Immer wieder sind es bei Handke auch Frauen, die zu Reisen in ein neues Zeitalter aufbrechen und/oder in eine neue Welt(erfahrung) aufbrechen. In den 1970er Jahren ist es die »linkshändige Frau«, die selbstbewusst ihre ehelichen Ketten abstreift. Die Nova aus »Über die Dörfer« ist eine Mischung aus Zukunftsdeuterin, Philosophin und Visionärin. Schließlich die starken Frauenfiguren ...
Ulrich Greiner: Das Leben und die Dinge»I am a rather elderly man.« So lautet der erste Satz von Herman Melvilles »Bartleby, the Scrivener«; deutsch: »Bartleby, der Schreiber«. Im kurzen Vorwort zu seiner Autobiographie hadert Ulrich Greiner mit den verschiedenen Übersetzungen dieses Satzes. Keine davon, ob »älterer Mann«, »bejahrter Mann« oder »Mann in recht vorgerücktem Alter«, scheinen ihm geglückt. Wie Greiner »elderly« übersetzen würde, sagt er nicht. Aber wenn man sein Buch gelesen hat, dann ahnt man es vielleicht.
Ungewöhnlich dieses kurze Vorwort in der Er-Form. Es ist der Versuch, noch einmal eine kleine Distanz herzustellen zu dem, was dann unweigerlich »Ich« genannt werden wird. Der Mann, der seine schwarzen Anzüge nur noch zu Trauerfeiern benutzt. Die sogenannten »Einschläge«, die näherkommen. Die Erinnerungen, die immer mehr verblassen und vor dem endgültigen Verschwinden errettet werden sollen.
Selbstkritik? In homöopathischen Dosen. Lächerlich wie Kai Gniffke ein fehlender Konjunktiv vorgehalten wurde und dieser den Fehler ein bisschen zerknirscht eingestand. Ansonsten ist aber klar: Fälschen tun immer die anderen.
»Der Primus« lautete der Titel der Dokumentation von Erica von Moeller, die gestern in der ARD zu später Stunde (22.50 Uhr) lief. Gezeigt werden sollte das private und politische Leben von Franz Josef Strauß, dessen 100. Geburtstag im September ansteht.
Die Klammer des Films bildete der Wahlkampf Strauß’ als Kanzlerkandidat 1980. Darum herum wurde das Leben von den 1920er Jahren an chronologisch behandelt. Der lateinkundige Ministrant, der antinazistische Vater, der schweren Herzens dem Gymnasium für seinen Sohn zustimmte, schließlich der Musterschüler Franz Josef, der als Oberleutnant der Wehrmacht in den letzten Tagen kleine und größere Heldentaten vollbrachte. Schließlich der bayrische Politiker, der bereits 1949 bei der legendären Einladung Adenauers in Rhöndorf dabei war. Zur Sicherheit und um den Zuschauer nicht zu überfordern wurden etliche Szenen nachgespielt; teilweise wurde das Material aus dem Film »Konrad Adenauer – Stunden der Entscheidung« von 2012 verwendet. Strauß ist im politischen Bonn ein Karrierist. Adenauer bremst ihn zunächst, macht ihn dann aber doch zum Verteidigungsminister. In der »Spiegel«-Affäre lässt der Alte ihn fallen. Verblüffend dabei, dass Strauß loyal blieb, d. h. die Rückversicherung Adenauers für seine umstrittene Verhaftungsaktion zu Conrad Ahlers in Spanien hat Strauß öffentlich nie erwähnt.
Wolfram Bickerich, ehemaliger »Spiegel«-Redakteur, und Augstein-Biograph Peter Merseburger kommen zu Wort und analysieren Augsteins fast obsessiv-pathologischen Hass auf (den politischen) Strauß, der zuweilen mit Journalismus nichts mehr zu tun hatte. Zu Wort kommen Franz-Georg Strauß und Monika Hohlmeier, zwei von drei Strauß-Kindern und Edmund Stoiber. Politische Gegner wie auch der in solchen Filmen zumeist übliche Historiker fehlen. Strauß’ Wahlkampf von 1980 wird als teilweise Hasskampagne gegen ihn interpretiert, wenn er Störer als »Gehirnprothesenträger« bezeichnet, heißt es im Film, er habe schlagfertig und witzig reagiert und nicht verbissen. Zur Sicherheit fehlt dann aber das schweißnasse Strauß-Redegesicht dann doch nicht.
