Oc­cu­p­ied – Die Be­sat­zung (Staf­fel 1 und 2)

Die nor­we­gi­sche Po­lit-Se­rie »Oc­cu­p­ied« (deut­sche Er­gän­zung: »Die Be­sat­zung«) von 2015 spielt, wie es zu Be­ginn heißt, in ei­ner nicht fer­nen Zu­kunft. Der wich­tig­ste Punkt die­ser hoch­ge­lob­ten Se­rie wird gleich am An­fang in ei­nem Halb­satz ab­ge­han­delt: Die USA ist nicht mehr in der NATO. Das Bünd­nis spielt da­her im wei­te­ren Ver­lauf kei­ne Rol­le mehr. Der nor­we­gi­sche Mi­ni­ster­prä­si­dent Berg will sein Wahl­ver­spre­chen ein­lö­sen, ge­gen den glo­ba­len Kli­ma­wan­del vor­an­ge­hen und stoppt al­le Gas- und Öl­lie­fe­run­gen an die EU. Als Al­ter­na­ti­ve wird die so­ge­nann­te »Thorium«-Technik vor­ge­stellt; ei­ne Art grü­ner Atom­strom (pi­kan­ter­wei­se ist hier Bergs Frau in­vol­viert). Der Wi­der­stand ge­gen die­se un­ab­ge­stimm­te ad-hoc-Maß­nah­me ist in Eu­ro­pa ver­ständ­li­cher­wei­se sehr groß. Auch Russ­land hat kein In­ter­es­se an ein so­for­ti­ges En­de der fos­si­len En­er­gie. In ei­ner Al­li­anz zwi­schen der EU und Russ­land wird Druck auf Nor­we­gen auf­ge­baut (nur zur Er­in­ne­rung: Nor­we­gen ist nicht Mit­glied der EU und ist es auch in der Se­rie nicht).

Aber Russ­land geht wei­ter. Man be­setzt nor­we­gi­sche För­der­an­la­gen und Bohr­platt­for­men, um die Wei­ter­ver­sor­gung zu be­trei­ben. Es scheint so, als sei dies mit der EU ab­ge­stimmt. Berg wird zu Be­ginn kurz ent­führt und auf ei­ne Än­de­rung sei­ner Tho­ri­um-Po­li­tik ein­ge­schwo­ren. Das lehnt er zu­nächst ab, beugt sich dann je­doch und fährt die fos­si­len Aus­beu­tun­gen wie­der hoch. Russ­land fin­det im­mer neue De­tails, um ein fe­stes Ab­zugs­da­tum hin­aus­zu­zö­gern. Als sich ein Wi­der­stand for­miert, tritt man als Schutz­macht auf – für Nor­we­gen und die En­er­gie­ver­sor­gung der EU. Berg wird fast schlag­ar­tig zum Re­al­po­li­ti­ker, spielt die rus­si­sche In­ter­ven­ti­on of­fi­zi­ell her­un­ter. Mi­ni­ster tre­ten zu­rück und man legt auch Berg den Rück­tritt na­he, aber da die Par­tei in der Nach­fol­ge­fra­ge zer­strit­ten ist, bleibt er. Zum Ge­gen­part der Re­gie­rung wird die rus­si­sche Bot­schaf­te­rin Si­do­ro­va – an­de­re rus­si­sche Po­li­ti­ker wei­gern sich mit Berg zu re­den (nur ein­mal kommt der Au­ßen­mi­ni­ster kurz ins Spiel).

Ei­ne wei­te­re Haupt­fi­gur ist der Si­cher­heits­mann Hans Mar­tin Djup­vik, der zu Be­ginn der rus­si­schen Bot­schaf­te­rin das Le­ben ret­tet und nun suk­zes­si­ve in­ner­halb des nor­we­gi­schen In­lands­ge­heim­dien­stes PST auf­steigt. Mehr als ein­mal wird er als Ver­mitt­ler zwi­schen Russ­land und Nor­we­gen ein­ge­setzt – was al­ler­dings mit der Zeit er­mü­det. Schließ­lich wird er von Berg als Dop­pel­agent ein­ge­setzt; die­se Sze­nen über­zeu­gen nicht. Auch der In­ve­sti­ga­ti­v­jour­na­list Tho­mas Erik­sen wirkt mit sei­ner ewi­gen Um­hän­ge­ta­sche ein biss­chen kli­schee­be­la­den.

