Ver­hül­lung und Mo­der­ne

Als ich noch in Neu­bau, im sieb­ten Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk, in ei­nem für die­se Ge­gend un­ty­pi­schen Haus wohn­te, er­fuhr ich was das Ver­hül­len von Kopf, Ge­sicht und Kör­per, je nach Voll­stän­dig­keit und Blick­win­kel des Be­trach­ters, be­deu­ten kann: Ich war da­mals mit ei­ner jun­gen, tsche­tsche­ni­schen Nach­ba­rin in Kon­takt ge­kom­men, die sich wie ei­ni­ge an­de­re Be­woh­ner des Hau­ses in des­sen Hof bei schö­nem Wet­ter zum Spie­len, Trat­schen und Kaf­fee­trin­ken ein­fan­den.

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Aus­lö­schung (3)

— Teil 2

3

Ich ha­be von Kul­tur ge­spro­chen. Ge­nau­er, von kul­tu­rel­len Pro­duk­ten als wirt­schaft­li­chem Ein­satz, Exi­stenz­grund­la­ge welt­weit tä­ti­ger Fir­men. Des­halb der Ei­fer und Über­ei­fer, mit dem heu­te Ei­gen­tums­rech­te an letzt­lich im­ma­te­ri­el­len Din­gen wie Fil­me und Pop­songs, Fi­gu­ren und Ti­tel, Slo­gans und De­signs gel­tend ge­macht wer­den. In un­se­ren Köp­fen hallt die Dro­hung, wer ei­nen Film ko­pie­re, wer­de mit fünf Jah­ren Ge­fäng­nis be­straft. Und ein Groß­teil der Kon­su­men­ten-Pro­du­zen­ten, der Nut­zer und Selbst­dar­stel­ler, der Kun­den und Kö­ni­ge macht mit beim Ge­ze­ter, »das ge­hört doch mir« und »ich ha­be da­für be­zahlt« und »ich will das Geld, das mir zu­steht«. Der so­ge­nann­te Neo­li­be­ra­lis­mus ist tief in die Köp­fe und Her­zen ein­ge­drun­gen, um dort Wur­zeln zu schla­gen. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben nicht nur un­ter dem Ein­druck der Mas­sen­be­tö­rung durch den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, son­dern gleich­zei­tig un­ter dem nach­hal­ti­ge­ren Ein­druck von Hol­ly­wood und dem begin­nenden Fern­se­hen ih­re Theo­rie von der Gleich­schal­tung durch die Kul­tur­in­du­strie ent­wickelt. Die Theo­rie wur­de in un­ge­ahn­tem Aus­maß von den nach und nach geschaf­fenen Fak­ten be­stä­tigt. Mo­zart und Beet­ho­ven wür­den von die­ser In­du­strie al­lein zu Wer­be­zwecken ein­ge­setzt, mein­ten die ra­di­ka­len Kri­ti­ker. Sie konn­ten sich ver­mut­lich nicht vor­stel­len, daß man sich ei­nes Ta­ges in der Öf­fent­lich­keit – und teils in pri­va­ten Haus­hal­ten – gar nicht mehr be­we­gen kann, oh­ne von aku­sti­scher Kul­tur, durch­bro­chen von Wer­be­slo­gans, um­fan­gen zu wer­den. Frei­lich nicht von Wer­ken Mo­zarts oder Beet­ho­vens, son­dern von seich­te­ster Pop­mu­sik. Ei­ner Pop­mu­sik, die in den fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­ren als Ge­gen­kul­tur an­trat, in­zwi­schen aber na­he­zu rest­los von der mu­sik­in­du­stri­el­len Herr­schafts­kul­tur ge­ka­pert wor­den ist. Der vi­su­el­le Sie­ges­zug des Fern­se­hens und des­sen gei­sti­ge Fol­gen wur­den in den acht­zi­ger Jah­ren von Neil Post­man be­schrie­ben. Fern­seh­sta­tio­nen sind seit­her ins Kraut ge­schos­sen, es gibt kei­ne Se­kun­de am Tag, in der die Bil­der­flut nicht auf den Kon­su­men­ten, den User lau­ern wür­de. Die di­gi­ta­le Ver­net­zung hat die Vor­herr­schaft des Vi­su­el­len nur ver­schärft. In den Zei­ten vor der Ein­füh­rung der Schul­pflicht und der Er­fin­dung des Buch­drucks war die Ge­sell­schaft in ei­nen li­te­ra­ten und ei­nen il­li­te­ra­te Be­völ­ke­rungs­teil ge­spal­ten; die Schrif­tun­kun­di­gen spei­ste man mit Bil­dern ab, um ih­nen die Grund­la­gen der Kul­tur im Scho­ße der christ­lichen Re­li­gi­on zu ver­mit­teln. Heu­te wen­det sich die gro­ße Be­völ­ke­rungs­mehr­heit wie­der den Bil­dern zu, oh­ne Zwang und auch nicht, weil sie gar kei­ne Wahl hät­te, son­dern weil mu­si­ka­lisch un­ter­mal­te Bil­der leich­ter und ra­scher kon­su­mier­bar sind, da sie kein in­tel­lek­tu­el­les En­ga­ge­ment ver­lan­gen. Be­quem­lich­keit über al­les: wie sol­len da Mut und Tä­tig­keits­drang ge­dei­hen? Touch­screens und aku­sti­sche Sen­so­ren wer­den die Spal­tung lang­fri­stig ver­schär­fen, An­alpha­be­tis­mus könn­te ein ech­tes Pro­blem nicht nur an den Rän­dern der Ge­sell­schaft wer­den. War­um le­sen und schrei­ben, wo doch schau­en, hö­ren und be­rüh­ren ge­nügt?

