten in den Kopf, sich immer noch rühmend, den Offizier vor den Malträtierungen der Kosaken (Spezialität: Penis abschneiden) bewahrt zu haben.
Zum ersten Mal erschien B. Travens Das Totenschiff 1926 im Rahmen der Büchergilde Gutenberg, einem »gewerkschaftlichen Buchclub« (Volker Kutscher). Es wurde ein Riesenerfolg für einen Autor, dessen Identität niemand kannte, der jedoch zuvor bereits im sozialdemokratischen Vorwärts mit dem Fortsetzungsroman Der Baumwollpflücker für Aufsehen gesorgt hatte. Die Frage, wer dieser B. Traven war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es ist wohltuend, dass Volker Kutscher in seinem Nachwort zur aktuellen Neuauflage dieses Romans nicht die unterschiedlichen Versionen der Identität aufdröselt. Mehrheitlich glaubt man, dass es sich um den Anarchisten und Schauspieler Ret Marut gehandelt habe, der in den 1920er Jahren nach Mexiko geflohen oder, freundlicher formuliert, emigriert war. Marut soll wiederum ein Pseudonym für den Gewerkschaftssekretär Otto Feige gewesen sein. Der Einfachheit halber werden nun mehrheitlich die Lebensdaten dieses Otto Feige für B. Traven verwendet.
Travens Gedanke war, dass der Autor nicht zu viel Aufmerksamkeit bekommen sollte. Tatsächlich trat das Gegenteil ein. Es ist erstaunlich, wie bereits in den 1920er Jahren die Unsicherheit der Autorenidentität bzw. die Abwesenheit des Autors die Öffentlichkeit derart aufwühlen konnte. Daran hat sich wenig geändert. Vor einigen Jahren brüsteten sich Pseudonym-Inspekteure mit perversem Stolz, Elena Ferrante enttarnt zu haben – als würde sich damit der Blick auf das Werk entscheidend ändern.
Nicht zuletzt durch einige Verfilmungen seiner Bücher haftet B. Traven das Etikett des Abenteuerschriftstellers an. Aber bereits zu Beginn stellt der Seemann Gales, der Ich-Erzähler aus Das Totenschiff, klar: »Die Romantik der Seegeschichten ist längst vorbei.« Kutscher führt zu recht aus, dass Das Totenschiff kein klassischer Abenteuerroman sei und mit einer Idealisierung des Seefahrerlebens nichts zu tun habe. Auf den rund 400 Seiten betritt Gales erst auf Seite 142 die »Yorikke«, jenes »Totenschiff«, das ohne Nationalitätenflagge unter anderem falsch deklarierte Waren (Waffen in Schmuggelgut) verfrachtet. Dort arbeiten nur Seemänner, die unter einem »Schiffsnotgesetz« stehen. Sie haben keine oder nur obskure Papiere, mit denen sie auf keinem seriösen Schiff anheuern können. Zu den Notmännern gehört jetzt auch der amerikanische »Deckarbeiter« Gales. Als er nach einem Landgang in Antwerpen zurückkommt, ist sein Schiff ohne ihn abgefahren. Unglücklicherweise blieben Seemannskarte und Pass an Bord. Von nun an ist er ein Niemand. »Papiere haben etwas Unmenschliches«, konstatiert Gales, der ein ähnliches Schicksal durchmacht wie Zuckmayers Schuster Voigt. Ohne Papiere kann er nicht auf den »Eimern« anheuern. Und ohne Heuer kann er eigentlich nicht leben.