In­ter­es­sant ist die Se­rie, an der un­ter an­de­rem auch der Best­stel­ler­au­tor Jo Nes­bø mit­ge­schrie­ben hat­te, im Auf­zei­gen der po­li­ti­schen Es­ka­la­ti­ons­spi­ra­le. Die zu­nächst eher mar­gi­na­li­sier­te Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gung »Fritt Nor­ge« (»Frei­es Nor­we­gen«), die heim­lich von der un­heil­bar kran­ken PST-Che­fin Ar­ne­sen un­ter­stützt wird, er­hält im­mer mehr Zu­lauf. Ge­lun­gen ist die Dar­stel­lung des zu­nächst auf Aus­gleich mit Russ­land be­dach­ten Re­gie­rungs­chefs, der glaubt mit Ent­ge­gen­kom­men die Rus­sen schnell zum Ab­zug be­we­gen zu kön­nen. Durch ge­ziel­ten Ter­ror, der auch vor der Er­mor­dung ei­ge­ner Lands­leu­te nicht zu­rück­schreckt, sa­bo­tie­ren die Rus­sen je­doch jeg­li­chen Aus­gleich. Spä­ter wird Berg be­ken­nen, dass man sei­ne so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Sicht auf Po­li­tik miss­braucht hat.

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Heimo Schwilk: Mein aben­teu­er­li­ches Herz I

Heimo Schwilk: Mein abenteuerliches Herz I
Heimo Schwilk: Mein
aben­teu­er­li­ches Herz I

»Mein aben­teu­er­li­ches Herz I« – schon im Ti­tel fin­det man die­se Mi­schung aus An­spruch und An­ma­ßung. Es wird beim Auf­schla­gen noch deut­li­cher: Der Au­tor Heimo Schwilk mit Ernst Jün­ger 1988 im Ge­spräch. So muss ein Jün­ger-Bio­graph sei­ne Ta­ge­buch­auf­zeich­nun­gen nen­nen und be­gin­nen, denkt man. Die rö­mi­sche Zif­fer lässt zu­dem ei­nen zwei­ten Band er­war­ten. Der er­ste um­fasst Ein­tra­gun­gen vom 3. Fe­bru­ar 1983 bis zum 1. Ja­nu­ar 2000. Die­se wer­den oh­ne je­de Glie­de­rung chro­no­lo­gisch auf­ge­führt – mit Orts­zei­le und Da­tum. So flie­gen die Jah­re da­hin, wenn man nicht im­mer ge­nau auf das Da­tum schaut. Es zeigt sich, dass die Ein­trä­ge meist et­was spä­ter ent­stan­den sind und Er­eig­nis­se ei­ni­ger Ta­ge zu­vor zu­sam­men­fas­sen.

Zu Be­ginn ist Schwilk 31 Jah­re alt und ver­sucht, in Kon­takt mit Ernst Jün­ger zu kom­men. An­dert­halb Jah­re spä­ter – im Buch sind es noch nicht ein­mal 30 Sei­ten – ist es so­weit. Er sitzt in Wilf­lin­gen mit Ernst und Li­se­lot­te Jün­ger zu­sam­men. Ei­ne Bio­gra­phie kann es nicht mehr wer­den (dar­an ar­bei­te­te be­reits der NZZ-Mann Mar­tin Mey­er). Mit Klett-Cot­ta hat­te man sich aber auf ei­ne Bild­bio­gra­phie ver­stän­digt. Meh­re­re Sit­zun­gen und Sich­tun­gen in Wilf­lin­gen. Par­al­lel plan­te Schwilk ei­ne Dis­ser­ta­ti­on über die Jün­ger-Ta­ge­bü­cher und über­legt, in­wie­fern die­se Sti­li­sie­run­gen ent­hal­ten.

