Gift und Ge­gen­gift

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror - Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland

Thi­lo Sar­ra­zin: Der neue Tu­gend­ter­ror -
Über die Gren­zen der Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land

Thi­lo Sar­ra­zin wird im Sep­tem­ber 2012 in ei­nem »Spie­gel«-Interview in­di­rekt des Ras­sis­mus be­schul­digt. Die­sen Vor­wurf will er nicht auf sich sit­zen las­sen und schreibt da­her ei­nen Brief an die Re­dak­ti­on mit der Bit­te um Rich­tig­stel­lung (was na­tür­lich ei­ne er­neu­te Dis­kus­si­on um sei­ne The­sen zur Fol­ge hät­te) oder Ent­schul­di­gung. Der Re­dak­teur ant­wor­tet ela­bo­riert und, so­fern das Zi­tat kor­rekt wie­der­ge­ge­ben wur­de, mit hör­ba­rer Freu­de: Die Aus­sa­gen aus dem Buch »Deutsch­land schafft sich ab« sei­en le­dig­lich »poin­tiert zu­sam­men­ge­fasst« wor­den; ei­ne Kor­rek­tur lehnt er ab.

Die­se Ant­wort sei für ihn der Grund ge­we­sen, das vor­liegende Buch »Der neue Tu­gend­ter­ror« zu schrei­ben, so Sar­ra­zin. Das be­deu­tet um­ge­kehrt: Hät­te der »Spie­gel« – im­mer­hin ei­nes der bei­den Me­di­en, die aus dem kontro­vers dis­ku­tier­ten Buch ei­nen für den Au­tor sicher­lich in mehr­fa­cher Hin­sicht loh­nen­den Vor­ab­druck vorge­nommen hat­ten (was er schein­bar ver­ges­sen hat, da er lau­fend den »Spie­gel« ob sei­ner Ein­sei­tig­keit at­tackiert) – ein­fach nur Sar­ra­zins Le­ser­brief ab­ge­druckt, wä­re der Le­ser­schaft das neue Buch er­spart ge­blie­ben.

Und das wä­re nicht das Schlech­te­ste ge­we­sen. Denn tat­säch­lich bie­tet Sar­ra­zin rein gar nichts Neu­es. Es gibt kei­nen fri­schen Ge­dan­ken zum me­dia­len Phä­no­men der Verschlag­wortung von Sach­ver­hal­ten. Nichts über den Po­pu­lis­mus der Me­di­en, die sel­ber je­dem Ver­ein­fa­cher Po­pu­lis­mus at­te­stie­ren. Die zahl­rei­chen Ver­su­che mit pa­ter­na­li­sti­schen Sprach­re­ge­lun­gen ei­nen Uni­for­mis­mus zu er­zeu­gen, wer­den vom Au­tor be­jam­mert statt ana­ly­siert. In ei­nem se­pa­ra­ten Ka­pi­tel von fast 70 der rund 400 Sei­ten li­stet Sar­ra­zin akri­bisch die Re­zep­ti­on sei­nes »Deutsch­land schafft sich ab«-Buches auf. Die Über­raschungen, die da zu Ta­ge kom­men, hal­ten sich in Gren­zen: Mehr­heit­lich hät­ten sich Leu­te über das Buch ge­äu­ßert, die es nicht bzw. nicht zur Gän­ze ge­le­sen hät­ten. Das ist nun wirk­lich kei­ne Über­ra­schung son­dern be­dau­er­li­cher­wei­se gän­gi­ge Pra­xis im Erregungs­spiel der Me­di­en. Sar­ra­zin trennt aber nicht zwi­schen ar­gu­men­ta­ti­ver Auseinander­setzung mit sei­nem Buch (die es ja durch­aus auch ge­ge­ben hat) und den Af­fek­ten der Nicht- bzw. Halb­le­ser, die sich auf Zweit- und Dritt­ver­wer­ter ver­las­sen und hier­aus ihr Ur­teil de­stil­liert hat­ten (auch dies längst gän­gi­ge Pra­xis). Letz­te­res hät­te Sar­ra­zin auch ein­fach igno­rie­ren kön­nen. Statt­des­sen ge­riert er sich als Ge­schä­dig­ter, spielt den Über­rasch­ten, wo­bei er doch spä­te­stens nach den Re­ak­tio­nen auf sein »Lettre«-Interview hät­te ge­wapp­net sein müs­sen.

Im­mer­hin deu­tet er in sei­ner Ein­lei­tung an, dass der ge­neig­te Le­ser die­ses Ka­pi­tel über­sprin­gen kön­ne. Dann hät­te man al­ler­dings die Breit­sei­te ge­gen SPD-Chef Ga­bri­el ver­passt. Im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches kommt Sar­ra­zin trotz­dem im­mer wie­der auf die ihm ver­meint­lich ent­ge­gen­ge­brach­ten Un­ge­rech­tig­kei­ten zu spre­chen. Mit dem Un­ter­ti­tel »Über die Gren­zen der Mei­nungs­frei­heit in Deutsch­land« wird sug­ge­riert, dass der Mil­lio­nen­sel­ler in ir­gend­ei­ner Klit­sche in ei­nem Dritt­welt­land hät­te ge­druckt wer­den müs­sen und der Ver­trieb nur un­ter Le­bens­ge­fahr un­ter der La­den­the­ke mög­lich war. Zwar er­wähnt er sei­ne Talk­show-Auf­trit­te im Fern­se­hen und be­rich­tet von sei­nen schein­bar zahl­rei­chen Le­se­rei­sen – aber dies hält ihn nicht da­von ab, sich als Leid­tra­gen­der zu in­sze­nie­ren.

Die Mehr­heit der Jour­na­li­sten stün­den dem links­li­be­ra­len Mi­lieu na­he. Be­reits seit 1976 sei dies der Fall, so zi­tiert er ei­ne Sta­ti­stik, die auf Be­fra­gun­gen ein­zel­ner be­ruht (oh­ne dass man die Kri­te­ri­en für die Aus­wahl er­fährt). Ob es mit dem viel zi­tier­ten Marsch durch die In­sti­tu­tio­nen der 68er zu tun hat­te, der da­mals be­gann und sich als Ge­gen­ge­wicht zum do­mi­nie­ren­den re­ak­tio­när-re­stau­ra­ti­ven Sprin­ger-Jour­na­lis­mus ent­wickel­te? Auf die­se Idee kommt Sar­ra­zin erst gar nicht. Und wie dies dann da­mit kor­re­spon­diert, dass es die ver­sam­mel­te »Mei­nungs­olig­ar­chie« bei­spiels­wei­se zwi­schen 1982 und 1998 nicht ge­schafft hat, die un­ge­lieb­te Kohl-Re­gie­rung weg­zu­schrei­ben und wie es denn mög­lich ist, dass An­ge­la Mer­kel trotz­dem die letz­te Bun­des­tags­wahl ge­won­nen hat – die­se Fra­gen stellt er nicht ein­mal, weil sie nicht zu sei­nen The­sen pas­sen. Er, der von Oria­na Falla­cis dema­gogischem An­ti­islam­buch »Die Wut und der Stolz« un­ver­hoh­len schwärmt und die Hy­ste­rien der Me­di­en gei­sselt, be­treibt nichts an­de­res als bil­li­ge Af­fek­te zu er­zeu­gen, in dem er bei­spiels­wei­se mit sei­nem halt­lo­sen Schluss, die »Mei­nung der Mehr­heit des Vol­kes« sei nicht mehr »ent­schei­dend«, sub­ku­tan Äng­ste in die Ge­sell­schaft in­ji­zie­ren möch­te. Zwar gibt es ei­ne Dis­kre­panz zwi­schen öf­fent­li­cher und ver­öf­fent­lich­ter Mei­nung, und es gibt durch­aus Ten­den­zen zu Gleich­schal­tun­gen in den Me­di­en, aber die­se zu un­ter­su­chen und zu be­wer­ten un­ter­lässt er. Statt­des­sen re­fe­riert er Noel­le-Neu­manns »Schwei­ge­spi­ra­le«.

Schlei­chend kommt er im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches zum ti­tel­ge­ben­den »Tu­gend­ter­ror«. Im letz­ten Ka­pi­tel (mit fast 120 Sei­ten dem läng­sten) li­stet er dann »vier­zehn Axio­me des Tu­gend­wahns im Deutsch­land der Ge­gen­wart« auf. Es er­folgt al­so ei­ne ge­wis­se rhe­to­ri­sche Ab­rü­stung – aus »Ter­ror« wird »Wahn«. In kur­si­ver Set­zung gibt er zu­nächst den je­weiligen links­in­tel­lek­tu­el­len Main­stream wie­der (durch­aus ver­zer­rend; manch­mal macht man es sich selbst dort nicht ganz so ein­fach, wie Sar­ra­zin es sug­ge­riert) – es geht u. a. um Gleich­heit, Fa­mi­lie, Mi­gra­ti­on, In­te­gra­ti­on, sprach­lich ge­glät­te­te Kin­der­bü­cher (da­bei aber nicht um Li­te­ra­tur), Na­tio­nal­staat -, um dann in ei­ner Art Er­wi­de­rung mit sei­nem (teil­weise em­pi­risch ge­stütz­ten) Welt­bild zu ant­wor­ten.

