Thilo Sarrazin wird im September 2012 in einem »Spiegel«-Interview indirekt des Rassismus beschuldigt. Diesen Vorwurf will er nicht auf sich sitzen lassen und schreibt daher einen Brief an die Redaktion mit der Bitte um Richtigstellung (was natürlich eine erneute Diskussion um seine Thesen zur Folge hätte) oder Entschuldigung. Der Redakteur antwortet elaboriert und, sofern das Zitat korrekt wiedergegeben wurde, mit hörbarer Freude: Die Aussagen aus dem Buch »Deutschland schafft sich ab« seien lediglich »pointiert zusammengefasst« worden; eine Korrektur lehnt er ab.
Diese Antwort sei für ihn der Grund gewesen, das vorliegende Buch »Der neue Tugendterror« zu schreiben, so Sarrazin. Das bedeutet umgekehrt: Hätte der »Spiegel« – immerhin eines der beiden Medien, die aus dem kontrovers diskutierten Buch einen für den Autor sicherlich in mehrfacher Hinsicht lohnenden Vorabdruck vorgenommen hatten (was er scheinbar vergessen hat, da er laufend den »Spiegel« ob seiner Einseitigkeit attackiert) – einfach nur Sarrazins Leserbrief abgedruckt, wäre der Leserschaft das neue Buch erspart geblieben.
Und das wäre nicht das Schlechteste gewesen. Denn tatsächlich bietet Sarrazin rein gar nichts Neues. Es gibt keinen frischen Gedanken zum medialen Phänomen der Verschlagwortung von Sachverhalten. Nichts über den Populismus der Medien, die selber jedem Vereinfacher Populismus attestieren. Die zahlreichen Versuche mit paternalistischen Sprachregelungen einen Uniformismus zu erzeugen, werden vom Autor bejammert statt analysiert. In einem separaten Kapitel von fast 70 der rund 400 Seiten listet Sarrazin akribisch die Rezeption seines »Deutschland schafft sich ab«-Buches auf. Die Überraschungen, die da zu Tage kommen, halten sich in Grenzen: Mehrheitlich hätten sich Leute über das Buch geäußert, die es nicht bzw. nicht zur Gänze gelesen hätten. Das ist nun wirklich keine Überraschung sondern bedauerlicherweise gängige Praxis im Erregungsspiel der Medien. Sarrazin trennt aber nicht zwischen argumentativer Auseinandersetzung mit seinem Buch (die es ja durchaus auch gegeben hat) und den Affekten der Nicht- bzw. Halbleser, die sich auf Zweit- und Drittverwerter verlassen und hieraus ihr Urteil destilliert hatten (auch dies längst gängige Praxis). Letzteres hätte Sarrazin auch einfach ignorieren können. Stattdessen geriert er sich als Geschädigter, spielt den Überraschten, wobei er doch spätestens nach den Reaktionen auf sein »Lettre«-Interview hätte gewappnet sein müssen.
Immerhin deutet er in seiner Einleitung an, dass der geneigte Leser dieses Kapitel überspringen könne. Dann hätte man allerdings die Breitseite gegen SPD-Chef Gabriel verpasst. Im weiteren Verlauf des Buches kommt Sarrazin trotzdem immer wieder auf die ihm vermeintlich entgegengebrachten Ungerechtigkeiten zu sprechen. Mit dem Untertitel »Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland« wird suggeriert, dass der Millionenseller in irgendeiner Klitsche in einem Drittweltland hätte gedruckt werden müssen und der Vertrieb nur unter Lebensgefahr unter der Ladentheke möglich war. Zwar erwähnt er seine Talkshow-Auftritte im Fernsehen und berichtet von seinen scheinbar zahlreichen Lesereisen – aber dies hält ihn nicht davon ab, sich als Leidtragender zu inszenieren.
Die Mehrheit der Journalisten stünden dem linksliberalen Milieu nahe. Bereits seit 1976 sei dies der Fall, so zitiert er eine Statistik, die auf Befragungen einzelner beruht (ohne dass man die Kriterien für die Auswahl erfährt). Ob es mit dem viel zitierten Marsch durch die Institutionen der 68er zu tun hatte, der damals begann und sich als Gegengewicht zum dominierenden reaktionär-restaurativen Springer-Journalismus entwickelte? Auf diese Idee kommt Sarrazin erst gar nicht. Und wie dies dann damit korrespondiert, dass es die versammelte »Meinungsoligarchie« beispielsweise zwischen 1982 und 1998 nicht geschafft hat, die ungeliebte Kohl-Regierung wegzuschreiben und wie es denn möglich ist, dass Angela Merkel trotzdem die letzte Bundestagswahl gewonnen hat – diese Fragen stellt er nicht einmal, weil sie nicht zu seinen Thesen passen. Er, der von Oriana Fallacis demagogischem Antiislambuch »Die Wut und der Stolz« unverhohlen schwärmt und die Hysterien der Medien geisselt, betreibt nichts anderes als billige Affekte zu erzeugen, in dem er beispielsweise mit seinem haltlosen Schluss, die »Meinung der Mehrheit des Volkes« sei nicht mehr »entscheidend«, subkutan Ängste in die Gesellschaft injizieren möchte. Zwar gibt es eine Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung, und es gibt durchaus Tendenzen zu Gleichschaltungen in den Medien, aber diese zu untersuchen und zu bewerten unterlässt er. Stattdessen referiert er Noelle-Neumanns »Schweigespirale«.
Schleichend kommt er im weiteren Verlauf des Buches zum titelgebenden »Tugendterror«. Im letzten Kapitel (mit fast 120 Seiten dem längsten) listet er dann »vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart« auf. Es erfolgt also eine gewisse rhetorische Abrüstung – aus »Terror« wird »Wahn«. In kursiver Setzung gibt er zunächst den jeweiligen linksintellektuellen Mainstream wieder (durchaus verzerrend; manchmal macht man es sich selbst dort nicht ganz so einfach, wie Sarrazin es suggeriert) – es geht u. a. um Gleichheit, Familie, Migration, Integration, sprachlich geglättete Kinderbücher (dabei aber nicht um Literatur), Nationalstaat -, um dann in einer Art Erwiderung mit seinem (teilweise empirisch gestützten) Weltbild zu antworten.