Die Fra­ge stellt sich na­tür­lich auch für die vor­lie­gen­den 634 Sei­ten. Da­mit kei­ne Zwei­fel auf­kom­men, ver­or­tet sich Schwilk schon im (glück­li­cher­wei­se knap­pen) Vor­wort bei den »re­fle­xi­ven Dia­ri­sten« wie Jün­ger und Gi­de. Nichts wer­de be­schö­nigt, so das Ver­spre­chen. Tap­fer­keit ge­gen den Main­stream wird an­ge­kün­digt. Mit dem Un­ter­ti­tel »Aus den Ta­ge­bü­chern…« legt man al­ler­dings den Schluss na­he, dass es durch­aus Strei­chun­gen gibt. Und nach der Lek­tü­re hät­te man sich si­cher­lich vie­le (wei­te­re?) Aus­las­sun­gen ge­wünscht. Et­wa all die pri­va­ten Pro­ble­me und Pro­blem­chen, die Ehe­kon­flik­te, sei­ne Epi­so­den über die Kin­der – kurz: all das, was pri­vat und in­tim blei­ben soll­te, denn ein Jour­na­list ist nicht wie ein Schrift­stel­ler ei­ne öf­fent­li­che Fi­gur (wo­bei man auch hier strei­ten kann, ob bei­spiels­wei­se die Idio­syn­kra­si­en ei­nes Tho­mas Mann im­mer re­le­vant für sein Werk sind). We­ni­ger wä­re mehr ge­we­sen, vor al­lem im Hin­blick auf die Ge­gen­wart. Dis­kre­ti­on ist kei­ne Kern­kom­pe­tenz von Heimo Schwilk.

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Uwe Witt­stock: Fe­bru­ar 33

Uwe Wittstock: Februar 33
Uwe Witt­stock: Fe­bru­ar 33

»Der Win­ter der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel von Uwe Witt­stocks »Fe­bru­ar 33«. Es ist die Zeit vom 28. Ja­nu­ar 1933 bis zum 15. März 1933, die er Re­vue pas­sie­ren lässt, 47 Ta­ge in 35 chro­no­lo­gisch ge­ord­ne­ten Ka­pi­teln. Sie er­zäh­len vom Be­ginn ei­nes ge­wal­ti­gen Epo­chen­bruchs, ei­ner furcht­ba­ren Zeit, an des­sen En­de Mil­lio­nen von To­ten zu be­kla­gen sind. Das Buch be­ginnt harm­los mit dem Pres­se­ball, dem letz­ten gro­ßen Fest in Ber­lin, auf dem sich auch Schrift­stel­ler und Künst­ler zei­gen. Kurz dar­auf folgt der »Re­gie­rungs­an­tritt« Hit­lers, durch Hin­den­burgs Er­nen­nung. Das, was vor ein paar Ta­gen noch un­mög­lich schien, trat ein. Vie­le glaub­ten, dass die neue Re­gie­rung wie so vie­le an­de­re zu­vor nicht lan­ge be­stehen wür­de. Dann muss man an die Ein­lei­tung den­ken: man wuss­te da­mals schlicht­weg noch nicht, was das be­deu­te­te – mit dem heu­ti­gen Wis­sen ist es leicht, ei­ni­ge Prot­ago­ni­sten ob ih­rer ver­meint­li­chen Nai­vi­tät zu zei­hen.

