Der Mes­si­as der Mit­tel­schicht

Ge­dan­ken zu Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« und die Dis­kus­si­on hier­über

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab
Thi­lo Sar­ra­zin:
Deutsch­land schafft sich ab

I. Pro­log

Auf dem Hö­he­punkt der Wirt­schafts­kri­se, als der Steu­er­zah­ler (und nur der!) von der po­li­ti­schen Klas­se, die den Staat re­prä­sen­tiert, zum Bür­gen für des­sen selbst­ge­mach­te und selbst­ge­dul­de­te Feh­ler her­an­ge­zo­gen wur­de, ent­warf der Phi­lo­soph Pe­ter Slo­ter­di­jk in ei­nem sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ar­ti­kel ei­ne Ge­gen­welt: »Die ein­zi­ge Macht, die der Plün­de­rung der Zu­kunft Wi­der­stand lei­sten könn­te, hät­te ei­ne so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Neu­erfin­dung der ‘Ge­sell­schaft’ zur Vor­aus­set­zung. Sie wä­re nicht we­ni­ger als ei­ne Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand.« Ei­ne Ge­sell­schaft, in der fast aus­schließ­lich der flucht­un­fä­hi­ge Ein­kom­men­steu­er­zah­ler den Staat und da­mit des­sen Aus­ga­ben er­wirt­schaf­tet, wäh­rend die Ka­ste der Ex­trem­ver­die­ner sich mit Hil­fe der Po­li­tik längst aus der so­li­da­ri­schen Ver­ant­wor­tung ent­fernt hat und die Un­ter­schicht zu Trans­fer­emp­fän­gern ent­mün­digt wer­den, be­schreibt Slo­ter­di­jk mit dra­sti­schen Wor­ten: »So ist aus der selbsti­schen und di­rek­ten Aus­beu­tung feu­da­ler Zei­ten in der Mo­der­ne ei­ne bei­na­he selbst­lo­se, recht­lich ge­zü­gel­te Staats-Klep­to­kra­tie ge­wor­den. Ein mo­der­ner Fi­nanz­mi­ni­ster ist ein Ro­bin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung ge­lei­stet hat. Das Neh­men mit gu­tem Ge­wis­sen, das die öf­fent­li­che Hand be­zeich­net, recht­fer­tigt sich, ide­al­ty­pisch wie prag­ma­tisch, durch sei­ne un­ver­kenn­ba­re Nütz­lich­keit für den so­zia­len Frie­den – um von den üb­ri­gen Lei­stun­gen des neh­mend-ge­ben­den Staats nicht zu re­den.«

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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (IV)

««< Fol­ge III Fol­ge II Fol­ge I

Acht: Ly­ri­sche Gat­tun­gen; mit Schwer­punkt auf dem Lie­bes­lied so­wie ei­nem Ex­kurs über den Um­gang mit Lie­bes­leid und über an­di­ne Hoch­zeits­bräu­che.

Da uns die Chro­ni­sten Ge­be­te und Hym­nen in Pro­sa über­setzt ha­ben, zwei­feln man­che Au­toren an, dass der Vers über­haupt exi­stiert hat. Dies steht nun für mich au­sser Fra­ge; man weiss nur nicht, in­wie­weit die Über­tra­gun­gen an spa­ni­sche Me­tren an­ge­passt wur­den. Gar­ci­la­so spricht von „kur­zen und lan­gen Ver­sen“ und von „Sil­ben als Mass“. Wei­ter sagt Gar­ci­la­so: „No us­aron de con­so­nan­te en los versos, to­dos eran suel­tos.” Ich kann mir dar­auf nur ei­nen Reim ma­chen, wenn ich “con­so­nan­te” als “Gleich­klang“ über­set­ze, was dann hie­sse, dass kein Reim ver­wen­det wur­de.

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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (III)

«« Fol­ge II , Fol­ge I

Fünf: Das Haus des Wis­sens; Auf­ga­ben und Aus­bil­dung der Dich­ter, Phi­lo­so­phen, Prie­ster und Hof­schrei­ber.