Die­ses letz­te Ka­pi­tel ist in sei­ner bie­de­ren Pseu­do-Dia­lek­tik, die zu­wei­len in Oberlehrer­attitüden mün­den, arg er­mü­dend, zu­mal al­le sei­ne we­sent­li­chen Ein­wän­de ent­we­der in den vor­her­ge­gan­ge­nen Ka­pi­teln be­reits ab­ge­han­delt wur­den oder ein­fach nur The­sen aus sei­nem »Deutsch­land schafft sich ab«-Buch re­pli­ziert wer­den.

Da­bei ist die Grund­the­se des Bu­ches durch­aus dis­ku­ta­bel. Sie lau­tet, dass sich in der Ge­sell­schaft – me­di­al be­för­dert – ein »ideo­lo­gisch ge­präg­tes uni­ver­sa­li­sti­sches Gleich­heitsgebot« breit­macht, »das je­de Dif­fe­ren­zie­rung als ideo­lo­gisch ver­däch­tig und ten­den­zi­ell men­schen­feind­lich brand­mar­ken möch­te«. Dies nennt er wahl­wei­se und arg re­duk­tio­ni­stisch ent­we­der po­li­ti­sche Kor­rekt­heit, Tu­gend­ter­ror oder Mei­nungs­herr­schaft. Statt nun die »Mei­nungs­herr­schaft« in Be­zug auf Le­gi­ti­mi­tät zu un­ter­su­chen (Ha­ber­mas!) und die­se Sprach­spie­le und de­ren durch­aus in­ter­es­san­te, in­for­mel­le Re­geln (die zum Teil durch­aus wi­der­sprüch­lich sind) her­aus­zu­ar­bei­ten, bricht Sar­ra­zin im­mer nur in Trä­nen aus. Auch die bis in die Pri­vat­sphä­re hin­ein­rei­chen­de Mo­ra­li­sie­rung be­stimm­ter Le­bens- und Ver­hal­tens­wei­sen (Er­näh­rung, Sor­ge um die Ge­sund­heit, Klei­dung) wird bei ihm pau­schal un­ter »Tu­gend­ter­ror« ab­ge­han­delt. So er­fährt man nichts dar­über, wel­che Sehn­süch­te nach Ge­mein­schaft bei­spiels­wei­se hin­ter der neu­en Tugend­haftigkeit sicht­bar wer­den könn­ten und was sie mit den von ihm so ve­he­ment ver­tre­te­nen »Se­kun­där­tu­gen­den« zu tun ha­ben könn­ten.

Dort wo Sar­ra­zin sich mit Spra­che aus­ein­an­der­setzt, wird es pein­lich. Ernst­haft stellt er die The­se auf, dass sprach­li­che Be­grif­fe mehr oder we­ni­ger wer­tungs­los sind. So hät­te das Wort »Ne­ger« kei­ne »pe­jo­ra­ti­ven An­klän­ge« ge­habt. »Be­nen­nun­gen sind…nur Be­nennungen, sie ge­stal­ten kei­ne Wirk­lich­keit«, so Sar­ra­zin bi­lan­zie­rend. Das ist na­tür­lich Un­sinn, weil ge­ra­de »Ne­ger« vom Ko­lo­nia­lis­mus an be­wusst her­ab­set­zend ver­wen­det wur­de. Auch Sar­ra­zins Ein­wand, dass das Wort »Ju­de«, von den Na­zis dif­fa­mie­rend ge­braucht, die Ju­den nicht da­von ab­ge­hal­ten ha­be, es für sich zu ver­wen­den, spricht nicht für sei­ne Neu­tra­li­täts­the­se. Eher da­für, dass man miss­brauch­te, ne­ga­tiv kon­ta­mi­nier­te Be­grif­fe durch­aus wie­der »zu­rück­ver­wan­deln« könn­te, dies je­doch zu­meist un­er­wünscht ist und – hier­über könn­te man tat­säch­lich dis­ku­tie­ren – als pau­scha­le Verunglimpfungs­absicht an­ge­se­hen wird . Aber die wer­ten­den Kon­no­ta­tio­nen von Wör­tern und Be­grif­fen, die ge­zielt zu Her­ab­set­zun­gen (sel­ten auch He­roi­sie­run­gen) be­stimm­ter Grup­pen die­nen, zu leug­nen, ist schlicht un­se­ri­ös.

Spä­te­stens hier, auf Sei­te 163, hät­te man ei­gent­lich die Lek­tü­re ab­bre­chen kön­nen; ich ha­be trotz­dem bis zum Schluss durch­ge­hal­ten. Der Le­se­er­trag wiegt die ver­schwen­de­te Le­bens­zeit kaum auf. Ein gu­tes Zi­tat von Pörk­sen oder ein Ma­ron-An­ti-PC-Apho­ris­mus – das trö­stet über die Ober­fläch­lich­keit und den sprach­lich schlech­ten Stil nicht hin­weg.

Da­bei ist Sar­ra­zin den­je­ni­gen, die er so ve­he­ment kri­ti­siert, nä­her als man zu­nächst denkt. Tat­säch­lich in­sze­nie­ren sich bei­de Sei­ten all­zu ger­ne als Op­fer. Wo Sar­ra­zin glaubt, die so­ge­nann­te schwei­gen­de Mehr­heit hin­ter sich zu ha­ben, po­chen die von ihm an­ge­grif­fe­nen Gleich­heits- und Kor­rekt­heits­a­po­lo­ge­ten auf ei­nen Min­der­hei­ten­sta­tus, der jeg­li­che auch noch so klei­ne Dif­fe­renz so­fort als Dis­kri­mi­nie­rung dif­fa­mie­ren muss, schon al­lei­ne um wahr­ge­nom­men zu wer­den. Den Ver­such, Dis­kur­se he­ge­mo­ni­al zu un­ter­wan­dern und Vor­ab­be­din­gun­gen zu ma­ni­fe­stie­ren, ist auf bei­den Sei­ten vi­ru­lent. Schließ­lich re­kla­miert je­der ei­nen ab­so­lu­ti­sti­schen An­spruch auf den ul­ti­ma­ti­ven Be­sitz der Wahr­heit, die in paterna­listischem Fu­ror die Ge­gen­sei­te dä­mo­ni­siert.

Sar­ra­zin hat nicht be­grif­fen, dass es auf Sta­ti­sti­ken nicht an­kommt, wenn Dis­kur­se fast nur noch mo­ra­li­sie­rend ge­führt wer­den. Sein zwei­ter Irr­tum ist zu glau­ben, dass dies je­mals an­ders war. Po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen wur­den und wer­den nur ganz sel­ten auf­grund em­pi­ri­scher Fak­ten ra­tio­nal ge­trof­fen. Statt­des­sen spie­geln sich ih­nen im­mer die je­weils gül­ti­gen und sich ver­än­dern­den Mo­ral­vor­stel­lun­gen der Zeit. Sar­ra­zin ver­sucht nun ver­zwei­felt ein Welt­bild zu er­hal­ten, das sich wo­mög­lich nicht mehr durch­set­zen lässt, weil die Vor­stel­lun­gen in­ner­halb der Ge­sell­schaft an­de­re ge­wor­den sind als zu sei­ner ak­ti­ven po­li­ti­schen Zeit. Das macht sein Vor­ha­ben al­ler­dings noch nicht per se eh­ren­rüh­rig; man muss sei­nen The­sen nicht zu­stim­men, aber aus­hal­ten und dis­ku­tie­ren soll­te man sie um sich nicht ge­mein zu ma­chen mit de­nen, die man ab­lehnt.

Matthias Dusini / Thomas Edlinger: In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness

Mat­thi­as Du­si­ni / Tho­mas Ed­lin­ger: In An­füh­rungs­zei­chen. Glanz und Elend der Po­li­ti­cal Cor­rect­ness

Als Ge­gen­gift zu Sar­ra­zins Je­re­mia­de bie­tet sich ein vor zwei Jah­ren im Suhr­kamp Ver­lag er­schie­ne­nes Buch an: »In An­füh­rungs­zei­chen – Glanz und Elend der Po­li­ti­cal Cor­rect­ness«. Ge­schrie­ben wur­de es von Mat­thi­as Du­si­ni und Tho­mas Ed­lin­ger. Die mit zum Teil ab­sur­den Angli­zismen ver­setz­te Spra­che ist flott, feuil­le­to­ni­stisch und teil­wei­se iro­nisch. Ge­le­gent­lich gibt es Sat­zun­ge­heu­er, die ir­gend­wann im Un­ver­ständ­lich­keits-Nir­wa­na ih­rer ange­strengten Ori­gi­na­li­tät ver­dur­sten; man liest über sie mit der Gna­de des spä­ten Ver­ste­hens hin­weg.