Die Form des Bu­ches er­in­nert zu­nächst an das kol­lek­ti­ve Ta­ge­buch »Echo­lot« von Wal­ter Kem­pow­ski. Hier wur­den Brie­fe, Ta­ge­bü­cher, Auf­zeich­nun­gen, Zei­tungs­ar­ti­kel oder No­ti­zen von pro­mi­nen­ten und we­ni­ger pro­mi­nen­ten Per­sön­lich­kei­ten im Ori­gi­nal und weit­ge­hend un­be­ar­bei­tet chro­no­lo­gisch auf tau­sen­den von Sei­ten ne­ben­ein­an­der pu­bli­ziert. Von Kem­pow­ski stamm­te le­dig­lich das kur­ze Vor­wort. Vor al­lem ist hier das »Echo­lot« zu nen­nen, wel­ches in vier Bän­den den Zeit­raum von 1. Ja­nu­ar 1943 bis 28. Fe­bru­ar 1943 um­fasst. Ein be­ein­drucken­des Werk, in dem der An­fang vom En­de – Sta­lin­grad fällt – der Hö­he­punkt dar­stellt (vie­len ist auch da­mals die Di­men­si­on nicht deut­lich). Witt­stock macht es je­doch an­ders: Er er­zählt auf­grund der ihm vor­lie­gen­den Do­ku­men­te (die am En­de ge­nannt wer­den) in ei­ner Art Do­ku-Dra­ma-Stil (oh­ne Fuß- oder End­no­ten). Um ei­ne grö­ße­re Un­mit­tel­bar­keit zu er­zeu­gen, schreibt er im Prä­sens. Kurz kommt ei­nem Flo­ri­an Il­lies’ »1913« in den Sinn, aber Witt­stock ver­fällt glück­li­cher­wei­se nicht den phan­tas­ma­go­rischen Zam­pa­no-Stil von Il­lies.

Nicht im­mer er­schei­nen Er­fin­dun­gen des Au­tors und die »Tat­sa­chen­be­rich­te« sau­ber ge­trennt. Manch­mal gibt es wer­ten­de (über­flüs­si­ge) Ein­schü­be, et­wa wenn ein­mal von den »be­sten Zei­tun­gen« die Re­de ist, bei de­nen je­mand ge­ar­bei­tet hat oder ei­ne Re­por­ta­ge »sen­sa­tio­nell« war. Das sind ver­mut­lich die »In­ter­pre­ta­ti­ons­frei­hei­ten«, von de­nen Witt­stock zu Be­ginn schreibt. Hin­zu kommt, dass mit­un­ter auch die Ori­gi­nal-Quel­len nicht im­mer hi­sto­risch zu­ver­läs­sig sind, et­wa wenn sie mit gro­ßen zeit­li­chen Ab­stand ver­fasst wur­den. Im Nach­wort gibt Witt­stock an, dass er, wenn mög­lich, Do­ku­men­te prä­fe­riert hat, die »par­al­lel zu den Er­eig­nis­sen ent­stan­den« sei­en.

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Karl Heinz Boh­rer: Was al­les so vor­kommt

Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt
Karl Heinz Boh­rer:
Was al­les so vor­kommt

»Drei­zehn all­täg­li­che Phan­ta­sie­stücke« wer­den in Karl Heinz Boh­rers neue­sten, post­hum er­schie­ne­nen Buch »Was al­les so vor­kommt« ver­spro­chen. Es be­ginnt auch so­gleich mit ei­ner für Boh­rer zum All­täg­li­chen ge­hö­ren­den Si­tua­ti­on: ei­ner Bahn­fahrt von Köln über Brüs­sel bis nach Lon­don. Nur, dass die in ei­nem Hit­zesom­mer statt­fin­det und, wie sich nach Stun­den her­aus­stellt, die Glei­se der­art von der Son­nen­ein­strah­lung mit­ge­nom­men sind, dass man gro­ße Um­we­ge und un­ge­wis­se Ver­spä­tun­gen zu er­tra­gen hat. »Das bis­her als si­cher­stes gel­ten­de Sy­stem, das so lan­ge Ver­trau­en er­wecken­de Ge­fährt, war au­ßer Kon­trol­le ge­ra­ten, oh­ne dass je­mand es er­klä­ren konn­te«, so die wahr­haft exi­sten­tia­li­sti­sche Er­fah­rung, die, wie er fast pa­the­tisch schreibt, auch sei­ne Er­fah­run­gen aus der Kriegs­zeit noch über­tref­fe.