Der Dich­ter im en­ge­ren Sin­ne heisst ha­r­auec, wört­lich „Er­fin­der“. Er „giesst die Ge­schich­te in Ver­se“ (Gar­ci­la­so). Sein Auf­ga­ben­ka­ta­log lässt sich aber nicht sau­ber ab­gren­zen zu an­de­ren Be­ru­fen. Der amau­ta, Phi­lo­soph, kom­po­niert eben­falls, ins­be­son­de­re Ko­mö­di­en und Tra­gö­di­en für den Hof und für Fest­ta­ge. Er fasst hi­sto­ri­sche Ge­schich­ten und Fa­beln in Pro­sa, gibt sie münd­lich wei­ter und stellt die kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung si­cher. Der amau­ta ist je­doch zu­gleich Wis­sen­schaft­ler und als sol­cher zu­stän­dig für Astro­lo­gie, Land­wirt­schaft, Mas­se und Ge­wich­te und die Ar­chi­tek­tur. Die Prie­ster­klas­se, mit Hym­nen, Ge­be­ten, An­ru­fun­gen und Ri­tua­len be­fasst, un­ter­teilt sich in meh­re­re hier­ar­chi­sche Stu­fen, bei­spiels­wei­se achi (Wahr­sa­ger) und omos (Ma­gi­er). Den quipu­ca­ma­yoc könn­te man viel­leicht als Schrei­ber oder Buch­hal­ter be­zeich­nen. Er führt die An­na­len und Wirt­schafts­sta­ti­sti­ken, hält aber auch Ge­set­zes­tex­te, An­wei­sun­gen für Ri­tua­le, jähr­li­che Be­rich­te aus den Pro­vin­zen und li­te­ra­ri­sche Er­zäh­lun­gen fest.

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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (II)

«< Fol­ge I

Drei: Gram­ma­tik und Kos­mo­vi­si­on des ru­na si­mi, ein me­di­zi­ni­scher Rat­ge­ber und wie mich um ein Haar hua­ca ge­streift hät­te.

Im ru­na si­mi (ge­nau­ge­nom­men han­delt es sich um ei­ne Grup­pe von 18 nah ver­wand­ten Spra­chen) of­fen­bart sich ei­ne Über­macht des ana­lo­gen über das de­duk­ti­ve Den­ken. Das Af­fek­ti­ve über­wiegt das Ra­tio­na­le, wes­halb die Spra­che kaum ab­strak­te Sub­stan­ti­ve kennt, da­für aber ei­ne rie­si­ge Fül­le von oft na­tur­be­zo­ge­nen Bil­dern und Me­ta­phern. Das ru­na si­mi ist ei­ne ag­glu­ti­nie­ren­de Spra­che mit nur we­ni­gen Re­gel­ab­wei­chun­gen in der Gram­ma­tik, ver­langt aber vom Spre­cher äu­sser­ste Prä­zi­si­on. Die üb­li­che Syn­tax ist Sub­jekt – Ob­jekt – Prä­di­kat, oh­ne da­bei je­doch starr zu sein. Fast im­mer liegt die Be­to­nung auf der zweit­letz­ten Sil­be, die beim An­fü­gen von Suf­fi­xen mit nach hin­ten wan­dert. Satz­zei­chen sind in­so­fern über­flüs­sig, als je­der Satz durch die Kom­bi­na­ti­on sei­ner Suf­fi­xe sei­ne ex­ak­te Be­stim­mung er­hält; Aus­sa­ge­satz und Fra­ge­satz bei­spiels­wei­se un­ter­schei­den sich nicht in ih­rer Satz­me­lo­die. Eben­so wer­den Be­to­nun­gen durch Suf­fi­xe aus­ge­drückt.