Auch hier fin­det kei­ne auch nur halb­wegs wis­sen­schaft­li­che Er­ör­te­rung statt. An­hand pop­kul­tu­rel­ler Er­eig­nis­se (Fern­seh­se­ri­en, Vi­deo­fil­me) wer­den ein­zel­ne Phä­no­me­ne be­schrie­ben und ge­deu­tet. Die Au­toren leug­nen die Po­li­ti­cal Cor­rect­ness nicht, sie fin­den sie so­gar einiger­maßen in Ord­nung. »Der knar­zen­de Aus­druck der po­li­ti­schen Kor­rekt­heit ist ei­ne Be­griffs­krücke für ei­ne Tu­gend oh­ne Gott. Sie be­schreibt die Er­zie­hungs­ver­su­che ei­ner an­ti­au­to­ri­tä­ren Ge­sell­schaft in der un­ver­bes­ser­li­chen Hoff­nung, dass aus freie­ren Men­schen auch bes­se­re Bür­ge­rin­nen wer­den. Nar­ziss ist der gu­te und der bö­se Geist der De­mo­kra­tie. Oh­ne ihn kön­nen wir nicht mehr. Mit ihm könn­te die Welt bes­ser, könn­ten die An­füh­rungs­zei­chen we­ni­ger wer­den. Wenn al­les gut­geht, dann folgt auf Nar­ziss der Kom­mu­nis­mus der Ach­tung: ein sä­ku­la­rer Nar­ziss­mus, der kein gött­li­ches Selbst mehr braucht«, so bi­lan­zie­ren die bei­den Au­toren.

Aber was ist, wenn man nicht er­zo­gen wer­den möch­te, weil man In­dok­tri­na­tio­nen – auch die der ver­meint­lich »gu­ten Sa­che« – ge­ne­rell nicht ver­ein­bar fin­det in ei­ner of­fe­nen Ge­sell­schaft? Und wie ist die­ser zum Teil re­li­giö­se, am En­de ja­ko­bi­ni­sche Ei­fer in die­ser schein­bar sä­ku­la­ren Ge­sell­schaft zu er­klä­ren? Und was ist, wenn das Welt­ver­bes­se­r­er­tum sich wo­mög­lich noch in das Bür­ger­tum des 40jährigen CDU-Wäh­lers hin­ein­mis­sio­nie­ren lässt, aber schon ein paar Stra­ßen­zü­ge wei­ter auf Kopf­schüt­teln stösst, et­wa wenn sich mus­li­mi­sche Mäd­chen und Frau­en völ­lig über­ra­schend nicht durch ein Kopf­tuch dis­kri­mi­niert füh­len oder Ho­mo­se­xu­el­le es vor­zie­hen, kein öf­fent­li­ches Ou­ting zu be­trei­ben?

Zu­wei­len wer­den die ex­tre­men Aus­prä­gun­gen der po­li­ti­schen Kor­rekt­hei­ten ka­ri­kiert und de­ren In­stru­men­ta­li­sie­rung an­ge­deu­tet. Im zwei­ten Teil wird den bei­den öster­rei­chi­schen Au­toren Freund zum Uni­ver­sal­erklä­rer für na­he­zu al­le PC-Er­schei­nun­gen. Mit dem 40seitigen »Glos­sar der po­li­ti­schen Kor­rekt­heit« am En­de des Ban­des glei­tet das Buch dann in voll­ends un­ern­ste Ge­wäs­ser ab, was nicht be­deu­tet, dass es ge­ra­de dort ei­ne Fül­le herr­li­cher Sen­ten­zen gibt. So ist zum Bei­spiel der reich­lich stra­pa­zier­te Be­griff des für PC-Phä­no­me­ne ver­ant­wort­li­chen Ich-Ide­als wie folgt um­schrie­ben: »Ei­ne im­mer wich­ti­ger wer­den­de In­stanz der See­len­öko­no­mie, die die Do­mi­nanz des Über-Ich ge­bro­chen hat. Als in­ter­na­li­sier­tes Stand­ge­richt der PC-Sub­jek­te be­schäf­tigt es sich nicht mit dem Ge­setz des Va­ters, son­dern mit dem Ver­mö­gen sei­ner Kin­der. Bei schwer­wie­gen­den Ver­stö­ßen ge­gen das ober­ste Ge­bot mo­ra­lisch ver­träg­li­cher Selbst­ach­tung dro­hen die Stra­fen Burn-out und De­pres­si­on. Bei Frei­spruch win­ken Kar­rie­re­sprün­ge und sport­li­che Re­kor­de.« Mein per­sön­li­cher Fa­vo­rit ist die Ein­tra­gung un­ter Schwe­den. Sie lau­tet knapp: »Das Sau­di-Ara­bi­en der PC«.

Sar­ra­zin in­thro­ni­siert sich un­ge­fragt als Ober­haupt ei­nes Kamp­fes ge­gen PC-Wahn und Tu­gend­ter­ror. Aber­mals ver­klei­stert er mit sei­nen ste­reo­ty­pen Pa­ro­len ei­ne not­wen­di­ge Dis­kus­si­on. Wer zum The­ma PC Stoff zum Nach­den­ken ha­ben möch­te, ist bei al­lem Schmäh von Du­si­ni und Ed­lin­ger mit ih­rem Ge­gen­gift durch­aus gut be­dient. Er/Sie kann das Gift dann be­ru­higt ste­hen­las­sen.

33 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Kom­pli­ment für die Le­se­lei­stung.
    Ha­be ein Schei­tern der Ana­ly­se bei S. schon er­war­tet, er kennt kei­ne so­zio­lo­gi­schen Tech­ni­ken.
    Sehr gut dein Ein­wand: war­um hat die »Er­obe­rung der Re­dak­ti­ons­stu­ben« nicht zu ei­ner Ab­wahl Kohl’s ge­führt, bzw. wie soll man die fried­li­che Ko­exi­stenz des »lin­ken Main­stream« und Kanz­le­rin Mer­kel er­klä­ren?!?!
    Hier se­he ich das ei­gent­li­che Phä­no­men, die Auf­tei­lung der Sphä­ren. Ma­jo­ri­tät und Mi­no­ri­tät be­stehen ne­ben­ein­an­der, oh­ne sich ernst­haft aus­ein­an­der set­zen zu müs­sen. Die me­dia­le Ver­ar­bei­tung des Po­li­ti­schen ist nur lo­se an die Tä­tig­keit der Re­gie­rung ge­knüpft. Ist das nicht fa­bel­haft, ist das nicht die »völ­lig un­er­war­te­te Lö­sung des de­mo­kra­ti­schen Di­lem­mas«? Herr­schaft für al­le gleich­zei­tig?

  2. Der Spie­gel hat pflicht­be­wusst ei­nen sei­ner Re­dak­teu­re auf die Buch­le­sung von und mit TS ge­schickt (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/thilo-sarrazin-praesentiert-neues-buch-in-berlin-a-955343.html). Sehr schön für mich der Satz:

    ...im er­sten Satz kon­sta­tie­ren, dass man in die­sem Land nicht mehr sa­gen dür­fe, was Sa­che ist. Und im zwei­ten Satz dann ge­nau die­se Sa­chen sa­gen – oh­ne den Wi­der­spruch zu be­mer­ken.

    Oder mein Lieb­lings­zi­tat:

    Thi­lo Sar­ra­zin ist höchst­wahr­schein­lich so schlau, dass er so­gar ei­ne Schach­par­tie ge­gen sich selbst ge­win­nen könn­te.

    Dass du dir so ein Buch an­tust...

  3. @Köppnick
    Na­ja, das ist die ty­pi­sche Spie­gel-Schrei­be, die mich nur noch lang­weilt. Ge­ra­de der Spie­gel hat ja beim »Deutsch­land schafft sich ab«-Buch mit Bild den Schwanz von Sar­ra­zin ge­hal­ten – um ihn dann ganz schnell vol­ler ge­spiel­ten Ekel los­zu­las­sen.

    Das Buch ha­be ich ge­le­sen, weil mich das PC-Phä­no­men schon in­ter­es­siert. Aber Sar­ra­zin ist in­tel­lek­tu­ell ein­fach nicht in der La­ge, hier Ak­zen­te zu set­zen die jen­seits des be­schrie­be­nen Her­um­jam­merns lie­gen. Mich wür­de spe­zi­ell Dei­ne Mei­nung zum (et­was äl­te­ren) Buch von Dusini/Edlinger in­ter­es­sie­ren.

    @die_kalte_sophie
    Man kann viel­leicht wirk­lich von Par­al­lel­wel­ten spre­chen, die al­ler­dings schwer mit­ein­an­der ins Re­den kom­men, son­dern gleich die dem an­de­ren zu­ge­schrie­be­nen Un­ter­stel­lun­gen kom­men­tie­ren. Das macht Sar­ra­zin ge­nau so wie sei­ne Geg­ner und ist nicht sehr frucht­bar. Es kann, um dann mal Ga­da­mer zu zi­tie­ren, kein Ge­spräch auf­kom­men, weil je­der von vorn­her­ein aus­schliesst, das der an­de­re auch ein­mal recht ha­ben könn­te.

    Da­her se­he ich das in­zwi­schen als Sprach­spie­le an, die al­ler­dings – wie­der­um auf bei­den Sei­ten – un­ab­läs­sig die Wahr­heit für sich be­an­spru­chen. Öf­fent­li­che und ver­öf­fent­lich­te Mei­nung und Emp­fin­dun­gen di­ver­gie­ren im­mer stär­ker.