Zwi­schen­durch fah­ren Boh­rer und (so nimmt man an) sei­ne Frau an Mön­chen­glad­bach vor­bei, pas­sie­ren im Schritt­tem­po Gei­len­kir­chen. Er kommt ins Schwär­men, wie er in der Ju­gend die­se Land­schaft für sich er­obert hat­te und rä­so­niert über die lei­der stark ge­sun­ke­ne Qua­li­tät der Rei­be­ku­chen vor dem Köl­ner Haupt­bahn­hof. Lang­sam ver­sa­gen die Kli­ma­an­la­gen; in der er­sten Klas­se zu­letzt. Schließ­lich er­rei­chen sie ei­nen Bahn­hof in Bel­gi­en, von dem er über die Dör­fer nach Brüs­sel geht. Auch hier kein Luft­aus­tausch mög­lich; brü­ten­de Hit­ze im Ste­hen. Statt am frü­hen Nach­mit­tag geht es um 23 Uhr ab Brüs­sel nach Lon­don. Ge­gen drei Uhr mor­gens sind die Boh­rers zu Hau­se.

Der Grund­ton die­ser klei­nen Ca­pric­ci­os – al­le zwi­schen 12 und 16 Sei­ten – ist hei­ter, aber nicht un­ernst, leicht und trotz­dem ge­halt­voll. Da­bei sind es häu­fig Re­mi­nis­zen­zen, Er­fah­run­gen, die Boh­rer kühn zwi­schen Oeu­vres von Fil­me­ma­chern, Li­te­ra­ten oder Künst­lern hin- und her­sprin­gen lässt und zu über­ra­schen­den Kreuz- und Quer-Ver­knüp­fun­gen und ‑Ab­lei­tun­gen führt. Ob er über Fil­me, Kin­der­bü­cher, Freund­schaf­ten, Schlaf­lo­sig­keit, das Res­sen­ti­ment, das Al­lein­sein oder Fuß­ball nach­denkt – vom all­ge­mei­nen geht es im­mer auch ins Per­sön­li­che. Und um Le­bens­bi­lan­zen, die et­was end­gül­ti­ges be­kom­men.

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No­ra Bos­song: Auch mor­gen

[...] Bos­song reist zu Pro­zes­sen von (po­ten­ti­el­len) Kriegs­ver­bre­chern, be­fin­det sich bei Freun­den in Ita­li­en oder dem Iran, be­sucht Ge­denk­fei­er­lich­kei­ten in Ru­an­da, spürt den Gelb­we­sten­pro­te­sten in Pa­ris nach, be­fragt Non­nen in drei Frau­en­klo­stern, um Re­si­du­en des Abend­lands fest­zu­hal­ten und möch­te er­fah­ren, was die Men­schen im Braun­koh­le­ge­biet der Lau­sitz den­ken. Und ja, ei­ni­ge we­ni­ge Auf­sät­ze in die­sem ...

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Phil­ipp Sa­ra­sin: 1977 – Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart

Philipp Sarasin: 1977 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Phil­ipp Sa­ra­sin: 1977 – Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart

Vor ei­ni­gen Jah­ren er­schien ein Buch mit dem Ti­tel »1976 – Die DDR in der Kri­se«. Der Au­tor Kar­sten Kram­pitz er­in­ner­te an Er­eig­nis­se, die ins­ge­samt (und rück­wir­kend) be­trach­tet ei­ne in­ter­es­san­te Ten­denz ein­läu­te­ten. Ne­ben der Aus­bür­ge­rung Wolf Bier­manns und dem Ar­rest des Re­gime­kri­ti­kers Ro­bert Ha­ve­mann, die auch im We­sten Deutsch­land aus­gie­big re­zi­piert wur­den, wa­ren es auch an­de­re Ent­wick­lun­gen, wie die Selbst­ver­bren­nung des Pa­stors Os­kar Brü­se­witz oder die sich in Frank­reich, Spa­ni­en und ins­be­son­de­re Ita­li­en im­mer stär­ke­re Rol­le der sich par­la­men­ta­risch or­ga­ni­sier­ten so­ge­nann­ten »eu­ro­kom­mu­ni­sti­schen« Par­tei­en, die mit dem Vor­rang der so­wje­ti­schen KPdSU bra­chen und da­mit die SED vor Pro­ble­men stell­ten. Be­ant­wor­tet wur­de dies, in dem Erich Hon­ecker auch noch Staats­rats­vor­sit­zen­der wur­de und nun, wie einst Ulb­richt, bei­de Macht­po­si­tio­nen be­klei­de­te. Kram­pitz ver­lei­tet den Le­ser mit den Vor­gän­gen des Jah­res 1976 in­ne zu hal­ten und sie in ei­nen hi­sto­ri­schen Kon­text zu stel­len. Die Ab­sicht war zwar, die DDR nicht vom En­de her zu den­ken, aber es ist un­wei­ger­lich – und auch der Te­nor des Bu­ches – dass sich 1976 erst­mals ei­ner brei­ten Öf­fent­lich­keit zeig­te, dass die­ser Staat kri­sen­haf­te Sym­pto­me aus­bil­de­te.

Die Ver­su­chung, hi­sto­ri­sche Wen­de­punk­te mit fe­sten Da­ten zu ver­knüp­fen und da­mit ei­ne Fol­ge­rich­tig­keit zu ent­wickeln, ist ver­füh­re­risch. So er­schien im letz­ten Jahr von dem Hi­sto­ri­ker Frank Bösch »Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann«, in dem welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als epo­chen- und zu­kunfts­bil­dend auf­ge­li­stet wur­den. Es ist tat­säch­lich leicht, in die­sem Jahr fün­dig zu wer­den: Die ira­ni­sche Re­vo­lu­ti­on, Mar­ga­ret That­cher wird bri­ti­sche Pre­mier­mi­ni­ste­rin, der Papst be­sucht sein Hei­mat­land Po­len, die So­wjet­uni­on mar­schiert in Af­gha­ni­stan ein, die kom­mu­ni­sti­schen San­di­ni­sten über­neh­men die Macht in Ni­ca­ra­gua, das Camp-Da­vid-Frie­dens­ab­kom­men zwi­schen Is­ra­el und Ägyp­ten wur­de von der Knes­set ge­bil­ligt, die Ver­ab­schie­dung des NA­TO-Dop­pel­be­schlus­ses und ein ge­wis­ser Deng Xiao­ping be­gann mit der Pla­nung für die öko­no­mi­schen Öff­nung Chi­nas.

Mit ei­ner ähn­li­chen Häu­fung nach­träg­lich als hi­sto­risch ein­ge­schätz­ter Ge­scheh­nis­se ver­mag das kürz­lich er­schie­ne­ne Buch von Phil­ipp Sa­ra­sin, »1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart«, nicht auf­zu­war­ten. Sa­ra­sin, der Böschs Buch er­wähnt, ver­sucht, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA, die sich…auf ei­ne er­staun­li­che Wei­se im Jahr 1977 bün­deln las­sen« zu il­lu­strie­ren. Be­reits im Vor­wort lässt er sich und dem Le­ser ein biss­chen Lei­ne, in dem er das ge­sam­te Jahr­zehnt der 1970er Jah­re als »Schwel­len­jahr­zehnt« aus­macht. Wie es im wei­te­ren Ver­lauf des Bu­ches Usus sein wird, lässt er al­len mög­li­chen Be­fun­den frei­en Lauf, so dass auch To­ny Judts – freund­lich aus­ge­drückt – merk­wür­di­ges Ur­teil zi­tiert wird, die Sieb­zi­ger sei­en das »de­pri­mie­rend­ste Jahr­zehnt« des 20. Jahr­hun­derts ge­we­sen.

