Mit Verve verficht Roiphe in vielen (zu vielen?) Aufsätzen das unaufgeräumte Leben, wie sie es in ihrer Kindheit und Jugend kennengelernt und gelebt hat. Kinder, die draußen spielen durften, ohne permanent von besorgten Helikoptereltern überwacht zu werden. Erwachsene, die sich auf Partys auch einmal dem Alkohol und Zigaretten hingeben, ohne in jedem Moment ein schlechtes Gewissen oder Angst vor Kontrollverlusten zu haben und die – ja auch das – schon mal einen Seitensprung wagten. Stattdessen gehen die moderat ruhelosen oder nur leicht unzufriedenen Paare von heute … eher zur Paartherapie und »arbeiten« an ihren Beziehungen, anstatt sich so zu betrinken, dass sie nicht mehr wissen, wo sie sind, oder mit einer zufälligen Bar-Bekanntschaft im Hinterzimmer zu verschwinden. Beim Lesen eines Manuskripts über berühmte englischsprachige Schriftsteller der Vergangenheit konstatiert Roiphe: Heute, in einer Welt, die ihre ganz eigene antiseptische Moral, ihre klinischen, unanfechtbaren Argumente für Ausgewogenheit und Nüchternheit hat, würden wir diese Leute zu Alkoholikern stempeln, damals aber fand man sie schlicht und ergreifend charismatisch.
Es wäre voreilig und ein Missverständnis, Roiphe in die Nähe der gutachsigen Krakeeler um Henryk M. Broder zu verorten. Und es klingt auch gar nicht nach Omas »früher war alles besser«. Es ist, schnoddrig und zum Teil redundant, ein wuchtiges Plädoyer für Leben statt bloßes Existieren, für Essen statt Ernährung, für Kreativität und Selbstbestimmtheit statt permanentem Ver- und Besorgtsein. Die sich liberal, tolerant und weltoffen gebende Upper-Class ist, so ihr Befund, in Wirklichkeit das Gegenteil davon. In persönlichen Gesprächen mit Freunden und Bekannten wird ständig Roiphes Erziehungssituation thematisiert. Entweder sorge man sich um die Kinder, denen ein oder der Vater fehle (was Roiphe mühsam jedesmal entkräften muss) oder man problematisiere ihr Alleinleben, welches nicht gut für sie sei. So bekommt sie ohne es zu wollen ein schlechtes Gewissen wenn sie abends aufbricht, um einen Mann in einer Bar zu treffen.
Sehr persönlich
Roiphe plädiert für das chaotische Leben, die Ungeplantheit, Spontaneität. Sie liebt ihre Kinder, aber sie beansprucht für sich Freiräume, die sie auch bereit ist, den Kindern zu gewähren. Sie wehrt sich gegen die perfekten Eltern, die den Tagesablauf ihrer Kinder minutiös planen und sich selber aufgebend, voll in den »Dienst« eines wie auch immer für notwendig betrachteten Erziehungsplanes stellen. Und sie wehrt sich gegen den informellen Druck, der ein solches Verhalten auch von ihr verlangt. Ihre Schlüsse sind durchaus originell, etwa wenn sie die Hingabe der Eltern zu ihren Kindern deutet: Vielleicht ist die Fetischisierung und die Erhebung des Kindes über das Privatleben der Eltern gar nicht wirklich der Grund für partnerschaftliche Unzufriedenheit, sondern eher eine Art Flucht vor dem Anspruch, glücklich zu sein. Das Kind könnte als Exit-Strategie fungieren, aus dem gefühlten Anspruch, sexuelle Verbundenheit haben zu müssen. Ein schweres Geschütz.
Die Aufsätze umfassen einen längeren Zeitraum; leider fehlen die Daten der Erstveröffentlichung. Zunächst hat sie ein Kind, später zwei. Zuweilen macht sie sich lächerlich über diese Nanny-Eltern. Das Ideal verlange strikt nach zwei Elternteilen, so Roiphe, die sich abwechselnd die Designer-Babytrage umschnallen. Anders gesagt: Die allseits geforderte 24-Stunden-Kinder-Vervollkommnung und ‑Stimulation hat eine repressive Seite. Hier spricht sie jedoch eher die Effemination des Mannes an als sich der Rolle des Vaters in ihrer ach so chaotisch-glücklichen Kindheit zu erinnern. Das ist alles nicht wissenschaftlich, sondern sehr persönlich. Als sozio-kultureller Befund sind die Aufsätze dennoch interessant, weil sie zeigen, dass die bürgerlichen Rollenbilder unter der Oberfläche durch die immer stärker werdende Besorgniskultur in Bezug auf Kinder und Erziehung internalisiert und zu einer Art ungeschriebenem Gesetz werden. Diese Entwicklungen sind ja auch in Deutschland nicht ganz unbekannt, wenn auch zum Teil auf anderen Gebieten relevant.