  4. »Die Mehr­heit der Jour­na­li­sten stün­den dem links­li­be­ra­len Mi­lieu na­he. «

    Mmmm, soll­te ihn das denn nicht ei­gent­lich freu­en? Im­mer­hin ist er an­geb­lich »So­zi­al­de­mo­krat«? Auf wel­che Wei­se passt ir­gend­et­was das Sar­ra­zin an »The­sen« aus dem Mund fällt zu ei­ner Mit­glied­schaft in der SPD? Oder noch schlim­mer, passt das viel­leicht wirk­lich al­les wie die Faust aufs Au­ge?

  5. @Dolph
    Sar­ra­zin war wohl im­mer eher im bür­ger­li­chen SPD La­ger (Dohn­anyi; Rau; See­hei­mer Kreis) zu Hau­se. Die Hin­wen­dung zu den Grü­nen, die die SPD schlei­chend Mit­te der 80er voll­zog, da sie (1.) er­kann­ten, dass es sich nicht um ein Stroh­feu­er han­del­te und (2.) da­durch ih­re Macht­op­ti­on wie­der ge­win­nen woll­te (was dann bis 1998 dau­er­te), hat Sar­ra­zin nie mit­ge­macht. Er brauch­te sie auch nicht ideo­lo­gisch nach zu voll­zie­hen, da sei­ne Äm­ter zu­meist jen­seits po­li­ti­scher Vi­sio­nen la­gen.

    Ich glau­be üb­ri­gens nicht, dass ei­ne Par­tei da­durch Stär­ke be­weist, in dem sie Mit­glie­der, die ih­nen nicht pas­sen, ein­fach raus­wirft. Die Fra­ge ist nur, ob man sol­chen Mit­glie­dern Funk­tio­nen gibt. Das ist bei ihm nicht der Fall. Ich se­he es auch höchst pro­ble­ma­tisch, je­man­den wie Edathy raus­zu­schmei­ssen. Aber das ist ein an­de­res The­ma.

  6. Mich hät­te ein po­si­ti­ver Kom­men­tar über Sar­ra­zins nie­der­ge­schrie­be­ne Ge­dan­ken tat­säch­lich ver­wirrt. Schließ­lich ist Sar­ra­zin bö­se, weiß man ja. Und al­les was er von sich gibt, ist na­tür­lich auch bö­se, wis­sen wir ja al­le. Al­so kann ein neu­es Buch nur un­lo­gisch, dumm, sti­li­stisch bo­den­los, in­halt­lich be­lang­los, an­de­re her­ab­wür­di­gend und den Au­tor selbst er­hö­hend sein. So er­war­te­te ich die Re­zen­sio­nen der Bes­ser­wis­sen­den, die sich ja im­mer hin­ter­fra­gen und er­geb­nis­of­fen Sar­ra­zins gei­sti­ge Er­güs­se ana­ly­sie­ren und mit ge­nü­gend emo­tio­na­len Ab­stand in der Fol­ge sach­lich be­wer­ten.

    War­um gibt es ei­gent­lich mehr als ei­ne Mil­li­on ver­kauf­ter Ex­em­pla­re des ach so dum­men Buchs »Deutsch­land schafft sich ab«? War­um wer­de ich im­mer wie­der – hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand – von Men­schen aus un­ter­schied­lich­sten Ge­sell­schafts­schich­ten an­ge­spro­chen, dass der bö­se Herr Sar­ra­zin »schon manch­mal recht hat«? Sind das mehr als ei­ne Mil­li­on Voll­idio­ten? Dann dürf­ten wir (Bes­ser­wis­sen­den) uns na­tür­lich über sie stel­len und sie mit aus­ge­feil­ter Spra­che und in­halt­li­cher Strin­genz all die Ge­dan­ken­ge­bäu­de Sar­ra­zins mit dem Arsch ein­rei­ßen. Sie – die dum­me Mil­li­on Le­ser – braucht uns (Bes­ser­wis­sen­den) oh­ne Fra­ge, da­mit wir de­nen Mal das »Gift« er­klä­ren, das Sar­ra­zin ver­ab­reicht. Und das Ge­gen­gift bie­ten wir (Bes­ser­wis­sen­den) gleich noch mit an. Schließ­lich sind wir gut – im Ge­gen­satz zu Sar­ra­zin, der ja bö­se ist (hof­fent­lich hat es jetzt der letz­te ver­stan­den).

    Jetzt muss ich tat­säch­lich wie­der los und mir Sar­ra­zins neu­es Un­werk ho­len, da­mit ich mir er­neut selbst ein Bild ma­chen kann. Wie beim letz­ten Mal, als ich mich wun­der­te, mit wel­chem Auf­wand an Re­cher­che Sar­ra­zin sei­ne The­sen be­leg­te. The­sen, die ich zum gro­ßen Teil so nicht an­neh­men woll­te, die aber für ei­ne ech­te Dis­kus­si­on zu­erst ein­mal ein Fun­da­ment an Da­ten be­nö­tig­te, da­mit mei­ne An­ti­the­se eben min­de­stens so wert­voll sein konn­te, wie Sar­ra­zins The­se, die er eben be­le­gen konn­te. Und ja, das ist schwie­ri­ger, als dem bö­sen Sar­ra­zin noch ei­ne mit­zu­ge­ben, ge­treu dem Mot­to »Ha­be ein Schei­tern der Ana­ly­se bei S. schon er­war­tet...«. Das ist ge­nau das Ge­gen­teil von de­mo­kra­tisch-to­le­ran­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Das ist die Form, die man in sei­nem neu­en Un­werk schon aus der Über­schrift er­ken­nen kann.

    Tre­tet doch al­le mal ei­nen Schritt zu­rück, ver­gesst Na­me und Ge­sicht des Au­tors und setzt Euch dann in al­ler Ru­he mit den The­sen aus­ein­an­der. Stellt Eu­re Ge­gen­po­si­ti­on dar und Ihr wer­det se­hen, man muss nicht Sar­ra­zins Mei­nung sein. Man muss den al­ten Mann aber auch nicht per­sön­lich ver­nich­ten. Viel­leicht lernt der ein oder an­de­re (Sar­ra­zin, Ihr, ich) so­gar noch et­was da­bei...

  7. @Lauris Mau­ris
    Ich weiss nicht, war­um Sie Ih­re Fru­stra­ti­on bei mir ab­la­den. Ich nann­te Sar­ra­zin 2010 den Mes­si­as der Mit­tel­schicht und ha­be ver­sucht, sei­ne In­ten­tio­nen und auch sei­nen Er­folg zu er­for­schen. Sein Eu­ro-Buch 2012 war – wenn man be­rück­sich­tigt, dass er von der Ma­te­rie et­was ver­steht – schon ziem­lich ent­täu­schend; es war ei­ne ek­lek­ti­sche An­samm­lung di­ver­ser Zei­tungs­ar­ti­kel, die sei­ne skep­ti­sche Sicht auf den Eu­ro teil­ten, die mit un­zäh­li­gen, zum Teil selbst an­ge­leg­ten und fort­ge­schrie­be­nen Sta­ti­sti­ken gar­niert wur­den. Und jetzt sein Buch über PC und Tu­gend­wahn, das tat­säch­lich nichts Neu­es bringt und das Alt­be­kann­te nur um sei­ne Je­re­mia­de über die Re­zep­ti­on sei­nes Bu­ches von 2010 er­wei­tert.

    Wo Sie in mei­nem Text den Wunsch zur Ver­nich­tung der Per­son T.S. se­hen, ist mir ein Rät­sel. Aber viel­leicht ist es nur ei­ne Art Rund­schrei­ben, dass Sie al­len Tex­ten über Sar­ra­zin an­kle­ben. Wie wä­re es ei­gent­lich, wenn Sie sich mal mit sei­nen The­sen aus­ein­an­der­set­zen wür­den?

  8. Zwei m.E. in­ter­es­san­te Tex­te zur »po­li­ti­schen Kor­rekt­heit«, wo­bei in er­ste­rem auch das von Ih­nen re­zen­sier­te Buch von Dusini/Edlinger an­ge­spro­chen wird. Den zwei­ten Text, bei dem es sich um ein In­ter­view von Pa­trick Schrei­ner mit Marc Fa­bi­an Erdl han­delt, hal­te ich al­ler­dings für den auf­schluss­rei­che­ren.

    Zi­tat freitag.de / Mat­thi­as Dell, Marc Fa­bi­an Erdl – Schie­ßen Sie nicht auf den Papp­ka­me­ra­den:

    »Wer „PC“ tat­säch­lich ver­ste­hen will, der muss das Ge­gen­teil von Dusini/Edlinger tun – und den Un­sinn aus­ein­an­der­kla­mü­se­rn, der in dem Be­griff un­hin­ter­fragt ver­klumpt. Um zu be­grei­fen, war­um die Le­gen­de von der „Po­li­ti­schen Korrektheit/Inkorrektheit“ so at­trak­tiv und er­folg­reich ist, muss man ein we­nig aus­ho­len.

