Muße. Sieht man sich dieses angestaubte, veraltete Wort einmal genau an, dann erkennt man eine Subversivität, die in der Entspannung bereits beschnitten ist, weil sie zu dicht an die Widersprüche, Missverständnisse und Verirrungen unserer Tage heran reicht. Florian Illies sieht diese Verhältnisse, ihre „kapitalistischen“ Bedingungen, aber er verlässt sie nicht, und deutet einen Gegenentwurf, wenn überhaupt, nur vage an.
Essay
Der Messias der Mittelschicht
Gedanken zu Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« und die Diskussion hierüber

Deutschland schafft sich ab
I. Prolog
Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als der Steuerzahler (und nur der!) von der politischen Klasse, die den Staat repräsentiert, zum Bürgen für dessen selbstgemachte und selbstgeduldete Fehler herangezogen wurde, entwarf der Philosoph Peter Sloterdijk in einem sehr kontrovers diskutierten Artikel eine Gegenwelt: »Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der ‘Gesellschaft’ zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand.« Eine Gesellschaft, in der fast ausschließlich der fluchtunfähige Einkommensteuerzahler den Staat und damit dessen Ausgaben erwirtschaftet, während die Kaste der Extremverdiener sich mit Hilfe der Politik längst aus der solidarischen Verantwortung entfernt hat und die Unterschicht zu Transferempfängern entmündigt werden, beschreibt Sloterdijk mit drastischen Worten: »So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden – um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden.«
Versuch über die Dichtkunst im Inkareich (IV)
««< Folge III – Folge II – Folge I
Acht: Lyrische Gattungen; mit Schwerpunkt auf dem Liebeslied sowie einem Exkurs über den Umgang mit Liebesleid und über andine Hochzeitsbräuche.
Da uns die Chronisten Gebete und Hymnen in Prosa übersetzt haben, zweifeln manche Autoren an, dass der Vers überhaupt existiert hat. Dies steht nun für mich ausser Frage; man weiss nur nicht, inwieweit die Übertragungen an spanische Metren angepasst wurden. Garcilaso spricht von „kurzen und langen Versen“ und von „Silben als Mass“. Weiter sagt Garcilaso: „No usaron de consonante en los versos, todos eran sueltos.” Ich kann mir darauf nur einen Reim machen, wenn ich “consonante” als “Gleichklang“ übersetze, was dann hiesse, dass kein Reim verwendet wurde.
Versuch über die Dichtkunst im Inkareich (III)
Fünf: Das Haus des Wissens; Aufgaben und Ausbildung der Dichter, Philosophen, Priester und Hofschreiber.
Der Dichter im engeren Sinne heisst harauec, wörtlich „Erfinder“. Er „giesst die Geschichte in Verse“ (Garcilaso). Sein Aufgabenkatalog lässt sich aber nicht sauber abgrenzen zu anderen Berufen. Der amauta, Philosoph, komponiert ebenfalls, insbesondere Komödien und Tragödien für den Hof und für Festtage. Er fasst historische Geschichten und Fabeln in Prosa, gibt sie mündlich weiter und stellt die kollektive Erinnerung sicher. Der amauta ist jedoch zugleich Wissenschaftler und als solcher zuständig für Astrologie, Landwirtschaft, Masse und Gewichte und die Architektur. Die Priesterklasse, mit Hymnen, Gebeten, Anrufungen und Ritualen befasst, unterteilt sich in mehrere hierarchische Stufen, beispielsweise achi (Wahrsager) und omos (Magier). Den quipucamayoc könnte man vielleicht als Schreiber oder Buchhalter bezeichnen. Er führt die Annalen und Wirtschaftsstatistiken, hält aber auch Gesetzestexte, Anweisungen für Rituale, jährliche Berichte aus den Provinzen und literarische Erzählungen fest.
Versuch über die Dichtkunst im Inkareich (II)
Drei: Grammatik und Kosmovision des runa simi, ein medizinischer Ratgeber und wie mich um ein Haar huaca gestreift hätte.
Im runa simi (genaugenommen handelt es sich um eine Gruppe von 18 nah verwandten Sprachen) offenbart sich eine Übermacht des analogen über das deduktive Denken. Das Affektive überwiegt das Rationale, weshalb die Sprache kaum abstrakte Substantive kennt, dafür aber eine riesige Fülle von oft naturbezogenen Bildern und Metaphern. Das runa simi ist eine agglutinierende Sprache mit nur wenigen Regelabweichungen in der Grammatik, verlangt aber vom Sprecher äusserste Präzision. Die übliche Syntax ist Subjekt – Objekt – Prädikat, ohne dabei jedoch starr zu sein. Fast immer liegt die Betonung auf der zweitletzten Silbe, die beim Anfügen von Suffixen mit nach hinten wandert. Satzzeichen sind insofern überflüssig, als jeder Satz durch die Kombination seiner Suffixe seine exakte Bestimmung erhält; Aussagesatz und Fragesatz beispielsweise unterscheiden sich nicht in ihrer Satzmelodie. Ebenso werden Betonungen durch Suffixe ausgedrückt.