Dieses letzte Kapitel ist in seiner biederen Pseudo-Dialektik, die zuweilen in Oberlehrerattitüden münden, arg ermüdend, zumal alle seine wesentlichen Einwände entweder in den vorhergegangenen Kapiteln bereits abgehandelt wurden oder einfach nur Thesen aus seinem »Deutschland schafft sich ab«-Buch repliziert werden.
Dabei ist die Grundthese des Buches durchaus diskutabel. Sie lautet, dass sich in der Gesellschaft – medial befördert – ein »ideologisch geprägtes universalistisches Gleichheitsgebot« breitmacht, »das jede Differenzierung als ideologisch verdächtig und tendenziell menschenfeindlich brandmarken möchte«. Dies nennt er wahlweise und arg reduktionistisch entweder politische Korrektheit, Tugendterror oder Meinungsherrschaft. Statt nun die »Meinungsherrschaft« in Bezug auf Legitimität zu untersuchen (Habermas!) und diese Sprachspiele und deren durchaus interessante, informelle Regeln (die zum Teil durchaus widersprüchlich sind) herauszuarbeiten, bricht Sarrazin immer nur in Tränen aus. Auch die bis in die Privatsphäre hineinreichende Moralisierung bestimmter Lebens- und Verhaltensweisen (Ernährung, Sorge um die Gesundheit, Kleidung) wird bei ihm pauschal unter »Tugendterror« abgehandelt. So erfährt man nichts darüber, welche Sehnsüchte nach Gemeinschaft beispielsweise hinter der neuen Tugendhaftigkeit sichtbar werden könnten und was sie mit den von ihm so vehement vertretenen »Sekundärtugenden« zu tun haben könnten.
Dort wo Sarrazin sich mit Sprache auseinandersetzt, wird es peinlich. Ernsthaft stellt er die These auf, dass sprachliche Begriffe mehr oder weniger wertungslos sind. So hätte das Wort »Neger« keine »pejorativen Anklänge« gehabt. »Benennungen sind…nur Benennungen, sie gestalten keine Wirklichkeit«, so Sarrazin bilanzierend. Das ist natürlich Unsinn, weil gerade »Neger« vom Kolonialismus an bewusst herabsetzend verwendet wurde. Auch Sarrazins Einwand, dass das Wort »Jude«, von den Nazis diffamierend gebraucht, die Juden nicht davon abgehalten habe, es für sich zu verwenden, spricht nicht für seine Neutralitätsthese. Eher dafür, dass man missbrauchte, negativ kontaminierte Begriffe durchaus wieder »zurückverwandeln« könnte, dies jedoch zumeist unerwünscht ist und – hierüber könnte man tatsächlich diskutieren – als pauschale Verunglimpfungsabsicht angesehen wird . Aber die wertenden Konnotationen von Wörtern und Begriffen, die gezielt zu Herabsetzungen (selten auch Heroisierungen) bestimmter Gruppen dienen, zu leugnen, ist schlicht unseriös.
Spätestens hier, auf Seite 163, hätte man eigentlich die Lektüre abbrechen können; ich habe trotzdem bis zum Schluss durchgehalten. Der Leseertrag wiegt die verschwendete Lebenszeit kaum auf. Ein gutes Zitat von Pörksen oder ein Maron-Anti-PC-Aphorismus – das tröstet über die Oberflächlichkeit und den sprachlich schlechten Stil nicht hinweg.
Dabei ist Sarrazin denjenigen, die er so vehement kritisiert, näher als man zunächst denkt. Tatsächlich inszenieren sich beide Seiten allzu gerne als Opfer. Wo Sarrazin glaubt, die sogenannte schweigende Mehrheit hinter sich zu haben, pochen die von ihm angegriffenen Gleichheits- und Korrektheitsapologeten auf einen Minderheitenstatus, der jegliche auch noch so kleine Differenz sofort als Diskriminierung diffamieren muss, schon alleine um wahrgenommen zu werden. Den Versuch, Diskurse hegemonial zu unterwandern und Vorabbedingungen zu manifestieren, ist auf beiden Seiten virulent. Schließlich reklamiert jeder einen absolutistischen Anspruch auf den ultimativen Besitz der Wahrheit, die in paternalistischem Furor die Gegenseite dämonisiert.
Sarrazin hat nicht begriffen, dass es auf Statistiken nicht ankommt, wenn Diskurse fast nur noch moralisierend geführt werden. Sein zweiter Irrtum ist zu glauben, dass dies jemals anders war. Politische Entscheidungen wurden und werden nur ganz selten aufgrund empirischer Fakten rational getroffen. Stattdessen spiegeln sich ihnen immer die jeweils gültigen und sich verändernden Moralvorstellungen der Zeit. Sarrazin versucht nun verzweifelt ein Weltbild zu erhalten, das sich womöglich nicht mehr durchsetzen lässt, weil die Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft andere geworden sind als zu seiner aktiven politischen Zeit. Das macht sein Vorhaben allerdings noch nicht per se ehrenrührig; man muss seinen Thesen nicht zustimmen, aber aushalten und diskutieren sollte man sie um sich nicht gemein zu machen mit denen, die man ablehnt.
Als Gegengift zu Sarrazins Jeremiade bietet sich ein vor zwei Jahren im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch an: »In Anführungszeichen – Glanz und Elend der Political Correctness«. Geschrieben wurde es von Matthias Dusini und Thomas Edlinger. Die mit zum Teil absurden Anglizismen versetzte Sprache ist flott, feuilletonistisch und teilweise ironisch. Gelegentlich gibt es Satzungeheuer, die irgendwann im Unverständlichkeits-Nirwana ihrer angestrengten Originalität verdursten; man liest über sie mit der Gnade des späten Verstehens hinweg.
Auch hier findet keine auch nur halbwegs wissenschaftliche Erörterung statt. Anhand popkultureller Ereignisse (Fernsehserien, Videofilme) werden einzelne Phänomene beschrieben und gedeutet. Die Autoren leugnen die Political Correctness nicht, sie finden sie sogar einigermaßen in Ordnung. »Der knarzende Ausdruck der politischen Korrektheit ist eine Begriffskrücke für eine Tugend ohne Gott. Sie beschreibt die Erziehungsversuche einer antiautoritären Gesellschaft in der unverbesserlichen Hoffnung, dass aus freieren Menschen auch bessere Bürgerinnen werden. Narziss ist der gute und der böse Geist der Demokratie. Ohne ihn können wir nicht mehr. Mit ihm könnte die Welt besser, könnten die Anführungszeichen weniger werden. Wenn alles gutgeht, dann folgt auf Narziss der Kommunismus der Achtung: ein säkularer Narzissmus, der kein göttliches Selbst mehr braucht«, so bilanzieren die beiden Autoren.