Dem Siebzigerjahre-Feminismus spricht sie zwar historische Verdienste zu, steht ihm aber als Modell für die Zukunft kritisch gegenüber. In dem Aufsatz Das Phantasieleben der berufstätigen Amerikanerin versucht Roiphe die sich in Bestsellern wie »Shades of Grey« oder Fernsehserien wie »Girls« zeigende Lust an sexuellen Unterwerfungs- und Gewaltphantasien von Frauen zu erklären und stellt dabei en passant und ein bisschen versteckt die »Systemfrage«: Ist die unbarmherzige Verantwortung im Leben einer heutigen Frau, dieser Druck zu ökonomischer Teilhabe, dieses ganze Stark- und Unabhängig-Sein, Seine-Sehnsüchte-Leben und Raus-in-die-Welt-Gehen vielleicht auch anstrengend? Roiphe bleibt jedoch am Ende nur deskriptiv. Die Pointe am Ende in Bezug auf »Shades of Grey« ist dann sehr bildungsbürgerlich: Sie sorgt sich eher um die Millionen von intelligenten Frauen, die bereit sind, Literatur auf einem derart niedrigen Niveau zu ertragen.
Hillary Clintons Unechtheit
Sehr interessant ist der Aufsatz über Hillary Clinton (markanter Titel: Wählt Schwester Frigidaire!) und die ihr in der amerikanischen Öffentlichkeit quer über die Parteiengrenzen hinweg fast unisono entgegenkommende Feindschaft. Den Grund sieht sie in der vermeintlichen Unechtheit Hillarys in Bezug auf die Ehe mit Bill Clinton, die von vielen hartnäckig als »Arrangement« betrachtet wird […] Sie impliziert, dass Hillary ein derart pathologisches Interesse an Politik hat, dass sie irgendwann mit sich den »Deal« gemacht hat, die Untreue ihres Mannes hinzunehmen. Das Wort von »Tauschhandel« macht die Rede. Roiphe kann im vielleicht übertriebenen Ehrgeiz Hillarys, den existierenden oder nur behaupteten Plänen der politischen Macht nichts per se Negatives entdecken: Hillarys Energie, ihr Ehrgeiz, ihre unbändige Arbeitswut, ihre gewiefte Machtausübung, […] könnte man doch auch als Zeichen der Stärke werten. Hillary ist in mehrfacher Hinsicht ein Fleisch gewordener feministischer Traum, die Verkörperung der großen Möglichkeit. Aber warum hat Hillary Clinton ausgerechnet unter den Frauen die ihr am ähnlichsten sind, die ihr in Bildungsstand und beruflichem Erfolg demographisch am nächsten stehen, die größten Schwierigkeiten? Roiphe fragt sich, ob es nicht sein könnte, dass wir zwar das Bild der starken Frau mögen, aber die starke Frau als solche eher nicht? Und weiter: Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass mächtige Frauen anderen mächtigen Frauen gegenüber oft intolerant sind, dass zwischen ihnen eine Gemeinheit, eine Stutenbissigkeit herrscht, die, soweit ich das bislang mitbekommen habe, eigentlich nicht zu einer Konversation unter Feministinnen gehören sollte. Abermals spricht Roiphe die im Keim dann doch eher moralinsauren Wertvorstellungen der oberen Mittelschicht an. Und hier gibt es keine Schonung, wenn sie bilanziert: Die »Unechtheit« der Hillary Clinton empfinden so viele schlaue, ehrgeizige Frauen deswegen als so ärgerlich und unverzeihlich, weil diese Unechtheit auch die ihrige ist.