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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (I)

Pro­log

Apo­lo­gie an ent­setz­te Wis­sen­schaft­s­pu­ri­sten

Ich ha­be in mei­ner Ju­gend lan­ge ge­nug (natur)wissenschaftlich ge­ar­bei­tet. Jetzt ge­nie­sse ich die Nar­ren­frei­heit des Al­ters und neh­me mir her­aus, mich nur noch mit Din­gen zu be­fas­sen, die mich wirk­lich in­ter­es­sie­ren (mehr noch: die ich lie­be), und dies vor al­lem auf ei­ne Wei­se, die mir ent­spricht. Ich mag nicht ei­nen ein­zi­gen wei­te­ren Tag mei­nes Rest­le­bens in Ernst­haft ver­brin­gen. Ei­ner­seits ha­be ich den Dog­men der Wis­sen­schaft („ob­jek­tiv, re­pro­du­zier­bar, wert­frei“) längst ab­ge­schwo­ren, denn sie sind pu­re Lü­ge und Selbst­täu­schung, an­de­rer­seits wä­re es oh­ne­hin ver­mes­sen, ei­ne Ar­beit auf ei­nem Ge­biet, in dem ich nicht qua­li­fi­ziert bin, als „wis­sen­schaft­lich“ zu be­zeich­nen. Ich ste­he, ganz in Mon­tai­gnes Tra­di­ti­on, zu ra­di­ka­ler Sub­jek­ti­vi­tät, auch wenn ich nicht den Schneid vor­wei­sen kann, der ei­nem raf­fi­nier­ten Es­say­isten an­ste­hen wür­de. Ich ver­ber­ge per­sön­li­che Vor­lie­ben und Ab­nei­gun­gen nicht, er­grei­fe Par­tei, beu­te die ei­ge­ne In­tui­ti­on, Er­fah­rung und das Hö­ren­sa­gen ge­nau­so aus wie die Quel­len­tex­te, fal­le mir mun­ter selbst ins Wort, schwei­fe ab, wo et­was zu span­nend ist, um es zu un­ter­schla­gen, ob­wohl es schein­bar nicht zum Kon­text ge­hört, und las­se auch mal Fün­fe gra­de sein, wenn sich die Re­fe­ren­zen wi­der­spre­chen und die Re­cher­che vom Hun­dert­sten ins Tau­send­ste führt. Da­bei ver­su­che ich aber, ganz wahr­haf­tig und ein biss­chen se­ri­ös zu blei­ben – wo kei­ne Ver­si­on schö­ner ist als die an­de­re, ra­te ich si­cher nicht ins Blaue hin­aus, son­dern prak­ti­zie­re den Über­mut zur Lücke. Für all die ele­gan­ten Un­schär­fen über­neh­me ich die vol­le Ver­ant­wor­tung. Ich wa­ge zu be­haup­ten, dass die­se Vor­ge­hens­wei­se durch­aus im Sin­ne der an­di­nen Dich­ter und Sän­ger und über­haupt kom­pa­ti­bel mit dem Geist des ru­na si­mi ist.

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Ro­ger Wil­lem­sen: Der Knacks

Der Ti­tel klingt ei­gent­lich harm­los: »Der Knacks«. Und ob­wohl Ro­ger Wil­lem­sen gleich am An­fang vom Ster­ben und Tod sei­nes Va­ters er­zählt (er ist zu die­sem Zeit­punkt 15 Jah­re alt), ent­steht zu­nächst der Ein­druck ei­ner Art feuil­­le­to­­ni­­stisch-apho­ri­­sti­­schen Phä­no­me­no­lo­gie. Die Sen­ten­zen sind klin­gend, manch­mal so­gar lu­zi­de; ge­le­gent­lich fast zu schön. Aber im­mer wei­ter wird man in den ...

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Ver­such über die Wahr­heits­mi­ni­ster