Aber was ist, wenn man nicht erzogen werden möchte, weil man Indoktrinationen – auch die der vermeintlich »guten Sache« – generell nicht vereinbar findet in einer offenen Gesellschaft? Und wie ist dieser zum Teil religiöse, am Ende jakobinische Eifer in dieser scheinbar säkularen Gesellschaft zu erklären? Und was ist, wenn das Weltverbesserertum sich womöglich noch in das Bürgertum des 40jährigen CDU-Wählers hineinmissionieren lässt, aber schon ein paar Straßenzüge weiter auf Kopfschütteln stösst, etwa wenn sich muslimische Mädchen und Frauen völlig überraschend nicht durch ein Kopftuch diskriminiert fühlen oder Homosexuelle es vorziehen, kein öffentliches Outing zu betreiben?
Zuweilen werden die extremen Ausprägungen der politischen Korrektheiten karikiert und deren Instrumentalisierung angedeutet. Im zweiten Teil wird den beiden österreichischen Autoren Freund zum Universalerklärer für nahezu alle PC-Erscheinungen. Mit dem 40seitigen »Glossar der politischen Korrektheit« am Ende des Bandes gleitet das Buch dann in vollends unernste Gewässer ab, was nicht bedeutet, dass es gerade dort eine Fülle herrlicher Sentenzen gibt. So ist zum Beispiel der reichlich strapazierte Begriff des für PC-Phänomene verantwortlichen Ich-Ideals wie folgt umschrieben: »Eine immer wichtiger werdende Instanz der Seelenökonomie, die die Dominanz des Über-Ich gebrochen hat. Als internalisiertes Standgericht der PC-Subjekte beschäftigt es sich nicht mit dem Gesetz des Vaters, sondern mit dem Vermögen seiner Kinder. Bei schwerwiegenden Verstößen gegen das oberste Gebot moralisch verträglicher Selbstachtung drohen die Strafen Burn-out und Depression. Bei Freispruch winken Karrieresprünge und sportliche Rekorde.« Mein persönlicher Favorit ist die Eintragung unter Schweden. Sie lautet knapp: »Das Saudi-Arabien der PC«.
Sarrazin inthronisiert sich ungefragt als Oberhaupt eines Kampfes gegen PC-Wahn und Tugendterror. Abermals verkleistert er mit seinen stereotypen Parolen eine notwendige Diskussion. Wer zum Thema PC Stoff zum Nachdenken haben möchte, ist bei allem Schmäh von Dusini und Edlinger mit ihrem Gegengift durchaus gut bedient. Er/Sie kann das Gift dann beruhigt stehenlassen.
Kompliment für die Leseleistung.
Habe ein Scheitern der Analyse bei S. schon erwartet, er kennt keine soziologischen Techniken.
Sehr gut dein Einwand: warum hat die »Eroberung der Redaktionsstuben« nicht zu einer Abwahl Kohl’s geführt, bzw. wie soll man die friedliche Koexistenz des »linken Mainstream« und Kanzlerin Merkel erklären?!?!
Hier sehe ich das eigentliche Phänomen, die Aufteilung der Sphären. Majorität und Minorität bestehen nebeneinander, ohne sich ernsthaft auseinander setzen zu müssen. Die mediale Verarbeitung des Politischen ist nur lose an die Tätigkeit der Regierung geknüpft. Ist das nicht fabelhaft, ist das nicht die »völlig unerwartete Lösung des demokratischen Dilemmas«? Herrschaft für alle gleichzeitig?
Der Spiegel hat pflichtbewusst einen seiner Redakteure auf die Buchlesung von und mit TS geschickt (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/thilo-sarrazin-praesentiert-neues-buch-in-berlin-a-955343.html). Sehr schön für mich der Satz:
...im ersten Satz konstatieren, dass man in diesem Land nicht mehr sagen dürfe, was Sache ist. Und im zweiten Satz dann genau diese Sachen sagen – ohne den Widerspruch zu bemerken.
Oder mein Lieblingszitat:
Thilo Sarrazin ist höchstwahrscheinlich so schlau, dass er sogar eine Schachpartie gegen sich selbst gewinnen könnte.
Dass du dir so ein Buch antust...
@Köppnick
Naja, das ist die typische Spiegel-Schreibe, die mich nur noch langweilt. Gerade der Spiegel hat ja beim »Deutschland schafft sich ab«-Buch mit Bild den Schwanz von Sarrazin gehalten – um ihn dann ganz schnell voller gespielten Ekel loszulassen.
Das Buch habe ich gelesen, weil mich das PC-Phänomen schon interessiert. Aber Sarrazin ist intellektuell einfach nicht in der Lage, hier Akzente zu setzen die jenseits des beschriebenen Herumjammerns liegen. Mich würde speziell Deine Meinung zum (etwas älteren) Buch von Dusini/Edlinger interessieren.
@die_kalte_sophie
Man kann vielleicht wirklich von Parallelwelten sprechen, die allerdings schwer miteinander ins Reden kommen, sondern gleich die dem anderen zugeschriebenen Unterstellungen kommentieren. Das macht Sarrazin genau so wie seine Gegner und ist nicht sehr fruchtbar. Es kann, um dann mal Gadamer zu zitieren, kein Gespräch aufkommen, weil jeder von vornherein ausschliesst, das der andere auch einmal recht haben könnte.
Daher sehe ich das inzwischen als Sprachspiele an, die allerdings – wiederum auf beiden Seiten – unablässig die Wahrheit für sich beanspruchen. Öffentliche und veröffentlichte Meinung und Empfindungen divergieren immer stärker.
»Die Mehrheit der Journalisten stünden dem linksliberalen Milieu nahe. «
Mmmm, sollte ihn das denn nicht eigentlich freuen? Immerhin ist er angeblich »Sozialdemokrat«? Auf welche Weise passt irgendetwas das Sarrazin an »Thesen« aus dem Mund fällt zu einer Mitgliedschaft in der SPD? Oder noch schlimmer, passt das vielleicht wirklich alles wie die Faust aufs Auge?