    Den Zeit­punkt, als „PC“ in die wei­te Welt kommt, kann man re­la­tiv ex­akt be­stim­men. Vor 1990 sucht man den Be­griff „Po­li­ti­sche Kor­rekt­heit“ in Pres­se­da­ten­ban­ken ver­geb­lich. Das Er­geb­nis ist: null. Im Lau­fe des Jah­res 1990 än­dert sich das ... «

    http://www.freitag.de/autoren/mdell/schiessen-sie-nicht-auf-den-pappkameraden

    Marc Fa­bi­an Erdl: “Noch vor dem er­sten Wi­der­wort ei­ne Ver­fol­gung her­bei­zu­lü­gen”

    http://www.annotazioni.de/post/1084

  9. Es gibt seit ge­rau­mer Zeit den Hang zur Sprach­re­gu­lie­rung. Das läuft na­tür­lich auf ei­ner in­for­mel­len Ebe­ne ab und nicht »all­ge­mein­gül­tig ko­di­fi­ziert«, wo­bei ei­ne All­ge­mein­gül­tig­keit na­tür­lich an­ge­strebt wird. Das zu leug­nen, ist schlicht­weg un­se­ri­ös. Die Fra­ge ist nur, in­wie­fern es nicht Sprach­spie­le sind, die durch ih­re mo­ra­li­sche Auf­la­dung erst zu die­ser Be­deu­tung kom­men, in dem sie »rich­tig« und »falsch« be­stim­men (wie es ja auch im »Freitag«-Text steht). »Rich­tig« und »falsch« sind aber kei­ne mo­ra­li­schen Ka­te­go­rien son­dern Zu­wei­sun­gen, die sich im Kon­sens bil­den müs­sen. Und nicht per De­kret. Aber das steht ja al­les in den Kom­men­ta­ren zum »Frei­tag«.

  10. Wer liest heut­zu­ta­ge schon ein Buch ganz durch – au­ßer Gre­gor Keu­sch­nig?
    Lohnt es sich, das Buch zu kau­fen? Und zu le­sen?

  11. @Gregor Keu­sch­nig

    Lie­ber Gre­gor Keu­sch­nig,
    bin ich fru­striert? Im Ge­gen­teil. Tex­te wie Ih­rer und die fol­gen­den An­mer­kun­gen sind für mei­nen Job das Salz in der Sup­pe, die But­ter auf dem Brot und die Wär­me an kal­ten Ta­gen. So mein­te ich das Ihr in der Klam­mer des letz­ten Sat­zes nicht als Plu­ra­lis Ma­je­sta­tis für den Au­toren, al­so Sie, son­dern für uns al­le. Mein Job ist es Men­schen auf­zu­zei­gen, wie sie mit Ma­ni­pu­la­ti­ons­tech­ni­ken um­ge­hen, die­se er­ken­nen und sich da­ge­gen zur Wehr zu set­zen. Der Um­gang vie­ler Kri­ti­ker mit Sar­ra­zin ist höchst un­ehr­lich und vor al­lem bei den vie­len Nicht­le­sern sei­ner Bü­cher mit der Er­nied­ri­gung sei­ner Per­son ein­her­ge­hend. So muss man sich nicht mit den In­hal­ten aus­ein­an­der­set­zen. Sie, lie­ber Herr Keu­sch­nig, le­sen und deu­ten Sar­ra­zin. Al­ler­dings ge­ben Sie kei­ner sei­ner The­sen ei­ne Chan­ce, weil er in der Ge­samt­heit für Sie ne­ga­tiv be­frach­tet ist. Sie neh­men Tei­le sei­ner Aus­sa­gen, kri­ti­sie­ren Sie viel­leicht so­gar zu­recht, un­ter­le­gen die­se Kri­tik des feh­len­den In­halts eben auch mit »sti­li­sti­schen« Be­wer­tun­gen und kom­men so zu ei­nem ein­deu­ti­gen Er­geb­nis.

    Nun er­war­ten Sie zu­recht von mir ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nen The­sen. Dies tue ich mehr­mals im Mo­nat in mei­nen Se­mi­na­ren. Und so fehlt mir lei­der die Zeit al­len Tex­ten Sar­ra­zins ein Rund­schrei­ben an­zu­kle­ben. Ih­re per­sön­li­chen Ein­las­sun­gen, Herr Keu­sch­nig, wa­ren es mir aber wert, ei­nen Per­spek­ti­ven­wech­sel zu ver­su­chen. Viel­leicht ler­nen wir wirk­lich noch al­le da­von uns mit­ein­an­der aus­ein­an­der zu set­zen. Eben auch ein T.S., des­sen Aus­sa­gen zu so vie­len The­men – vom Eu­ro bis zur Ge­ne­tik – of­fen­sicht­lich Wi­der­spruch su­chen. Dies be­kommt er auch von mir. Aber eben in­halt­lich, Punkt für Punkt, oh­ne ihm man­geln­den Stil oder feh­len­de Tie­fe vor­zu­wer­fen. Aber bit­te, bit­te, ver­ste­hen Sie mich nicht falsch. Ich fän­de es scha­de, wenn Sie Ih­re Re­zen­si­on so nicht schrei­ben wür­den.

  12. Wür­de man das Er­schlag­wort »po­li­ti­cal cor­rect« ge­konn­ter ins Deut­sche über­set­zen, dann kä­me man wohl eher zu dem Ad­jek­tiv »zi­vi­li­siert«. »Po­li­ti­sche Kor­rekt­heit« im deut­schen Sin­ne könn­te in sei­ner ex­trem­sten Aus­prä­gung auch als »Hunds­föt­te­rei« ge­gen­über der po­li­ti­schen Klas­se ei­ner Na­ti­on aus­ge­legt wer­den. Die­se lie­fe in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten auf ei­ne An­bie­de­rung ge­gen­über dem US-Fa­schis­mus samt Me­di­en­ap­pa­rat hin­aus. In Deutsch­land wä­re das hin­ge­gen grosso mo­do ei­ne An­bie­de­rung bei der So­zi­al­de­mo­kra­tie i. w. S. samt der da­zu pas­sen­den Me­di­en­land­schaft. Da beißt sich nun mal die Maus kei­nen Fa­den ab, denn der Bun­des­tag kon­sti­tu­iert sich ak­tu­ell aus vier (oder fünf?) so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en: a) Die nach­wie­vor ge­mäch­lich vor sich hin­schrö­dern­de SPD, an die sich je­der­zeit die Grü­nen wie die Lin­ken lie­bend ger­ne an­leh­nen wür­den. b) Die Mer­kel­sche CDU mit ih­rem dackel­haf­ten CSU-An­häng­sel.

    Was je­doch aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten sei­ner­zeit als »po­li­ti­cal cor­rect­ness« über den At­lan­tik zu uns her­über­schwapp­te, ba­siert auf nichts an­de­rem als auf zeit­gei­sti­gen Ela­bo­ra­ten ei­nes ge­gen­über zwei die Uni­on fa­schis­mus­haft do­mi­nie­ren­den Par­tei­en ver­lo­ge­nem und sich an­bie­dern­dem Estab­lish­ment, läßt sich da­her be­griff­lich als eben je­ne un­zi­vi­li­sier­te po­li­ti­sche Kor­rekt­heit aus­ma­chen. Wel­che Mu­ta­tio­nen oder Ver­wer­fun­gen die­ses Stück po­li­ti­schen Zeit­gei­stes durch­ge­macht hat: Dies zu be­schrei­ben, führ­te wie­der­um zu ei­nem er­gän­zen­den Ka­pi­tel.

    All das läßt sich nach Strich und Fa­den ver­rup­fen, was Sar­ra­zin auf sei­ne Wei­se wohl ver­sucht hat. Wie ef­fek­tiv das je­doch be­werk­stel­ligt wer­den könn­te, läßt sich er­denken. Lei­der ha­ben sich bis heu­te nur we­ni­ge an die­se Auf­ga­be her­an­ge­wagt. Kurz­um: Viel zu we­nig pas­siert!

    CQ (DD)

  13. @Lauris Mau­ris
    Da hab ich ja noch mal Glück ge­habt, dass ich so schrei­ben darf, wie ich schrei­be...

    Ernst­haft: Sar­ra­zin stellt kei­ne The­sen auf, die jen­seits ei­ner längst be­kann­ten Dia­gno­stik je­dem ei­ni­ger­ma­ßen be­kannt vor­kom­men. Er geht so­gar hin­ter die­sem Wis­sen­stand zu­rück und setzt sich – das ha­be ich ge­schrie­ben – auf 70 der 400 Sei­ten mit der Re­zep­ti­on sei­nes Bu­ches und sei­nen Krän­kun­gen aus­ein­an­der. Wenn Sar­ra­zin sei­nen Kri­ti­kern vor­wirft, Per­sön­li­ches und Sach­li­ches mit­ein­an­der zu ver­quicken, dann macht er das in die­ser un­säg­li­chen Je­re­mia­de auch. Er be­klagt die Ein­engung der Mei­nungs­frei­heit – und das bei zwei oder drei Talk­show­auf­trit­ten und 1,5 Mil­lio­nen ver­kauf­ter Ex­em­pla­re. Im letz­ten Ka­pi­tel sub­sum­miert er die ver­meint­li­chen The­sen des links­in­tel­lek­tu­el­len Mi­lieus und macht das, was er den Kri­ti­kern sei­nes Bu­ches vor­wirft: Er über­zeich­net, ver­zerrt und ver­ein­facht. Und man muss auch et­was zum schlech­ten sprach­li­chen Stil schrei­ben dür­fen, wenn er schlecht schreibt. Sar­ra­zin ist ein Buch­hal­ter, oh­ne Spra­che, höl­zern. Und da­bei ha­be ich sei­ne sach­li­chen Feh­ler noch gar nicht auf­ge­führt.