Im­ma­nu­el Kant hat­te in sei­ner Schrift zur Be­ant­wor­tung der Fra­ge »Was ist Auf­klä­rung?« den selb­stän­di­gen Ge­brauch des ei­ge­nen Ver­stan­des als Vor­aus­set­zung für Mün­dig­keit und da­mit letzt­lich für De­mo­kra­tie dar­ge­stellt und an die Schrift­kul­tur ge­bun­den. Ver­kümmert die zwi­schen dem 18. und 20. Jahr­hun­dert ge­fe­stig­te Schrift­kul­tur, ver­küm­mern Mün­dig­keit und De­mo­kra­tie. Un­mün­dig­keit, schlich­ter ge­sagt: Dumm­heit, ist mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­fas­sung, wie Kant und die Auf­klä­rer sie an­streb­ten, nicht ver­ein­bar. Die Kul­tur­in­du­strie för­dert je­doch die Un­mün­dig­keit, in­dem sie nicht den Ver­stand, son­dern aus­schließ­lich Emo­tio­nen, Sin­ne und Trie­be an­spricht. Je stär­ker ge­wis­se Trie­be in­vol­viert wer­den, de­sto bes­ser für das Ge­schäft. Der pop­kul­tu­rel­le Kon­sum­ka­pi­ta­lis­mus heu­ti­ger Ta­ge er­zeugt und för­dert Süch­te nicht nur in Spiel­hal­len und in der Splat­ter-Ab­tei­lung der har­ten Dro­gen, son­dern an al­len Fron­ten, be­son­ders im Netz. So sieht das vor­läu­fi­ge End­sta­di­um der um­fas­sen­den »Kul­tu­ra­li­sie­rung« aus, die der Ent­wick­lung von ei­nem auf Pro­duk­ti­on und Ar­beit, Maß und Ver­nunft, so­zia­ler Dis­zi­plin und per­sön­li­cher Selbst­be­herr­schung ori­en­tier­ten Ka­pi­ta­lis­mus zu ei­nem kon­su­mi­sti­schen und hedonis­tischen, hy­per­ak­ti­ven und zu­gleich an­ge­paß­ten, au­gen­blicksver­haf­te­ten, ge­schichts­lo­sen Per­sön­lich­keits­mo­dell im Rah­men der post­mo­der­nen Wirt­schafts­form ent­spricht und dient.