@Dolph
Sarrazin war wohl immer eher im bürgerlichen SPD Lager (Dohnanyi; Rau; Seeheimer Kreis) zu Hause. Die Hinwendung zu den Grünen, die die SPD schleichend Mitte der 80er vollzog, da sie (1.) erkannten, dass es sich nicht um ein Strohfeuer handelte und (2.) dadurch ihre Machtoption wieder gewinnen wollte (was dann bis 1998 dauerte), hat Sarrazin nie mitgemacht. Er brauchte sie auch nicht ideologisch nach zu vollziehen, da seine Ämter zumeist jenseits politischer Visionen lagen.
Ich glaube übrigens nicht, dass eine Partei dadurch Stärke beweist, in dem sie Mitglieder, die ihnen nicht passen, einfach rauswirft. Die Frage ist nur, ob man solchen Mitgliedern Funktionen gibt. Das ist bei ihm nicht der Fall. Ich sehe es auch höchst problematisch, jemanden wie Edathy rauszuschmeissen. Aber das ist ein anderes Thema.
Mich hätte ein positiver Kommentar über Sarrazins niedergeschriebene Gedanken tatsächlich verwirrt. Schließlich ist Sarrazin böse, weiß man ja. Und alles was er von sich gibt, ist natürlich auch böse, wissen wir ja alle. Also kann ein neues Buch nur unlogisch, dumm, stilistisch bodenlos, inhaltlich belanglos, andere herabwürdigend und den Autor selbst erhöhend sein. So erwartete ich die Rezensionen der Besserwissenden, die sich ja immer hinterfragen und ergebnisoffen Sarrazins geistige Ergüsse analysieren und mit genügend emotionalen Abstand in der Folge sachlich bewerten.
Warum gibt es eigentlich mehr als eine Million verkaufter Exemplare des ach so dummen Buchs »Deutschland schafft sich ab«? Warum werde ich immer wieder – hinter vorgehaltener Hand – von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten angesprochen, dass der böse Herr Sarrazin »schon manchmal recht hat«? Sind das mehr als eine Million Vollidioten? Dann dürften wir (Besserwissenden) uns natürlich über sie stellen und sie mit ausgefeilter Sprache und inhaltlicher Stringenz all die Gedankengebäude Sarrazins mit dem Arsch einreißen. Sie – die dumme Million Leser – braucht uns (Besserwissenden) ohne Frage, damit wir denen Mal das »Gift« erklären, das Sarrazin verabreicht. Und das Gegengift bieten wir (Besserwissenden) gleich noch mit an. Schließlich sind wir gut – im Gegensatz zu Sarrazin, der ja böse ist (hoffentlich hat es jetzt der letzte verstanden).
Jetzt muss ich tatsächlich wieder los und mir Sarrazins neues Unwerk holen, damit ich mir erneut selbst ein Bild machen kann. Wie beim letzten Mal, als ich mich wunderte, mit welchem Aufwand an Recherche Sarrazin seine Thesen belegte. Thesen, die ich zum großen Teil so nicht annehmen wollte, die aber für eine echte Diskussion zuerst einmal ein Fundament an Daten benötigte, damit meine Antithese eben mindestens so wertvoll sein konnte, wie Sarrazins These, die er eben belegen konnte. Und ja, das ist schwieriger, als dem bösen Sarrazin noch eine mitzugeben, getreu dem Motto »Habe ein Scheitern der Analyse bei S. schon erwartet...«. Das ist genau das Gegenteil von demokratisch-toleranten Auseinandersetzungen. Das ist die Form, die man in seinem neuen Unwerk schon aus der Überschrift erkennen kann.
Tretet doch alle mal einen Schritt zurück, vergesst Name und Gesicht des Autors und setzt Euch dann in aller Ruhe mit den Thesen auseinander. Stellt Eure Gegenposition dar und Ihr werdet sehen, man muss nicht Sarrazins Meinung sein. Man muss den alten Mann aber auch nicht persönlich vernichten. Vielleicht lernt der ein oder andere (Sarrazin, Ihr, ich) sogar noch etwas dabei...
@Lauris Mauris
Ich weiss nicht, warum Sie Ihre Frustration bei mir abladen. Ich nannte Sarrazin 2010 den Messias der Mittelschicht und habe versucht, seine Intentionen und auch seinen Erfolg zu erforschen. Sein Euro-Buch 2012 war – wenn man berücksichtigt, dass er von der Materie etwas versteht – schon ziemlich enttäuschend; es war eine eklektische Ansammlung diverser Zeitungsartikel, die seine skeptische Sicht auf den Euro teilten, die mit unzähligen, zum Teil selbst angelegten und fortgeschriebenen Statistiken garniert wurden. Und jetzt sein Buch über PC und Tugendwahn, das tatsächlich nichts Neues bringt und das Altbekannte nur um seine Jeremiade über die Rezeption seines Buches von 2010 erweitert.
Wo Sie in meinem Text den Wunsch zur Vernichtung der Person T.S. sehen, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht ist es nur eine Art Rundschreiben, dass Sie allen Texten über Sarrazin ankleben. Wie wäre es eigentlich, wenn Sie sich mal mit seinen Thesen auseinandersetzen würden?
Zwei m.E. interessante Texte zur »politischen Korrektheit«, wobei in ersterem auch das von Ihnen rezensierte Buch von Dusini/Edlinger angesprochen wird. Den zweiten Text, bei dem es sich um ein Interview von Patrick Schreiner mit Marc Fabian Erdl handelt, halte ich allerdings für den aufschlussreicheren.
Zitat freitag.de / Matthias Dell, Marc Fabian Erdl – Schießen Sie nicht auf den Pappkameraden:
»Wer „PC“ tatsächlich verstehen will, der muss das Gegenteil von Dusini/Edlinger tun – und den Unsinn auseinanderklamüsern, der in dem Begriff unhinterfragt verklumpt. Um zu begreifen, warum die Legende von der „Politischen Korrektheit/Inkorrektheit“ so attraktiv und erfolgreich ist, muss man ein wenig ausholen.