    Sar­ra­zin macht sich gar nicht erst die Mü­he das The­ma der PC und der mo­ra­li­sie­ren­den Dis­kur­se zu un­ter­su­chen. Er er­forscht nicht die Ge­schich­te der PC in D, die Mo­ti­va­tio­nen der Teil­neh­mer. Klem­pe­rer kommt 1x vor, ver­stan­den hat er ihn nicht, was ihn na­tür­lich auch da­von be­freit, ihn ggf. zu wi­der­le­gen, auch Dusini/Edlinger zi­tiert er ge­nau 1x, wo­bei er hier ei­ne Chan­ce ge­habt hät­te, sich mit dem Buch aus­ein­an­der­zu­set­zen. Aber das Zi­tat ist von Sei­te 9; die an­de­ren rd. 260 Sei­ten hat er ver­mut­lich nicht mehr ge­le­sen. Wo an­de­re in ei­nem sol­chen Buch ein Haus mit Bret­tern und Nä­geln bau­en wol­len, kommt Sar­ra­zin mit Sperr­holz und Ak­ku-Ta­cker da­her. Sie mö­gen sol­chen Häus­chen ei­nen ge­wis­sen Charme at­te­stie­ren, ich fin­de das er­bärm­lich.

    Aber was ich noch er­bärm­li­cher fin­de: Dass die Me­di­en sich die­ses The­mas an­neh­men, weil es ein ge­wis­ser Herr Sar­ra­zin an­geb­lich ver­ar­bei­tet hat. Das hat näm­lich zur Fol­ge, dass not­wen­di­ge Kri­tik an der PC von nun an als sar­ra­zinesk gilt. Sar­ra­zin ist ei­ne Art Kö­nig Mi­das, nur das al­les was er an­ge­fasst, zur Schei­ße wird.

  14. @metepsilonema
    Sar­ra­zins Be­zug auf Mac­chia­vel­li ha­be ich als höchst pein­lich und ge­quält emp­fun­den. Wie die Au­torin auf »an­re­gen­de Po­pu­lär­li­te­ra­tur« kommt, ver­mag ich nicht zu sa­gen. Da­bei stört es mich noch nicht ein­mal, dass es viel­leicht ein we­nig »pe­dan­tisch« wä­re – war­um nicht? – aber es ist eben voll­kom­men oh­ne Es­prit, oh­ne Ori­gi­na­li­tät, red­un­dant und zum Teil qual­voll. War­um bei »nicht streng wissenschaftliche[n] Pu­bli­ka­tio­nen« Feh­ler und fal­sche Schlüs­se plötz­lich er­laubt sein sol­len, er­schliesst sich mir nicht. Sie hat zwar Recht, dass dies in Re­zen­sio­nen ger­ne un­ter­schla­gen wird, so­fern die vor­herr­schen­de Mei­nung ge­stützt wür­de (was ich »Ge­sin­nungs­jour­na­lis­mus« nen­ne), aber da­durch wird es ja nicht bes­ser.

  15. Es fehlt DAS BUCH, sprich die Ana­ly­se, die es mit Phä­no­men wie PC auf­nimmt. Ich wä­re schon für ei­ne Ana­ly­se des deut­schen Sprach­raums dank­bar. Was sind die Mo­ti­ve?! Was sind die »Ef­fek­te«?!
    Ich neh­me fol­gen­des wahr: PC spal­tet, d.h. es ist ei­ne (für sich ge­nom­men evtl. un­voll­stän­di­ge) ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Ak­ti­on, die ein Op­po­si­ti­ons­prin­zip in den dif­fu­sen öf­fent­li­chen Dis­kurs ein­brin­gen möch­te. Die »mo­ra­li­sche Auf­la­dung«, die Keu­sch­nig mehr­mals an­spricht, ‑ja, so­gar der gro­tes­ke Bei­trag von Lau­ris Ma­ris, be­stä­ti­gen das. Mo­ral ist im­mer »dis­kri­mi­nie­rend«, im dop­pel­ten Sin­ne. Es trennt vor­her amor­phe Grup­pen, Dis­kurs­ge­mein­schaf­ten.
    Ich weiß, es gibt ei­ne gro­ße phi­lo­so­phi­sche Tra­di­ti­on, wel­che lehrt: Mo­ral ver­bin­det! Aber ich bin an­de­rer Mei­nung, je­den­falls so lan­ge ich es noch sein darf...
    Mo­ral ist ein »Ver­tei­ler«.

  16. PC be­dient ja den ei­gent­lich spie­ssi­gen Wunsch, Ka­te­go­rien und Schub­la­den für die Ewig­kei­ten zu ent­wickeln, in die al­les ge­steckt wer­den kann. Da­nach ist dann der Tisch »sau­ber«. Um im Bild zu blei­ben: Man öff­net die ein­ge­staub­ten Schub­la­den und be­ginnt nun neu zu sor­tie­ren. Da­bei pfeift man auf Ha­ber­mas, den Dis­kurs und den Kon­sens, der sich dar­aus er­ge­ben soll son­dern de­kre­tiert ein­fach, wie man auch vor­her de­kre­tiert wur­de. Die Mo­ra­li­sie­rung er­setzt da­bei das Ar­gu­ment. Im Wort­sinn wird aus der Not ei­ne Tu­gend ge­macht. Auf je­der Par­ty wird heu­te be­tont, dass der Pull­over, den man an­hat, aus nach­hal­ti­gem Baum­wollan­bau kommt und nicht von Kin­dern ge­fer­tigt wur­de.

    Neu­lich sag­te ei­ne äl­te­re Da­me in ei­ner pri­va­ten Run­de das omi­nö­se Wort »Ne­ger«. Sie hat zwin­gend nichts mit Ras­sis­mus zu tun, ih­re Re­de über die Per­son war an­er­ken­nend. Sie kennt »Ne­ger« als Be­schrei­bung und setz­te es de­skrip­tiv. In­ter­es­sant die Re­ak­tio­nen in der Run­de: Pi­kier­tes Schwie­gen, Durch­at­men. »Das sagt man heu­te nicht mehr«. »War­um?« lau­te­te ih­re Fra­ge, die dann wie­der mit dem Im­pe­ra­tiv des Zeit­geists be­ant­wor­tet wur­de. Ge­nau die­ses »Das sagt man / tut man nicht« war aber seit je­her der Ver­samm­lungs­ort des bie­der­mei­er­haf­ten Ver­bots. Mach­te man frü­her Sa­chen, die sich nicht ge­hör­ten, wur­de man nicht ge­grüsst. Heu­te wird man dif­fa­miert, um Uni­for­mi­tät zu er­zwin­gen. Die To­ta­li­ta­ris­men funk­tio­nie­ren heu­te nur ef­fi­zi­en­ter. – All dies hät­te ich ger­ne ana­ly­siert be­kom­men. Aber das kann T. S. ein­fach nicht. Und er will es auch nicht.

  17. Stimmt, um­so mehr der Ver­gleich mit dem Bie­der­mei­er. Ich ver­mu­te, die­se (Selbst-)Dressurakte sind eher ei­nem rück­züg­li­chen po­li­ti­schen Wil­len an­zu­rech­nen, als ei­nem (sche­men­haft er­kenn­ba­ren, sub­ti­len) To­ta­li­ta­ris­mus.
    Ich se­he aber auch ei­ne »kon­tra­stie­ren­de Wir­kung«, da die po­li­ti­sche Öf­fent­lich­keit so­wie­so sehr stark de­li­be­ra­li­siert wur­de, al­so be­reits völ­lig dem »un­ver­bind­li­chen un­ein­deu­ti­gen Über­blick« ver­pflich­tet ist. Die un­wi­der­steh­li­che Leich­tig­keit des in­dif­fe­ren­ten Dis­kur­ses! In die­ser weiß­rau­schen­den So­ße, bild­lich ge­spro­chen, sind PC-Ar­gu­men­te die Ka­pern. Es ist (wie du sagst) schon dem Live­style zu­zu­ord­nen, und kei­ner ver­tief­ten po­li­ti­schen Exi­stenz. Ver­mu­te ich, denn mir fehlt das An­schau­ungs­ma­te­ri­al. Ich le­se nur da­von!

  18. @ #19 (Nach­trag)
    Ich merk ge­ra­de, ich hab ein neu­es Wort er­fun­den: de­li­be­ra­li­sie­ren, bzw. vom End­punkt des Vor­gangs aus be­trach­tet, de­li­be­ra­li­siert; im Zus. mit »de­li­be­ra­li­sier­te Öf­fent­lich­kei­ten«
    Könn­te man das nicht so nen­nen?!
    –de­li­be­ra­li­sie­ren: je­nen Teil des po­li­ti­schen Dis­kurs för­dern, idea­li­sie­ren bzw. theo­re­tisch auf­wer­ten, wel­cher jeg­li­che Aspek­te des Ent­schei­den-Müs­sens ver­mei­det, weil da­durch voll­kom­me­ne »Ge­dan­ken­frei­heit« jen­seits von Macht oder Ohn­macht ent­steht
    Wie fin­det ihr das? Zu früh?!