Warum Augstein Strauß als »gefährlich« einschätzte, bleibt erstaunlicherweise unerwähnt. Strauß war in seiner Eigenschaft als »Atomminister« nämlich mitnichten alleine für die friedliche Nutzung der damals als Segen gepriesenen Kernenergie befasst. Er interpretierte sein Amt auch militär-strategisch dahingehend die frisch gegründete Bundeswehr atomar zu bewaffnen. Für Augstein et al. war die Vorstellung eines Deutschlands mit Atomwaffen ein Alptraum, den es unter allen Umständen zu verhindern galt.
Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror - Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
Thilo Sarrazin wird im September 2012 in einem »Spiegel«-Interview indirekt des Rassismus beschuldigt. Diesen Vorwurf will er nicht auf sich sitzen lassen und schreibt daher einen Brief an die Redaktion mit der Bitte um Richtigstellung (was natürlich eine erneute Diskussion um seine Thesen zur Folge hätte) oder Entschuldigung. Der Redakteur antwortet elaboriert und, sofern das Zitat korrekt wiedergegeben wurde, mit hörbarer Freude: Die Aussagen aus dem Buch »Deutschland schafft sich ab« seien lediglich »pointiert zusammengefasst« worden; eine Korrektur lehnt er ab.
Diese Antwort sei für ihn der Grund gewesen, das vorliegende Buch »Der neue Tugendterror« zu schreiben, so Sarrazin. Das bedeutet umgekehrt: Hätte der »Spiegel« – immerhin eines der beiden Medien, die aus dem kontrovers diskutierten Buch einen für den Autor sicherlich in mehrfacher Hinsicht lohnenden Vorabdruck vorgenommen hatten (was er scheinbar vergessen hat, da er laufend den »Spiegel« ob seiner Einseitigkeit attackiert) – einfach nur Sarrazins Leserbrief abgedruckt, wäre der Leserschaft das neue Buch erspart geblieben.
Katie Roiphe: Messy Lives – Für ein unaufgeräumtes LebenKatie Roiphe ist eine amerikanische Journalistin und Publizistin. Sie ist 1968 geboren, lebt in New York und hat zwei Kinder, die sie alleine erzieht. Letzteres ist wichtig, da sie sich in vielen der abgedruckten Texte des im Jahr 2012 in den USA herausgebrachten und jetzt auf deutsch vorliegenden Buches »Messy Lives – Für ein unaufgeräumtes Leben« mit den gängigen Vorurteilen über alleinerziehende Frauen auseinandersetzt und dies, wohl gemerkt, nicht gegen die spießigen Puritaner des amerikanischen Westens oder Südens, sondern gegen bzw. für die sich so aufgeklärt gebende, bio-dynamisch essende Mittel- und Oberschicht der »Upper East Side« New Yorks. Zehnmal taucht dieser Stadtteil explizit erwähnt in ihren Texten auf und fast immer ist es eine Metapher jenseits einer Ortsbeschreibung.