Den Zeitpunkt, als „PC“ in die weite Welt kommt, kann man relativ exakt bestimmen. Vor 1990 sucht man den Begriff „Politische Korrektheit“ in Pressedatenbanken vergeblich. Das Ergebnis ist: null. Im Laufe des Jahres 1990 ändert sich das ... «
http://www.freitag.de/autoren/mdell/schiessen-sie-nicht-auf-den-pappkameraden
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Marc Fabian Erdl: “Noch vor dem ersten Widerwort eine Verfolgung herbeizulügen”
http://www.annotazioni.de/post/1084
Es gibt seit geraumer Zeit den Hang zur Sprachregulierung. Das läuft natürlich auf einer informellen Ebene ab und nicht »allgemeingültig kodifiziert«, wobei eine Allgemeingültigkeit natürlich angestrebt wird. Das zu leugnen, ist schlichtweg unseriös. Die Frage ist nur, inwiefern es nicht Sprachspiele sind, die durch ihre moralische Aufladung erst zu dieser Bedeutung kommen, in dem sie »richtig« und »falsch« bestimmen (wie es ja auch im »Freitag«-Text steht). »Richtig« und »falsch« sind aber keine moralischen Kategorien sondern Zuweisungen, die sich im Konsens bilden müssen. Und nicht per Dekret. Aber das steht ja alles in den Kommentaren zum »Freitag«.
Wer liest heutzutage schon ein Buch ganz durch – außer Gregor Keuschnig?
Lohnt es sich, das Buch zu kaufen? Und zu lesen?
Sie Dummerchen lesen ja augenscheinlich noch nicht einmal diesen Text.
Eine Besprechung in der Presse (Du warst da kritischer, scheint mir...).
@Gregor Keuschnig
Lieber Gregor Keuschnig,
bin ich frustriert? Im Gegenteil. Texte wie Ihrer und die folgenden Anmerkungen sind für meinen Job das Salz in der Suppe, die Butter auf dem Brot und die Wärme an kalten Tagen. So meinte ich das Ihr in der Klammer des letzten Satzes nicht als Pluralis Majestatis für den Autoren, also Sie, sondern für uns alle. Mein Job ist es Menschen aufzuzeigen, wie sie mit Manipulationstechniken umgehen, diese erkennen und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Der Umgang vieler Kritiker mit Sarrazin ist höchst unehrlich und vor allem bei den vielen Nichtlesern seiner Bücher mit der Erniedrigung seiner Person einhergehend. So muss man sich nicht mit den Inhalten auseinandersetzen. Sie, lieber Herr Keuschnig, lesen und deuten Sarrazin. Allerdings geben Sie keiner seiner Thesen eine Chance, weil er in der Gesamtheit für Sie negativ befrachtet ist. Sie nehmen Teile seiner Aussagen, kritisieren Sie vielleicht sogar zurecht, unterlegen diese Kritik des fehlenden Inhalts eben auch mit »stilistischen« Bewertungen und kommen so zu einem eindeutigen Ergebnis.
Nun erwarten Sie zurecht von mir eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen. Dies tue ich mehrmals im Monat in meinen Seminaren. Und so fehlt mir leider die Zeit allen Texten Sarrazins ein Rundschreiben anzukleben. Ihre persönlichen Einlassungen, Herr Keuschnig, waren es mir aber wert, einen Perspektivenwechsel zu versuchen. Vielleicht lernen wir wirklich noch alle davon uns miteinander auseinander zu setzen. Eben auch ein T.S., dessen Aussagen zu so vielen Themen – vom Euro bis zur Genetik – offensichtlich Widerspruch suchen. Dies bekommt er auch von mir. Aber eben inhaltlich, Punkt für Punkt, ohne ihm mangelnden Stil oder fehlende Tiefe vorzuwerfen. Aber bitte, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich fände es schade, wenn Sie Ihre Rezension so nicht schreiben würden.
Würde man das Erschlagwort »political correct« gekonnter ins Deutsche übersetzen, dann käme man wohl eher zu dem Adjektiv »zivilisiert«. »Politische Korrektheit« im deutschen Sinne könnte in seiner extremsten Ausprägung auch als »Hundsfötterei« gegenüber der politischen Klasse einer Nation ausgelegt werden. Diese liefe in den Vereinigten Staaten auf eine Anbiederung gegenüber dem US-Faschismus samt Medienapparat hinaus. In Deutschland wäre das hingegen grosso modo eine Anbiederung bei der Sozialdemokratie i. w. S. samt der dazu passenden Medienlandschaft. Da beißt sich nun mal die Maus keinen Faden ab, denn der Bundestag konstituiert sich aktuell aus vier (oder fünf?) sozialdemokratischen Parteien: a) Die nachwievor gemächlich vor sich hinschrödernde SPD, an die sich jederzeit die Grünen wie die Linken liebend gerne anlehnen würden. b) Die Merkelsche CDU mit ihrem dackelhaften CSU-Anhängsel.
Was jedoch aus den Vereinigten Staaten seinerzeit als »political correctness« über den Atlantik zu uns herüberschwappte, basiert auf nichts anderem als auf zeitgeistigen Elaboraten eines gegenüber zwei die Union faschismushaft dominierenden Parteien verlogenem und sich anbiederndem Establishment, läßt sich daher begrifflich als eben jene unzivilisierte politische Korrektheit ausmachen. Welche Mutationen oder Verwerfungen dieses Stück politischen Zeitgeistes durchgemacht hat: Dies zu beschreiben, führte wiederum zu einem ergänzenden Kapitel.
All das läßt sich nach Strich und Faden verrupfen, was Sarrazin auf seine Weise wohl versucht hat. Wie effektiv das jedoch bewerkstelligt werden könnte, läßt sich erdenken. Leider haben sich bis heute nur wenige an diese Aufgabe herangewagt. Kurzum: Viel zu wenig passiert!
CQ (DD)
@Lauris Mauris
Da hab ich ja noch mal Glück gehabt, dass ich so schreiben darf, wie ich schreibe...
Ernsthaft: Sarrazin stellt keine Thesen auf, die jenseits einer längst bekannten Diagnostik jedem einigermaßen bekannt vorkommen. Er geht sogar hinter diesem Wissenstand zurück und setzt sich – das habe ich geschrieben – auf 70 der 400 Seiten mit der Rezeption seines Buches und seinen Kränkungen auseinander. Wenn Sarrazin seinen Kritikern vorwirft, Persönliches und Sachliches miteinander zu verquicken, dann macht er das in dieser unsäglichen Jeremiade auch. Er beklagt die Einengung der Meinungsfreiheit – und das bei zwei oder drei Talkshowauftritten und 1,5 Millionen verkaufter Exemplare. Im letzten Kapitel subsummiert er die vermeintlichen Thesen des linksintellektuellen Milieus und macht das, was er den Kritikern seines Buches vorwirft: Er überzeichnet, verzerrt und vereinfacht. Und man muss auch etwas zum schlechten sprachlichen Stil schreiben dürfen, wenn er schlecht schreibt. Sarrazin ist ein Buchhalter, ohne Sprache, hölzern. Und dabei habe ich seine sachlichen Fehler noch gar nicht aufgeführt.