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst

Hans Magnus Enzensberger: Fallobst - Nur ein Notizbuch
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Fall­obst – Nur ein No­tiz­buch

Fall­obst ge­hört, wie man nach­le­sen kann, zur Ka­te­go­rie »Wirt­schafts­obst«. Da­mit wird Obst be­zeich­net, wel­ches als Ta­fel­obst »nicht ge­eig­net«, aber den­noch und zur wei­te­ren Ver­ar­bei­tung oder Zu­be­rei­tung vor­ge­se­hen ist (wie z. B. als Most). Wenn je­mand wie Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger sei­ne No­ta­ten­samm­lung als »Fall­obst« be­zeich­net, ist das ein we­nig ei­tel. Was durch den Un­ter­ti­tel »Nur ein No­tiz­buch« fort­ge­setzt wird.

Es ist ein um­fang­rei­ches No­tiz­buch mit mehr als 360 Sei­ten, bis­wei­len auf­ge­lockert von Il­lu­stra­tio­nen des 2011 ver­stor­be­nen Bernd Bex­te, dem En­zens­ber­ger am Schluß ei­ne klei­ne Hom­mage wid­met. Die ein­zel­nen No­ta­te sind nicht da­tiert; mit et­was de­tek­ti­vi­schem Ge­spür lässt sich der Zeit­raum ir­gend­wo zwi­schen 2012 und 2018 ver­or­ten. Die Un­ter­tei­lung in drei »Kör­be« (der er­ste um­fasst da­bei fast 300 Sei­ten) wirkt et­was my­ste­ri­ös. Ge­gen En­de wer­den die No­ti­zen et­was aus­führ­li­cher.

Be­son­ders zu Be­ginn gibt es sehr vie­le Zi­ta­te. Der Grund­ton der ei­ge­nen No­ta­te ist hei­ter und lau­nig. Da sind ety­mo­lo­gi­sche Sprach­spie­le, die bis­wei­len in Li­sten mün­den. Bei­spiels­wei­se über »Sucht­ge­fah­ren« – d. h. Haupt­wör­ter, die mit »-sucht« er­gänzt wer­den kön­nen, oder auch »Lü­ste« auf »-lust«. Oder Su­che nach Wör­tern, die et­was mit »Spit­zen-« zu tun ha­ben. Auf­ga­ben, die man Gym­na­sia­sten stel­len könn­te. Hübsch die­se kur­ze Ab­hand­lung über die Kunst des »Schwur­belns«. Und es gibt so­gar ei­ne Auf­zäh­lung von be­son­ders »ge­lun­ge­nen« Schla­ger­rei­men. Be­grif­fe wie »Ho­heit«, »sa­lopp« oder auch das in­zwi­schen in­fla­tio­när ver­wen­de­te »gut auf­ge­stellt« wer­den auf­ge­spießt (er wür­digt en pas­sant die Jour­na­li­stin Ga­brie­le Gött­le für ihr Sprach­ge­fühl).

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Neu­es aus der Lam­by-Welt

Ge­stern gab es auf der ARD zur be­sten Sen­de­zeit wie­der ein­mal ei­ne Po­lit-Do­ku­men­ta­ti­on von Ste­phan Lam­by. Der Ti­tel »Die Not­re­gie­rung- Un­ge­lieb­te Ko­ali­ti­on« er­in­nert in Tei­len (un­frei­wil­lig?) an »Not­stands­re­gie­rung«, aber das hat wohl nur da­mit zu tun, dass ei­ni­ge Ta­ge zu­vor das Eu­ro­päi­sche Par­la­ment den »Kli­ma­not­stand« aus­ge­ru­fen hat­te.