  19. Das In­ter­view mit Erdl (oben ver­linkt) fin­de ich ent­täu­schend, er­stens weil ei­ni­ge wich­ti­ge Fra­gen (auch von Sei­ten des In­ter­view­ers) nicht ge­stellt wer­den, an­de­rer­seits weil vie­les ein­fach ge­setzt wird.

    Sinn­vol­ler ist es, nach­zu­se­hen ob es »Dis­kur­se« gibt, die man in ir­gend­ei­ner Form dem Term »po­li­ti­cal cor­rect­ness« zu­ord­nen kann, dass es al­so stark ver­ein­fa­chend und ver­all­ge­mei­nernd für Dis­kus­sio­nen über die Ver­wen­dung von Spra­che oder Be­grif­fen, steht oder ste­hen könn­te; da wird man dann auch recht rasch fün­dig: Die Dis­kus­sio­nen um (äl­te­re) Kin­der­bü­cher, das Binnen‑i, Sprach­leit­fä­den für be­stimm­te In­sti­tu­tio­nen, dis­kri­mi­nie­ren­de Wör­ter, usf.

    Auf­klä­re­ri­sche Im­pul­se und Funk­tio­nen kann man sol­chen Dis­kus­sio­nen grund­sätz­lich nicht ab­spre­chen; ob sich aber Ge­sell­schaf­ten, die sich als dis­kur­si­ve (d.h. de­mo­kra­ti­sche) ver­ste­hen, hier for­mel­le oder auch nur in­for­mel­le »Re­geln« (»Nor­men«) an­stre­ben soll­ten, bleibt zu be­zwei­feln (das hie­ße ei­ner Art von Höf­lich­keit Mo­men­te von Frei­heit, von Wahr­heits­su­che und von Selbst­be­stim­mung un­ter­zu­ord­nen, als ob man nicht ganz er­wach­sen wer­den woll­te).

    @Lauris Mau­ris
    Ich ha­be den in #7 ver­link­ten Text aus dem Jahr 2010 als ei­ne sehr aus­ge­wo­ge­ne und fai­re Be­ur­tei­lung von Sar­ra­zins Buch in Er­in­ne­rung, in­so­fern glau­be ich nicht, dass sich Gre­gor hier bloß von der Per­son lei­ten ließ...

  20. die_kalte_Sophie
    Ver­ste­he ich nicht ganz. Spä­te­stens wenn es um Sprach­fin­dung, ‑for­mung geht muss ja ei­ne Ent­schei­dung ge­trof­fen wer­den. Da­bei ist na­tür­lich klar, dass Spra­che im­mer auch wer­tet. Das ist aber All­ge­mein­gut. Jetzt je­den Be­griff so­zu­sa­gen zu mo­ra­li­sie­ren – das fin­de ich zwei­fel­haft.

    @metepsilonema
    Die in­for­mel­len Re­geln er­ge­ben sich ein­fach – ob man das will oder nicht. Denk an die Ju­gend­spra­che. Sie mag ab­sto­ssend, ver­kür­zend, ober­fläch­lich sein – in sich ist sie schlüs­sig, weil sie ver­stan­den wird. Pro­ble­ma­tisch wird es, wenn un­ter­schied­li­che Wel­ten auf­ein­an­der­pral­len oder ei­ner den an­de­ren »be­keh­ren« möch­te.

    Noch ein­mal zur Per­son Sar­ra­zin: Sie in­ter­es­siert mich nicht. Auf Twit­ter gab es ei­ne Dis­kus­si­on, weil ei­ner schrieb, Sar­ra­zin sei ein un­glück­li­cher Mensch. Ein an­de­rer Teil­neh­mer kri­ti­sier­te die­se Äu­ße­rung, er glaubt, dass man das nicht be­ur­tei­len kann, oh­ne den Mann zu ken­nen. Ich fin­de das nicht eh­ren­rüh­rig, ihn auf­grund des­sen, was er bspw. im Ka­pi­tel 2 ge­schrie­ben hat, als un­glück­li­chen Men­schen zu be­zeich­nen. Aber das hat zu­nächst nichts mit dem Ur­teil über das Buch zu tun. Es ist nur in­ter­es­sant, wo es als Lar­moy­anz auf den Text ab­färbt.

  21. @Gregor
    Ein Un­ter­schied zur Ju­gend­spra­che ist, dass die­se auf be­stimm­te so­zia­le Mi­lieus und/oder Al­ters­grup­pen be­schränkt bleibt, ähn­lich wie Fach­spra­chen oder »Bil­dungs­spra­che«. Dem­ge­gen­über sol­len Re­gu­lie­run­gen ja durch die­se Mi­lieus und Grup­pen drin­gen und tun das auch. Wo­mit wir wie­der bei der Wirk­mäch­tig­keit wä­ren. Die Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on spielt hier si­cher­lich ei­ne ent­schei­den­de Rol­le, eben­so ein ent­spre­chen­der po­li­ti­scher Wil­le.

  22. @ gre­gor and @ mys­elf
    Das ist klar: die mo­ra­li­sche An­schär­fung be­glei­tet die Be­grif­fe, einschl. des Pa­ra­do­xons, dass die »fal­schen Be­grif­fe« im­mer wie­der­holt wer­den müs­sen, da­mit die Lek­ti­on sitzt.
    Die Kon­trast­wir­kung, die ich ge­meint ha­be, ist der Um­stand, dass die Tu­gen­dübung PC in ei­ner Öf­fent­lich­keit ge­schieht, die selbst schon ei­nen de-po­li­ti­sie­ren­den/ent-ak­ti­vie­ren­den Cha­rak­ter hat. Ar­gu­men­ta­tio­nen wer­den nur aus­führ­lich auf­ge­baut, wenn es um Ent-Kräf­tung, Ent-geg­nung, Ab-rü­stung, usf. geht. Nietz­sche hät­te uns ein voll­kom­men re-ak­tio­nä­res Zeit­al­ter nach­ge­sagt. Die Kul­ti­vie­rung der Ge­duld und die Idea­li­sie­rung der Zweit-Tat (nach den Be­hör­den, der Eli­te, der NSA, den Ty­coo­nen, etc. ) lässt ei­nen ab­sur­den Kon­trast ent­ste­hen.
    Jetzt mal im Ernst!–Wie re­vo­lu­tio­när ist PC ei­gent­lich?! Stellt mal eu­re »Mess­ge­rä­te« an. Ich ha­be kei­ner­lei An­zei­ge auf dem Dis­play. 0,00
    Ist das noch Po­li­tik?! Oder ist das schon der Ab­spann des »Films«...

  23. @metepsilonem
    Dein Ein­wand stimmt. Die Ju­gend­spra­che ist so­zu­sa­gen mi­lieu­be­dingt; PC soll Uni­ver­sa­li­tät be­an­spru­chen. Aber »So­phies« Ein­wand der »Re-Ak­ti­on« ist durch­aus in­ter­es­sant. Wo bei ich das Re-Agie­ren auch als he­ge­mo­nia­len An­spruch auf die Dis­kurs­ho­heit be­grei­fe, al­so nicht nur pas­siv, son­dern auch ak­tiv. Der »herr­schafts­freie Dis­kurs«, in dem ethi­sche, so­zia­le oder po­li­ti­sche Pro­blem­stel­lun­gen ver­han­delt wer­den sol­len, war aber im­mer ei­ne Schi­mä­re. Es geht nur dar­um, den Teu­fel mit dem Beel­ze­bub aus­zu­trei­ben. Pro­ble­ma­tisch ist, dass man sich dem auf Dau­er schwer ent­zie­hen kann, es sei denn man kauft in An­ti­qua­ria­ten äl­te­re Bü­cher.

  24. @Gregor
    Ganz ge­nau, die Re-Ak­ti­on hat be­reits ei­nen to­ta­li­tä­ren An­spruch, sie kommt nicht mehr nass­forsch son­dern be­reits selbst­si­cher da­her.
    Die Be­herr­schung des öf­fent­li­chen Dis­kur­ses, das in­for­mel­le Kol­le­gi­um der Mei­nungs­kon­trol­le ist ein biss­chen de­pri­mie­rend. Si­cher sy­ste­misch er­klär­bar. Kom­ple­xi­tät raus, Mo­ral rein! Ich will mich auch nicht in der Ver­gan­gen­heit (Bü­cher) ver­krie­chen.
    Üb­ri­gens ist die Ab­hän­gig­keit des am­bi­tio­nier­ten Au­tors von der Öf­fent­lich­keit mal zu klä­ren. Braucht man die Sit­ten­wäch­ter nur zum Ver­kauf, oder gibt es da noch wei­te­re »In­ter­es­sen«?! Ist das evtl die zeit­ge­nös­si­sche Ver­si­on der ewi­gen Fra­ge nach dem Ver­hält­nis von Li­te­ra­tur und Po­li­tik, Li­te­ra­tur und P.C. ??