Sarrazin macht sich gar nicht erst die Mühe das Thema der PC und der moralisierenden Diskurse zu untersuchen. Er erforscht nicht die Geschichte der PC in D, die Motivationen der Teilnehmer. Klemperer kommt 1x vor, verstanden hat er ihn nicht, was ihn natürlich auch davon befreit, ihn ggf. zu widerlegen, auch Dusini/Edlinger zitiert er genau 1x, wobei er hier eine Chance gehabt hätte, sich mit dem Buch auseinanderzusetzen. Aber das Zitat ist von Seite 9; die anderen rd. 260 Seiten hat er vermutlich nicht mehr gelesen. Wo andere in einem solchen Buch ein Haus mit Brettern und Nägeln bauen wollen, kommt Sarrazin mit Sperrholz und Akku-Tacker daher. Sie mögen solchen Häuschen einen gewissen Charme attestieren, ich finde das erbärmlich.
Aber was ich noch erbärmlicher finde: Dass die Medien sich dieses Themas annehmen, weil es ein gewisser Herr Sarrazin angeblich verarbeitet hat. Das hat nämlich zur Folge, dass notwendige Kritik an der PC von nun an als sarrazinesk gilt. Sarrazin ist eine Art König Midas, nur das alles was er angefasst, zur Scheiße wird.
@metepsilonema
Sarrazins Bezug auf Macchiavelli habe ich als höchst peinlich und gequält empfunden. Wie die Autorin auf »anregende Populärliteratur« kommt, vermag ich nicht zu sagen. Dabei stört es mich noch nicht einmal, dass es vielleicht ein wenig »pedantisch« wäre – warum nicht? – aber es ist eben vollkommen ohne Esprit, ohne Originalität, redundant und zum Teil qualvoll. Warum bei »nicht streng wissenschaftliche[n] Publikationen« Fehler und falsche Schlüsse plötzlich erlaubt sein sollen, erschliesst sich mir nicht. Sie hat zwar Recht, dass dies in Rezensionen gerne unterschlagen wird, sofern die vorherrschende Meinung gestützt würde (was ich »Gesinnungsjournalismus« nenne), aber dadurch wird es ja nicht besser.
Es fehlt DAS BUCH, sprich die Analyse, die es mit Phänomen wie PC aufnimmt. Ich wäre schon für eine Analyse des deutschen Sprachraums dankbar. Was sind die Motive?! Was sind die »Effekte«?!
Ich nehme folgendes wahr: PC spaltet, d.h. es ist eine (für sich genommen evtl. unvollständige) gesellschaftspolitische Aktion, die ein Oppositionsprinzip in den diffusen öffentlichen Diskurs einbringen möchte. Die »moralische Aufladung«, die Keuschnig mehrmals anspricht, ‑ja, sogar der groteske Beitrag von Lauris Maris, bestätigen das. Moral ist immer »diskriminierend«, im doppelten Sinne. Es trennt vorher amorphe Gruppen, Diskursgemeinschaften.
Ich weiß, es gibt eine große philosophische Tradition, welche lehrt: Moral verbindet! Aber ich bin anderer Meinung, jedenfalls so lange ich es noch sein darf...
Moral ist ein »Verteiler«.
PC bedient ja den eigentlich spiessigen Wunsch, Kategorien und Schubladen für die Ewigkeiten zu entwickeln, in die alles gesteckt werden kann. Danach ist dann der Tisch »sauber«. Um im Bild zu bleiben: Man öffnet die eingestaubten Schubladen und beginnt nun neu zu sortieren. Dabei pfeift man auf Habermas, den Diskurs und den Konsens, der sich daraus ergeben soll sondern dekretiert einfach, wie man auch vorher dekretiert wurde. Die Moralisierung ersetzt dabei das Argument. Im Wortsinn wird aus der Not eine Tugend gemacht. Auf jeder Party wird heute betont, dass der Pullover, den man anhat, aus nachhaltigem Baumwollanbau kommt und nicht von Kindern gefertigt wurde.
Neulich sagte eine ältere Dame in einer privaten Runde das ominöse Wort »Neger«. Sie hat zwingend nichts mit Rassismus zu tun, ihre Rede über die Person war anerkennend. Sie kennt »Neger« als Beschreibung und setzte es deskriptiv. Interessant die Reaktionen in der Runde: Pikiertes Schwiegen, Durchatmen. »Das sagt man heute nicht mehr«. »Warum?« lautete ihre Frage, die dann wieder mit dem Imperativ des Zeitgeists beantwortet wurde. Genau dieses »Das sagt man / tut man nicht« war aber seit jeher der Versammlungsort des biedermeierhaften Verbots. Machte man früher Sachen, die sich nicht gehörten, wurde man nicht gegrüsst. Heute wird man diffamiert, um Uniformität zu erzwingen. Die Totalitarismen funktionieren heute nur effizienter. – All dies hätte ich gerne analysiert bekommen. Aber das kann T. S. einfach nicht. Und er will es auch nicht.
Stimmt, umso mehr der Vergleich mit dem Biedermeier. Ich vermute, diese (Selbst-)Dressurakte sind eher einem rückzüglichen politischen Willen anzurechnen, als einem (schemenhaft erkennbaren, subtilen) Totalitarismus.
Ich sehe aber auch eine »kontrastierende Wirkung«, da die politische Öffentlichkeit sowieso sehr stark deliberalisiert wurde, also bereits völlig dem »unverbindlichen uneindeutigen Überblick« verpflichtet ist. Die unwiderstehliche Leichtigkeit des indifferenten Diskurses! In dieser weißrauschenden Soße, bildlich gesprochen, sind PC-Argumente die Kapern. Es ist (wie du sagst) schon dem Livestyle zuzuordnen, und keiner vertieften politischen Existenz. Vermute ich, denn mir fehlt das Anschauungsmaterial. Ich lese nur davon!
@ #19 (Nachtrag)
Ich merk gerade, ich hab ein neues Wort erfunden: deliberalisieren, bzw. vom Endpunkt des Vorgangs aus betrachtet, deliberalisiert; im Zus. mit »deliberalisierte Öffentlichkeiten«
Könnte man das nicht so nennen?!