Lam­bys Do­ku­men­ta­tio­nen gel­ten längst als Mei­len­stei­ne, wur­den mit Prei­sen de­ko­riert. Sie knüp­fen ger­ne ei­nen Bo­gen bis in die Ta­ges­ak­tua­li­tät hin­ein. So wur­de dies­mal auch noch das Er­geb­nis des Mit­glie­der­ent­scheids der SPD auf­ge­nom­men. Der Nach­teil die­ser Ak­tua­li­tät liegt dar­in, dass der zeit­li­che Ab­stand, der ei­ner­seits Re­fle­xio­nen er­mög­licht, an­de­rer­seits die Fol­gen der do­ku­men­tier­ten Er­eig­nis­se auf­zei­gen könn­te, kaum oder gar nicht mög­lich ist. Aber im­mer­hin wird so der Keim für den näch­sten Film der Lam­by-Welt ge­legt. Da­mit ent­steht ei­ne Rei­he, die die Erup­tio­nen und Pro­ble­me des po­li­ti­schen Deutsch­land der jüng­sten Ver­gan­gen­heit auf­zei­gen wer­den. Dem­nächst al­so viel­leicht in der DVD-Box: Deutsch­land in den 2010er Jah­ren.

Lam­by ge­lingt es, ei­ni­ge in­ter­es­san­te Prot­ago­ni­sten vor die Ka­me­ra zu be­kom­men. Aber mehr als zu den üb­li­chen Er­klä­run­gen langt es sel­ten. Horst See­ho­fer kri­ti­siert den Um­gang der Uni­on mit dem Re­zo-Vi­deo, wird aber nicht we­gen sei­ner Be­för­de­rungs­plä­ne des ehe­ma­li­gen Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­ten Maa­ßen be­fragt. Maa­ßen wie­der­um re­zi­tiert aus sei­nem Bild-In­ter­view, die ihm zum Ver­häng­nis ge­wor­de­nen, in­kri­mi­nie­ren­den Stel­len und spricht von »po­li­ti­schen Fein­den«. An­ne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er ge­steht, was sie al­les un­ter­schätzt ha­be. Lars Kling­beil und Ke­vin Küh­nert er­läu­tern die SPD-Müh­sal. Ar­min La­schet über­legt, ob es noch ein­mal ei­ne Gro­Ko ge­ben könn­te (man hät­te ihm ei­gent­lich ei­nen Ta­schen­rech­ner ge­ben müs­sen). Zur De­ko­ra­ti­on gab es noch Stim­men von Ali­ce Wei­del, Ro­bert Ha­beck (sehr prä­si­di­al!), Re­zo und An­na Moors, ei­ner 17jährigen FFF-Ak­ti­vi­stin, die als »Schü­le­rin« vor­ge­stellt wur­de.

Den ver­bor­ge­nen Kern in Lam­bys Film bil­den al­ler­dings die Ein­schät­zun­gen von Jour­na­li­sten. Dies­mal wa­ren es Me­la­nie Amann (Spie­gel) und Kri­sti­na Dunz (Rhei­ni­sche Post). Sie ga­ben In­ter­pre­ta­tio­nen ab, wo­bei un­klar ist, ob sie die Stel­lung­nah­men de­rer kann­ten, hin­ter bzw. vor de­nen ih­re Aus­sa­gen ge­schnit­ten wur­den. Ih­re fast im­mer po­lit-stra­te­gisch for­mu­lier­ten Ein­schät­zun­gen zei­gen, wie weit der Po­li­tik­be­trieb – und mit ihm die Jour­na­li­sten – von der Rea­li­tät au­ßer­halb des Raum­schiffs Ber­lin ab­ge­kop­pelt ist. Die Fra­ge, die fast zum Zer­fall der Frak­ti­ons­ge­mein­schaft der Uni­on ge­führt hät­te, wur­de eben auch durch die me­dia­le In­sze­nie­rung in un­zäh­li­gen Talk­shows in die Fast-Es­ka­la­ti­on be­trie­ben. Ähn­li­ches gilt für die Maa­ßen-Af­fä­re. Und es dürf­te auch für das so viel be­ach­te­te Re­zo-Vi­deo gel­ten, wel­ches im Mai das po­li­ti­sche Ber­lin ins Be­ben brach­te. Ge­gen En­de gab es noch die Ge­gen­über­stel­lung von Kramp-Kar­ren­bau­ers Vor­schlag für ei­ne Schutz­zo­ne in Sy­ri­en und dem Ge­gen­wort des Au­ßen­mi­ni­sters. Die The­se: Über­all Streit.

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