Sexszenen in der amerikanischen Literatur
Die Qualität von Roiphes Texten ist sehr unterschiedlich. Zuweilen staunt man, dass einige Texte in den USA für Wirbel sorgen, während sie in Deutschland eher Leitartikel-Format besitzen. Andere Aufsätze sind sehr instruktiv und fast aufklärerisch, etwa wenn sie Starportraits und ‑interviews in Magazinen fast seziert, am Rande den »Fall« Tom Kummer streift und Formelhaftigkeit und Worthülsenfetischismus der sogenannten Berichterstatter gnadenlos decouvriert (Starporträts, flott gemacht). In gleichem Tenor gibt es einen Essay über die negative Konnotierung des Begriffs des love child für ein uneheliches Kind, der sich im Deutschen nicht in dem Umfang erschließen kann, weil es schlichtweg keine adäquate Entsprechung für diesen in den USA längst ins Zynische gekippten, eigentlich aus politisch-korrektem Sprachgefühl heraus geschaffenen euphemistischen Begriff gibt. Holzschnitthaft sind ihre Texte, wenn es um das Internet (sie erzählt von einer siebentägigen Netzenthaltsamkeit) oder die digitalen sozialen Medien wie Facebook und Twitter geht. Das kommt über die üblichen intellektuellen Schmalspur-Ressentiments nicht hinaus. Merkwürdig diese Geschichte um den Twitter-Krieg mit Mrs. C. (gemeint ist Ayelet Waldman), der im amerikanischen Original immerhin nur eine »Schlacht« ist.
Wenn irgend möglich, verknüpft Roiphe ihre Erkenntnisse mit Assoziationen aus der angelsächsischen Literatur. Und wenn sie über amerikanische Literatur schreibt, wird es informativ. Dann schreibt sie Essays. Etwa wenn sie Sexszenen in den Büchern von Philipp Roth, John Updike, Saul Bellow, D. H. Lawrence, Norman Mailer und Michael Chabon gegeneinander stellt und – ja, warum nicht? – »untersucht«, gewichtet, vergleicht, diversifiziert (Die Nackten und die Hin- und Hergerissenen). Der Schluss ist wunderbar. Roiphe fragt, sich an die über männliche Darstellung von Sexualität bigotten Aufreger und Aufregerinnen wendend: Warum können wir diese älteren Schriftsteller, die den Tod mit Sex überwinden wollten, nicht mit demselben Stolz betrachten wie die Erfinder der ersten, flugunfähigen Flugzeuge, die mit ihren sperrigen, unmöglichen Geräten auf der Rollbahn standen und in den Himmel blickten?
Direkt danach gibt es einen Essay über Schreibende Frauen, in dem sich Roiphe vor allem der feministischen Literaturkritikerin Elaine Showalter und ihren inzwischen längst zu Standardwerken gewordenen Kanon-Büchern widmet. Lehrreich auch der Text über Susan Sontag und die von ihrem Sohn David Rieff herausgegebenen Tagebücher. Mein Favorit ist aber Hasenherz lebt nicht mehr. Katie Roiphe ergreift hier lakonisch, aber eindeutig Partei für einen dem Vergessen anheim fallenden: Es ist traurig zu sehen, dass John Updike nur drei Jahre nach seinem Tod fast unmerklich aus der Mode gekommen ist, dass er es nicht mehr auf Beste-Romane-aller-Zeiten-Listen wie die der Modern Library schafft und dass seinem Ruf, obwohl sein überwältigendes schreiberisches Talent allenthalben Anerkennung findet, ein leichter Geruch der Ablehnung anhaftet.
Katie Roiphe ist, was die Vermittlung amerikanischer Literatur der Moderne angeht, eine hochinteressante Entdeckung. Sie könnte das deutschsprachige Feuilleton jenseits des festgefahrenen, antipodischen Stellungskrieges (hier fast unerträglich-vorauseilende Zuneigung für jeden neuen Schreibschulabsolventenerstling, dort abgrundtiefes Ressentiment) auf angenehme Art anregen und inspirieren. Leider wirkt das Buch zuweilen ein bisschen lieblos aufbereitet. Auf die fehlenden bibliographischen Daten wurde schon hingewiesen. Man vermisst auch schmerzlich die ein oder andere Erläuterung zu spezifisch amerikanischen Eigenheiten. So manch feine Anspielung dürfte dem europäischen Leser damit entgehen.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
Wieder einmal ist die Sympathie, die Du dem rezensierten Buch und dessen Autorin entgegenbringst, aus jedem Deiner Sätze spür- und nachvollziehbar und schafft Leselust. Wenn ich jetzt ganz simpel schreibe: „ Muss ich selber lesen, muss mir der nächste Besuch unbedingt aus Deutschland mitbringen!“, so darfst Du das mit Fug und Recht als Kompliment für diese schöne Buchvorstellung verstehen.