–deliberalisieren: jenen Teil des politischen Diskurs fördern, idealisieren bzw. theoretisch aufwerten, welcher jegliche Aspekte des Entscheiden-Müssens vermeidet, weil dadurch vollkommene »Gedankenfreiheit« jenseits von Macht oder Ohnmacht entsteht
Wie findet ihr das? Zu früh?!
PC ist die Waffe der Dummen. Ein Angriff auf Intellektualität.
Das Interview mit Erdl (oben verlinkt) finde ich enttäuschend, erstens weil einige wichtige Fragen (auch von Seiten des Interviewers) nicht gestellt werden, andererseits weil vieles einfach gesetzt wird.
Sinnvoller ist es, nachzusehen ob es »Diskurse« gibt, die man in irgendeiner Form dem Term »political correctness« zuordnen kann, dass es also stark vereinfachend und verallgemeinernd für Diskussionen über die Verwendung von Sprache oder Begriffen, steht oder stehen könnte; da wird man dann auch recht rasch fündig: Die Diskussionen um (ältere) Kinderbücher, das Binnen‑i, Sprachleitfäden für bestimmte Institutionen, diskriminierende Wörter, usf.
Aufklärerische Impulse und Funktionen kann man solchen Diskussionen grundsätzlich nicht absprechen; ob sich aber Gesellschaften, die sich als diskursive (d.h. demokratische) verstehen, hier formelle oder auch nur informelle »Regeln« (»Normen«) anstreben sollten, bleibt zu bezweifeln (das hieße einer Art von Höflichkeit Momente von Freiheit, von Wahrheitssuche und von Selbstbestimmung unterzuordnen, als ob man nicht ganz erwachsen werden wollte).
@Lauris Mauris
Ich habe den in #7 verlinkten Text aus dem Jahr 2010 als eine sehr ausgewogene und faire Beurteilung von Sarrazins Buch in Erinnerung, insofern glaube ich nicht, dass sich Gregor hier bloß von der Person leiten ließ...
die_kalte_Sophie
Verstehe ich nicht ganz. Spätestens wenn es um Sprachfindung, ‑formung geht muss ja eine Entscheidung getroffen werden. Dabei ist natürlich klar, dass Sprache immer auch wertet. Das ist aber Allgemeingut. Jetzt jeden Begriff sozusagen zu moralisieren – das finde ich zweifelhaft.
@metepsilonema
Die informellen Regeln ergeben sich einfach – ob man das will oder nicht. Denk an die Jugendsprache. Sie mag abstossend, verkürzend, oberflächlich sein – in sich ist sie schlüssig, weil sie verstanden wird. Problematisch wird es, wenn unterschiedliche Welten aufeinanderprallen oder einer den anderen »bekehren« möchte.
Noch einmal zur Person Sarrazin: Sie interessiert mich nicht. Auf Twitter gab es eine Diskussion, weil einer schrieb, Sarrazin sei ein unglücklicher Mensch. Ein anderer Teilnehmer kritisierte diese Äußerung, er glaubt, dass man das nicht beurteilen kann, ohne den Mann zu kennen. Ich finde das nicht ehrenrührig, ihn aufgrund dessen, was er bspw. im Kapitel 2 geschrieben hat, als unglücklichen Menschen zu bezeichnen. Aber das hat zunächst nichts mit dem Urteil über das Buch zu tun. Es ist nur interessant, wo es als Larmoyanz auf den Text abfärbt.
@holio
D’accord. Aber diese Angriffe gab es immer. Was macht sie heute so wirkungsmächtig?
@Gregor
Ein Unterschied zur Jugendsprache ist, dass diese auf bestimmte soziale Milieus und/oder Altersgruppen beschränkt bleibt, ähnlich wie Fachsprachen oder »Bildungssprache«. Demgegenüber sollen Regulierungen ja durch diese Milieus und Gruppen dringen und tun das auch. Womit wir wieder bei der Wirkmächtigkeit wären. Die Massenkommunikation spielt hier sicherlich eine entscheidende Rolle, ebenso ein entsprechender politischer Wille.
@ gregor and @ myself
Das ist klar: die moralische Anschärfung begleitet die Begriffe, einschl. des Paradoxons, dass die »falschen Begriffe« immer wiederholt werden müssen, damit die Lektion sitzt.
Die Kontrastwirkung, die ich gemeint habe, ist der Umstand, dass die Tugendübung PC in einer Öffentlichkeit geschieht, die selbst schon einen de-politisierenden/ent-aktivierenden Charakter hat. Argumentationen werden nur ausführlich aufgebaut, wenn es um Ent-Kräftung, Ent-gegnung, Ab-rüstung, usf. geht. Nietzsche hätte uns ein vollkommen re-aktionäres Zeitalter nachgesagt. Die Kultivierung der Geduld und die Idealisierung der Zweit-Tat (nach den Behörden, der Elite, der NSA, den Tycoonen, etc. ) lässt einen absurden Kontrast entstehen.
Jetzt mal im Ernst!–Wie revolutionär ist PC eigentlich?! Stellt mal eure »Messgeräte« an. Ich habe keinerlei Anzeige auf dem Display. 0,00
Ist das noch Politik?! Oder ist das schon der Abspann des »Films«...
@metepsilonem
Dein Einwand stimmt. Die Jugendsprache ist sozusagen milieubedingt; PC soll Universalität beanspruchen. Aber »Sophies« Einwand der »Re-Aktion« ist durchaus interessant. Wo bei ich das Re-Agieren auch als hegemonialen Anspruch auf die Diskurshoheit begreife, also nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Der »herrschaftsfreie Diskurs«, in dem ethische, soziale oder politische Problemstellungen verhandelt werden sollen, war aber immer eine Schimäre. Es geht nur darum, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Problematisch ist, dass man sich dem auf Dauer schwer entziehen kann, es sei denn man kauft in Antiquariaten ältere Bücher.
@Gregor
Ganz genau, die Re-Aktion hat bereits einen totalitären Anspruch, sie kommt nicht mehr nassforsch sondern bereits selbstsicher daher.
Die Beherrschung des öffentlichen Diskurses, das informelle Kollegium der Meinungskontrolle ist ein bisschen deprimierend. Sicher systemisch erklärbar. Komplexität raus, Moral rein! Ich will mich auch nicht in der Vergangenheit (Bücher) verkriechen.
Übrigens ist die Abhängigkeit des ambitionierten Autors von der Öffentlichkeit mal zu klären. Braucht man die Sittenwächter nur zum Verkauf, oder gibt es da noch weitere »Interessen«?! Ist das evtl die zeitgenössische Version der ewigen Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Politik, Literatur und P.C. ??