Versuch über die Dichtkunst im Inkareich (I)
Prolog
Apologie an entsetzte Wissenschaftspuristen
Ich habe in meiner Jugend lange genug (natur)wissenschaftlich gearbeitet. Jetzt geniesse ich die Narrenfreiheit des Alters und nehme mir heraus, mich nur noch mit Dingen zu befassen, die mich wirklich interessieren (mehr noch: die ich liebe), und dies vor allem auf eine Weise, die mir entspricht. Ich mag nicht einen einzigen weiteren Tag meines Restlebens in Ernsthaft verbringen. Einerseits habe ich den Dogmen der Wissenschaft („objektiv, reproduzierbar, wertfrei“) längst abgeschworen, denn sie sind pure Lüge und Selbsttäuschung, andererseits wäre es ohnehin vermessen, eine Arbeit auf einem Gebiet, in dem ich nicht qualifiziert bin, als „wissenschaftlich“ zu bezeichnen. Ich stehe, ganz in Montaignes Tradition, zu radikaler Subjektivität, auch wenn ich nicht den Schneid vorweisen kann, der einem raffinierten Essayisten anstehen würde. Ich verberge persönliche Vorlieben und Abneigungen nicht, ergreife Partei, beute die eigene Intuition, Erfahrung und das Hörensagen genauso aus wie die Quellentexte, falle mir munter selbst ins Wort, schweife ab, wo etwas zu spannend ist, um es zu unterschlagen, obwohl es scheinbar nicht zum Kontext gehört, und lasse auch mal Fünfe grade sein, wenn sich die Referenzen widersprechen und die Recherche vom Hundertsten ins Tausendste führt. Dabei versuche ich aber, ganz wahrhaftig und ein bisschen seriös zu bleiben – wo keine Version schöner ist als die andere, rate ich sicher nicht ins Blaue hinaus, sondern praktiziere den Übermut zur Lücke. Für all die eleganten Unschärfen übernehme ich die volle Verantwortung. Ich wage zu behaupten, dass diese Vorgehensweise durchaus im Sinne der andinen Dichter und Sänger und überhaupt kompatibel mit dem Geist des runa simi ist.
Roger Willemsen: Der Knacks
Der Titel klingt eigentlich harmlos: »Der Knacks«. Und obwohl Roger Willemsen gleich am Anfang vom Sterben und Tod seines Vaters erzählt (er ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt), entsteht zunächst der Eindruck einer Art feuilletonistisch-aphoristischen Phänomenologie. Die Sentenzen sind klingend, manchmal sogar luzide; gelegentlich fast zu schön. Aber immer weiter wird man in den ...
Versuch über die Wahrheitsminister
Sie sind hier, weil Sie es an Demut, an Selbstdisziplin haben fehlen lassen. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis ist für geistige Gesundheit. Sie zogen es vor, ein Verrückter, eine Minderheit von einem einzelnen zu sein. Nur der geschulte Geist erkennt die Wirklichkeit, Winston. Sie glauben, Wirklichkeit sei etwas Objektives, äusserlich Vorhandenes, aus eigenem Recht Bestehendes. Auch glauben Sie, das Wesen der Wirklichkeit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbsttäuschung hingeben, etwas zu sehen, nehmen Sie an, jedermann sehe das gleiche wie Sie. Aber ich sage Ihnen, Winston, die Wirklichkeit ist nicht etwas an sich Vorhandenes. Die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken und nirgendwo anders. Nicht im Denken des einzelnen, der irren kann und auf jeden Fall bald zugrunde geht: nur im Denken der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Möglichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache müssen Sie wieder lernen, Winston. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes. Sie müssen sich demütigen, ehe Sie geistig gesund werden können.
In einem Punkt ist Orwells Zukunftsphantasie längst Realität geworden: Die Wahrheitsminister sind unter uns. Sie sind so zahlreich und so mächtig, dass sie den Diskurs, das öffentliche Diskutieren kontroverser Themen seit Jahren, seit Jahrzehnten bestimmen. Das Philistertum der Wahrheitsminister ist nicht zu verwechseln mit dem, was man als (wissenschaftlich belegten oder moralisch erarbeiteten) Konsens bezeichnet. Wahrheitsminister begründen Wahrheiten über das konsensuelle einer Gesellschaft hinaus. Sie sind nicht nur die Türhüter, sie sind die Exegeten des Konsens. Sie interpretieren ihn aus, richten dabei über gut und böse, über richtig und falsch. Daumen hoch oder Daumen runter. Wahrheitsminister sind dabei nicht zu verwechseln mit dem vergleichsweise harmlosen Mainstream. Wankelmütig sind sie selten; nur die normative Kraft des Faktischen verleitet sie gelegentlich dazu, ihre Wahrheiten anzupassen.