  25. @Gregor, @die_kalte_Sophie
    Mir war nicht klar wie der »Re­ak­ti­ons­ge­dan­ke« ge­nau ge­meint war (ich bin mir auch jetzt noch nicht si­cher).

    Zu re­agie­ren hat grund­sätz­lich mit dem Da­sein des Bür­gers in ei­ner re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie zu tun: Nicht, dass er da­zu ver­dammt oder es sei­ne al­lei­ni­ge Auf­ga­be wä­re, aber er muss das po­li­ti­sche Ge­sche­hen kom­men­tie­ren, be­wer­ten, dar­über nach­den­ken und bei Wah­len ent­spre­chend han­deln, er ist von Be­ruf we­gen kein po­li­ti­scher Ak­teur (auch wenn er das grund­sätz­lich wer­den kann). Al­le an­de­ren Mög­lich­kei­ten (das Schrei­ben von Ar­ti­keln, Set­zen von In­itia­ti­ven, di­rekt­de­mo­kra­ti­sche Mög­lich­kei­ten) än­dern an die­ser grund­sätz­li­chen Dis­po­si­ti­on nichts — der Bür­ger ist, ne­ben al­lem an­de­ren, auch (!) ein po­li­ti­scher Mensch (man­che mehr und man­che we­ni­ger). Wenn wir kei­ne Zweit­tä­ter sein wol­len, dann soll­ten wir un­ser po­li­ti­sches Sy­stem ent­spre­chend um­ge­stal­ten.

    Dass es – freund­lich aus­ge­drückt – Ten­den­zen zur Ent­po­li­ti­sie­rung gibt, steht au­ßer Zwei­fel; ich glau­be auch, dass der Über­fluss an In­for­ma­tio­nen Re­ak­ti­on und Pas­si­vi­tät för­dert, um­ge­kehrt die Me­di­en aber wie­der »Mög­lich­kei­ten der Ak­ti­on« be­deu­ten (man muss sie frei­lich in die Hand neh­men und vor­her noch: er­ken­nen).

    Das Feh­len von Ar­gu­men­ten, die Mo­ra­li­sie­rung des Dis­kur­ses und ver­wand­te Phä­no­me­ne ha­ben mit dem Stre­ben nach He­ge­mo­nie zu tun (mög­lichst rasch, wirk­sam und un­ter ge­rin­gem Auf­wand), Re­ak­tio­nen, auch man­che auf das be­haup­te­te oder tat­säch­li­che Vor­lie­gen von (wie auch im­mer de­fi­nier­ter) p.c., eben­so. Nur Ar­gu­men­te las­sen ein Prü­fung zu, in­wie­weit der An­spruch auf die Lö­sung ei­nes Pro­blems (und da­mit auch wie­der ei­ner Art He­ge­mo­nie) ge­recht­fer­tigt ist. — Man darf sich auch nicht der Il­lu­si­on hin­ge­ben, dass Ar­gu­men­te im­mer ei­ne Lö­sung dar­stel­len, sehr oft wird man sich mit Ab­schät­zun­gen zu­frie­den ge­ben müs­sen, dem Bauch­ge­fühl oder an­de­rem (man kennt die Zu­kunft eben nicht).

    Der herr­schafts­freie Dis­kurs ist ein Ide­al­zu­stand, den es nicht gibt, je­den­falls ver­ste­he ich den Be­griff so; aber Dis­kurs­räu­me wer­den in De­mo­kra­tien be­nö­tigt (in­klu­si­ve der Mög­lich­keit ein­sei­ti­ge In­ter­es­sens­durch­set­zung auf­zei­gen zu kön­nen).

    Was hat das Re­agie­ren mit To­ta­li­tät zu tun? Oder ist Re­ak­ti­on hier rein po­li­tisch ge­meint (und selbst dann: stimmt das un­be­dingt?)?

  26. Wenn der herr­schafts­freie Dis­kurs ein un­er­reich­ba­rer, nur in der Theo­rie exi­sten­ter Zu­stand ist, dann ist die Theo­rie, die ihn als Grund­vor­aus­set­zung hat, nur noch Re­li­gi­on.

    Viel­leicht soll­te man das mit der »To­ta­li­tät« an­ders for­mu­lie­ren. Tat­sa­che ist, dass je­de Äu­ße­rung in ei­nem Dis­kurs den An­spruch der Wahr­heit be­sitzt, in sich al­so »to­ta­li­tär« ist. Das ist aber na­tür­lich das fal­sche Wort. To­ta­li­tät oder, bes­ser, au­to­ri­tär, wird es erst, wenn das Ar­gu­ment als Glau­bens­satz for­mu­liert und als sa­kro­sankt de­fi­niert wird. Dann »darf« Ma­tus­sek nicht »ho­mo­phob« sein (was ja zu­nächst ein­mal nur be­deu­tet, dass er ei­ne ir­ra­tio­na­le Angst vor Ho­mo­se­xu­el­len hat [eben ei­ne Pho­bie]; sein Text geht dann wei­ter und glei­tet in ei­ne Ru­bri­zie­rung ab) und dann »darf« Sar­ra­zin auch nicht über Mei­nungs­frei­heit re­den – wie ja un­längst ge­sche­hen: Das ist na­tür­lich pa­ra­dox, aber von den Ver­tei­di­gern der Stö­rung der Buch­prä­sen­ta­ti­on wird das ver­tei­digt (un­ter ih­nen auch Schrift­stel­ler, die sonst bei je­dem Schiss für Plu­rai­tät sind). War­um soll aber Le­witschar­off kei­ne christ­li­che Fun­da­men­ta­li­stin sein dür­fen? (Über­gang zum an­de­ren Th­read?)

  27. Für mei­nen Teil ver­ste­he ich den herr­schafts­frei­en Dis­kurs als ein Ide­al, dem man sich nä­hern soll­te, wenn man ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung an­strebt in der pri­mär Ar­gu­men­te Gel­tung ha­ben (mög­li­cher­wei­se wird das von den Schöp­fern des Be­griffs an­ders ge­se­hen).

    Die Vor­aus­set­zung für ei­nen Dis­kurs ist na­tür­lich et­was Wah­res, Rich­ti­ges oder gut Be­leg­tes zu ver­tre­ten (man führt da­für Ar­gu­men­te an), zu­gleich muss man aber be­reit sein, den an­de­ren zu­zu­ge­ste­hen, zu­min­dest for­mal Recht ha­ben zu kön­nen (was den Wan­del der ei­ge­nen Po­si­ti­on ein­schließt). Aus die­ser Am­bi­va­lenz her­aus ist der Dis­kurs not­wen­dig und be­grün­det und des­we­gen wird er ge­führt. Al­les an­de­re sind Ver­su­che In­ter­es­sen durch­zu­set­zen und an­de­re zu über­zeu­gen: Auch des­halb fin­de ich das Kon­zept des herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses wich­tig, weil er ei­nen Ver­gleich mit der Rea­li­tät er­mög­licht. — Die Bei­spie­le die Du an­führst sind na­tür­lich das Ge­gen­teil da­von.

    Man könn­te auch sa­gen, dass der herr­schafts­freie Dis­kurs nur ei­ne Form von Herr­schaft zu­lässt, näm­lich die des Ar­gu­ments (was dann von al­len Be­tei­lig­ten nach­voll­zo­gen wer­den kann). Und na­tür­lich sind Ar­gu­men­te nicht die ein­zi­ge Vor­aus­set­zung, ich wür­de so­gar sa­gen, dass der (weit­ge­hend oder rea­li­sier­te) »herr­schafts­freie Dis­kurs« ir­ra­tio­nal be­grün­det ist (ähn­lich wie es kei­ne zwin­gen­den Ar­gu­men­te dem Amo­ra­lis­mus ge­gen­über gibt).

    Von mir aus kann Le­witschar­off ei­ne fun­da­men­ta­li­sti­sche Po­si­ti­on ver­tre­ten, pro­ble­ma­tisch wird das al­ler­dings, wenn die­se an­de­ren ok­troy­iert wer­den soll (der Grat ist sehr schmal).

  28. Na­ja, der herr­schafts­freie Dis­kurs ist ja auch die Prä­mis­se für Apels/Habermas’ Dis­kurs­ethik. Er ist die Ba­sis, da­mit im Dis­kurs po­li­ti­sche, ge­sell­schaft­li­che und wirt­schaft­li­che Fra­gen so­zu­sa­gen »ver­han­delt« wer­den. Das Bei­spiel da­für könn­te man fast pa­ra­do­xer­wei­se ein EU-Gre­mi­um nen­nen, in dem dies an­ge­legt ist: der Eu­ro­päi­sche Rat. Hier ist Kon­sens so­zu­sa­gen un­ab­ding­lich, wo­bei die »Herr­schafts­frei­heit« na­tür­lich auch nur theo­re­tisch ist.

  29. Ich wür­de sa­gen: Je emo­tio­na­ler und exi­sten­zi­el­ler wir ei­ner Po­si­ti­on ver­bun­den sind, de­sto eher wer­den wir im Sin­ne von Herr­schaft agie­ren und den Dis­kurs (auch) an­ders zu len­ken ver­su­chen (des­halb wird die Herr­schafts­frei­heit auch im­mer ein Ide­al blei­ben).