Nils Havemann: Samstags um Halb 4Zu Beginn klärt Nils Havemann, dass es sich bei »Samstags um Halb 4« nicht um ein verklärend-sentimentales Nostalgiebuch zum 50. Jahrestag der Fußball-Bundesliga handelt, welches »umgestürzte Torpfosten«, falsche Schiedsrichterentscheidungen, Meisterschaften in letzter Minute und »kuriose Phantomtreffer« zum x‑ten Mal Revue passieren lässt. Stattdessen soll eine Kulturgeschichte der Fußball-Bundesliga präsentiert werden und bereits in der Einleitung wundert sich der Autor, dass es bisher keine »historische Gesamtbetrachtung« dieser Bundesliga gäbe, was nun scheinbar nachgeholt werden soll. Aber nur wenige Seiten weiter relativiert Havemann den Anspruch wieder: »Ohnehin strebt dieses Buch in seiner Mischung aus chronologischer und thematischer Erzählweise keine Darstellung im enzyklopädischen Sinne an.« Gut, soweit geht man noch mit. Aber fast verborgen folgt dann: »Insbesondere für die Zeit nach 1989 wäre dies schlichtweg unmöglich, weil man sich hier zu stark der Gegenwart nähert, die sich einer ebenso umfassenden wie unbefangenen historischen Betrachtung entzieht.«
Blättert man daraufhin zum Inhaltsverzeichnis zurück wird tatsächlich deutlich, dass Havemann praktisch mit dem Jahr 1989 seine Studie beendet. Im weiteren Verlauf des Buches wird auch der Grund hierfür benannt: Die Archive der Vereine und Verbände geben die für Havemanns Vorgehensweise notwendigen Dokumente einfach noch nicht frei. Die ausgesprochene Einschränkung bedeutet einfach nur: Es gibt keine Innenansichten, derer sich Havemann für die Zeit nach 1989 bedienen kann.
Frank Schirrmachers »Ego – Das Spiel des Lebens« ist eine wilde Alarmmaschine und kapituliert allzu voreilig
Frank Schirrmacher: Ego – Das Spiel des LebensCover – Mario Puzo: Der Pate
Das Cover von »Ego – Das Spiel des Lebens« weckt Assoziationen an Mario Puzos Buch (und auch dem Film) »Der Pate«. Hier wie dort das Symbol der Manipulation: die Marionette. Am Ende zitiert Schirrmacher den französischen Schriftsteller Paul Valéry, dessen Figur Monsieur Teste die »Marionette« getötet hatte. Man muss genau lesen: Hier soll nicht die Marionette emanzipiert und von ihren Fäden befreit werden. Hier geht es um den Tod der Figur. Erst wenn diese tot ist, hat der Marionettenspieler keine Macht mehr. Das bemerkenswerte ist: Die Marionette sind wir selber bzw. das, was im Laufe der Zeit Besitz von uns genommen hat. Der Tod der Marionette ist, so kann man das interpretieren, die Exorzierung des Bösen in uns. Ob da der Satz Die Antwort war falsch als Slogan der Austreibung ausreicht?
Worum geht es? Schon früh das Bekenntnis, das Buch bestehe letztlich nur aus einer einzige[n] These, die des »ökonomische[n] Imperialismus«: Damit ist gemeint, dass die Gedankenmodelle der Ökonomie praktisch alle anderen Sozialwissenschaften erobert haben und sie beherrschen. Den Keim für diese Entwicklung zum »Ökonomismus« (das ist meine Formulierung, die womöglich ungenau ist, aber vielleicht gerade in ihrer Vereinfachung vorübergehende Hilfestellung bietet) findet Schirrmacher im Erfolg der Spieltheorie, die, so die These, den Kalten Krieg sozusagen gewonnen habe. Als das planwirtschaftliche System obsolet wurde, ahnte niemand, welche Auswirkungen dies haben würde. Die Physiker wechselten an die Wall Street und implementierten die Logik des Kalten Krieges in die Maschinen, die dann ab den 1990er Jahre immer mehr den Privatraum der Menschen eroberten.
Der neue Kalte Krieg
Im Kalten Krieg galt das »Gleichgewicht des Schreckens«. Wer den atomaren Erstschlag auslöste, musste damit rechnen, ebenfalls vernichtet zu werden. Zuerst zuschlagen hieß, als Zweiter vernichtet zu werden. Der Erstschlag bot keinen Gewinnanreiz. Dieses Szenario musste immer wieder neu angestrebt und als Prämisse etabliert bleiben bzw. werden. Damit war klar: Keiner würde riskieren, die Welt untergehen zu lassen, wenn er selbst dabei draufginge. Und das ist daraus nach 1990 geworden: Keiner wird riskieren, uns untergehen zu lassen, wenn wir dafür eine ganze Welt in den Abgrund stürzen, war 50 Jahre später nachweislich die Logik der Too-big-to-fail-Strategen von Lehman bis AIG.