@Gregor, @die_kalte_Sophie
Mir war nicht klar wie der »Reaktionsgedanke« genau gemeint war (ich bin mir auch jetzt noch nicht sicher).
Zu reagieren hat grundsätzlich mit dem Dasein des Bürgers in einer repräsentativen Demokratie zu tun: Nicht, dass er dazu verdammt oder es seine alleinige Aufgabe wäre, aber er muss das politische Geschehen kommentieren, bewerten, darüber nachdenken und bei Wahlen entsprechend handeln, er ist von Beruf wegen kein politischer Akteur (auch wenn er das grundsätzlich werden kann). Alle anderen Möglichkeiten (das Schreiben von Artikeln, Setzen von Initiativen, direktdemokratische Möglichkeiten) ändern an dieser grundsätzlichen Disposition nichts — der Bürger ist, neben allem anderen, auch (!) ein politischer Mensch (manche mehr und manche weniger). Wenn wir keine Zweittäter sein wollen, dann sollten wir unser politisches System entsprechend umgestalten.
Dass es – freundlich ausgedrückt – Tendenzen zur Entpolitisierung gibt, steht außer Zweifel; ich glaube auch, dass der Überfluss an Informationen Reaktion und Passivität fördert, umgekehrt die Medien aber wieder »Möglichkeiten der Aktion« bedeuten (man muss sie freilich in die Hand nehmen und vorher noch: erkennen).
Das Fehlen von Argumenten, die Moralisierung des Diskurses und verwandte Phänomene haben mit dem Streben nach Hegemonie zu tun (möglichst rasch, wirksam und unter geringem Aufwand), Reaktionen, auch manche auf das behauptete oder tatsächliche Vorliegen von (wie auch immer definierter) p.c., ebenso. Nur Argumente lassen ein Prüfung zu, inwieweit der Anspruch auf die Lösung eines Problems (und damit auch wieder einer Art Hegemonie) gerechtfertigt ist. — Man darf sich auch nicht der Illusion hingeben, dass Argumente immer eine Lösung darstellen, sehr oft wird man sich mit Abschätzungen zufrieden geben müssen, dem Bauchgefühl oder anderem (man kennt die Zukunft eben nicht).
Der herrschaftsfreie Diskurs ist ein Idealzustand, den es nicht gibt, jedenfalls verstehe ich den Begriff so; aber Diskursräume werden in Demokratien benötigt (inklusive der Möglichkeit einseitige Interessensdurchsetzung aufzeigen zu können).
Was hat das Reagieren mit Totalität zu tun? Oder ist Reaktion hier rein politisch gemeint (und selbst dann: stimmt das unbedingt?)?
Wenn der herrschaftsfreie Diskurs ein unerreichbarer, nur in der Theorie existenter Zustand ist, dann ist die Theorie, die ihn als Grundvoraussetzung hat, nur noch Religion.
Vielleicht sollte man das mit der »Totalität« anders formulieren. Tatsache ist, dass jede Äußerung in einem Diskurs den Anspruch der Wahrheit besitzt, in sich also »totalitär« ist. Das ist aber natürlich das falsche Wort. Totalität oder, besser, autoritär, wird es erst, wenn das Argument als Glaubenssatz formuliert und als sakrosankt definiert wird. Dann »darf« Matussek nicht »homophob« sein (was ja zunächst einmal nur bedeutet, dass er eine irrationale Angst vor Homosexuellen hat [eben eine Phobie]; sein Text geht dann weiter und gleitet in eine Rubrizierung ab) und dann »darf« Sarrazin auch nicht über Meinungsfreiheit reden – wie ja unlängst geschehen: Das ist natürlich paradox, aber von den Verteidigern der Störung der Buchpräsentation wird das verteidigt (unter ihnen auch Schriftsteller, die sonst bei jedem Schiss für Pluraität sind). Warum soll aber Lewitscharoff keine christliche Fundamentalistin sein dürfen? (Übergang zum anderen Thread?)
Für meinen Teil verstehe ich den herrschaftsfreien Diskurs als ein Ideal, dem man sich nähern sollte, wenn man eine Auseinandersetzung anstrebt in der primär Argumente Geltung haben (möglicherweise wird das von den Schöpfern des Begriffs anders gesehen).
Die Voraussetzung für einen Diskurs ist natürlich etwas Wahres, Richtiges oder gut Belegtes zu vertreten (man führt dafür Argumente an), zugleich muss man aber bereit sein, den anderen zuzugestehen, zumindest formal Recht haben zu können (was den Wandel der eigenen Position einschließt). Aus dieser Ambivalenz heraus ist der Diskurs notwendig und begründet und deswegen wird er geführt. Alles andere sind Versuche Interessen durchzusetzen und andere zu überzeugen: Auch deshalb finde ich das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses wichtig, weil er einen Vergleich mit der Realität ermöglicht. — Die Beispiele die Du anführst sind natürlich das Gegenteil davon.
Man könnte auch sagen, dass der herrschaftsfreie Diskurs nur eine Form von Herrschaft zulässt, nämlich die des Arguments (was dann von allen Beteiligten nachvollzogen werden kann). Und natürlich sind Argumente nicht die einzige Voraussetzung, ich würde sogar sagen, dass der (weitgehend oder realisierte) »herrschaftsfreie Diskurs« irrational begründet ist (ähnlich wie es keine zwingenden Argumente dem Amoralismus gegenüber gibt).
Von mir aus kann Lewitscharoff eine fundamentalistische Position vertreten, problematisch wird das allerdings, wenn diese anderen oktroyiert werden soll (der Grat ist sehr schmal).
Naja, der herrschaftsfreie Diskurs ist ja auch die Prämisse für Apels/Habermas’ Diskursethik. Er ist die Basis, damit im Diskurs politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen sozusagen »verhandelt« werden. Das Beispiel dafür könnte man fast paradoxerweise ein EU-Gremium nennen, in dem dies angelegt ist: der Europäische Rat. Hier ist Konsens sozusagen unabdinglich, wobei die »Herrschaftsfreiheit« natürlich auch nur theoretisch ist.
Ich würde sagen: Je emotionaler und existenzieller wir einer Position verbunden sind, desto eher werden wir im Sinne von Herrschaft agieren und den Diskurs (auch) anders zu lenken versuchen (deshalb wird die Herrschaftsfreiheit auch immer ein Ideal bleiben).