Ex­kurs I – 1984

Sie sind hier, weil Sie es an De­mut, an Selbst­dis­zi­plin ha­ben feh­len las­sen. Sie woll­ten den Akt der Un­ter­wer­fung nicht voll­zie­hen, der der Preis ist für gei­sti­ge Ge­sund­heit. Sie zo­gen es vor, ein Ver­rück­ter, ei­ne Min­der­heit von ei­nem ein­zel­nen zu sein. Nur der ge­schul­te Geist er­kennt die Wirk­lich­keit, Win­s­ton. Sie glau­ben, Wirk­lich­keit sei et­was Ob­jek­ti­ves, äu­sser­lich Vor­han­de­nes, aus ei­ge­nem Recht Be­stehen­des. Auch glau­ben Sie, das We­sen der Wirk­lich­keit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbst­täu­schung hin­ge­ben, et­was zu se­hen, neh­men Sie an, je­der­mann se­he das glei­che wie Sie. Aber ich sa­ge Ih­nen, Win­s­ton, die Wirk­lich­keit ist nicht et­was an sich Vor­han­de­nes. Die Wirk­lich­keit exi­stiert im mensch­li­chen Den­ken und nir­gend­wo an­ders. Nicht im Den­ken des ein­zel­nen, der ir­ren kann und auf je­den Fall bald zu­grun­de geht: nur im Den­ken der Par­tei, die kol­lek­tiv und un­sterb­lich ist. Was im­mer die Par­tei für Wahr­heit hält, ist Wahr­heit. Es ist un­mög­lich, die Mög­lich­keit an­ders als durch die Au­gen der Par­tei zu se­hen. Die­se Tat­sa­che müs­sen Sie wie­der ler­nen, Win­s­ton. Da­zu be­darf es ei­nes Ak­tes der Selbst­auf­ga­be, ei­nes Wil­lens­auf­wan­des. Sie müs­sen sich de­mü­ti­gen, ehe Sie gei­stig ge­sund wer­den kön­nen.

In ei­nem Punkt ist Or­wells Zu­kunfts­phan­ta­sie längst Rea­li­tät ge­wor­den: Die Wahr­heits­mi­ni­ster sind un­ter uns. Sie sind so zahl­reich und so mäch­tig, dass sie den Dis­kurs, das öf­fent­li­che Dis­ku­tie­ren kon­tro­ver­ser The­men seit Jah­ren, seit Jahr­zehn­ten be­stim­men. Das Phi­li­ster­tum der Wahr­heits­mi­ni­ster ist nicht zu ver­wech­seln mit dem, was man als (wis­sen­schaft­lich be­leg­ten oder mo­ra­lisch er­ar­bei­te­ten) Kon­sens be­zeich­net. Wahr­heits­mi­ni­ster be­grün­den Wahr­hei­ten über das kon­sen­su­el­le ei­ner Ge­sell­schaft hin­aus. Sie sind nicht nur die Tür­hü­ter, sie sind die Ex­ege­ten des Kon­sens. Sie in­ter­pre­tie­ren ihn aus, rich­ten da­bei über gut und bö­se, über rich­tig und falsch. Dau­men hoch oder Dau­men run­ter. Wahr­heits­mi­ni­ster sind da­bei nicht zu ver­wech­seln mit dem ver­gleichs­wei­se harm­lo­sen Main­stream. Wan­kel­mü­tig sind sie sel­ten; nur die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti­schen ver­lei­tet sie ge­le­gent­lich da­zu, ih­re Wahr­hei­ten an­zu­pas­sen.

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

Was „Schreckens Män­ner“ am An­fang in­ter­es­sant macht, ist, dass En­zens­ber­ger ver­sucht, ei­ne Ty­po­lo­gie des fru­strier­ten, ge­schei­ter­ten und dann „aus­ra­sten­den“ Mes­ser­ste­chers, Mör­ders oder Amok­läu­fers zu ent­wer­fen, oh­ne mit dem er­ho­be­nen Zei­ge­fin­ger in alt­lin­ker Ma­nier aus­schliess­lich „die Ge­sell­schaft“ ver­ant­wort­lich zu ma­chen. Sein Ver­such geht da­hin, die per­sön­li­chen Um­stän­de des­je­ni­gen zu hin­ter­fra­gen, oh­ne in psy­cho­lo­gi­sche, vor al­lem je­doch so­zio­lo­gi­sche Deu­tungs­mu­ster zu ver­fal­len (letz­te­res de­zi­diert – er­ste­res schei­tert zwangs­läu­fig [so­viel muss vor­weg­ge­nom­men wer­den]).

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