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Aus­lö­schung (2)

— Teil 1

2

Kid­za­nia ist ein vor­sint­flut­li­cher Spiel­kon­ti­nent, er­rich­tet und be­trie­ben mit den Mit­teln mo­dern­ster Tech­nik und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Die Kin­der ge­hen dort hin, um spie­lend zu ar­bei­ten, al­so die Tä­tig­kei­ten der Er­wach­se­nen zu imi­tie­ren, dar­un­ter sol­che, für die in der Er­wach­se­nen­wirk­lich­keit gar kein Per­so­nal mehr be­nö­tigt wird. Die mei­sten be­glei­ten­den El­tern oder Groß­el­tern tun ih­re Pflicht, in­dem sie di­gi­ta­le Re­pro­duk­ti­ons­tech­ni­ken – Ka­me­ras, Han­dys – zum Ein­satz brin­gen und die Klei­nen bei ih­ren Tä­tig­kei­ten photo­graphieren und fil­men, was in der Re­gel ein Selbst­zweck ist, in­so­fern die Über­fül­le der ge­spei­cher­ten Bil­der in der Zu­kunft die­ser Fa­mi­li­en in vir­tu­el­len Ab­stell­kam­mern ver­stau­ben wird (um ei­ne vor­sint­flut­li­che Me­ta­pher zu ge­brau­chen). Das Ab­lich­ten selbst ist ein Ri­tu­al, ei­ne Art Spiel, das die Ge­pflo­gen­hei­ten in ei­ner tech­ni­sier­ten Kon­sum­welt be­dient. An­de­re An­ge­hö­ri­ge sit­zen in ei­ner Ecke der Kin­der­stadt auf ei­ner Ru­he­bank für Er­wach­se­ne und be­schäf­ti­gen sich mit ih­ren Smart­phones. Ein paar Mi­nu­ten lang ha­be ich ei­nem Va­ter über die Schul­ter ge­schaut, der ei­nes die­ser bun­ten Spie­le spiel­te, wo man be­weg­li­che ab­strak­te For­men ord­nen und Hin­der­nis­sen aus­wei­chen muß. Wäh­rend sein Sohn mit größ­tem Ei­fer die Rol­le ei­nes Po­li­zi­sten aus­füll­te, lüm­mel­te der Va­ter da und gab sich der Be­schäf­ti­gung hin, die ver­mut­lich ei­nen Groß­teil sei­ner Frei­zeit zu Hau­se, im Zug im Au­to oder in der Mit­tags­pau­se aus­füllt. Der Sohn wird die­sen Grad der In­fan­ti­li­sie­rung erst im Er­wach­se­nen­al­ter er­rei­chen. Einst­wei­len hängt er in sei­nem ern­sten Spiel der Il­lu­si­on nach, in der Welt der Vä­ter wür­den ver­nünf­ti­ge und be­deut­sa­me Din­ge ge­schehen, zu der je­des wert­vol­le Ge­sell­schafts­mit­glied sei­nen Bei­trag zu lei­sten ha­be.

Ich selbst spie­le kei­ne sol­chen Games. Al­ler­dings be­steht ein Teil mei­ner Un­ter­hal­tung dar­in, spiel­ver­ses­se­ne Er­wach­se­ne zu or­ten, sie zu be­ob­ach­ten und mich in­ner­lich über die­se Art von Kul­tur zu er­re­gen. Ich su­che nicht nach Po­ke­mons, son­dern ver­fol­ge Po­ke­mon-go-Spie­ler. Ei­ner, auf ei­nem Bahn­steig in Osa­ka, tat es ver­steckt, hin­ter dem Rücken sei­ner et­wa vier­jäh­ri­gen Toch­ter. So las­se ich mich selbst, er­klär­ter Geg­ner der In­fan­ti­li­sie­rung, in mei­nem täg­li­chen Ver­hal­ten von der tech­no­lo­gi­schen Ver­spielt­heit be­herr­schen. Wahr­schein­lich wä­re es bes­ser, klein bei­zu­ge­ben, mir ein Smart­phone oder Ta­blet zu kau­fen und mich ir­gend­wel­chen die­ser Spie­le hin­zu­ge­ben. Kri­ti­sche be­ob­ach­ten oder ein­fach mit­tun, das macht letzt­lich gar kei­nen Un­ter­schied. Au­ßer viel­leicht den, daß man nur mit ei­nem Mi­ni­mum an Di­stanz zu dem, was vor sich geht und Sa­che ist, dar­über schrei­ben kann. Dar­an hal­te ich im­mer noch fest. Der näch­ste Schritt, die näch­ste Fra­ge wä­re: Wo­zu über­haupt schrei­ben? Wenn man doch schau­en, be­rüh­ren und klicken kann.

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Aus­lö­schung (1)

1

Das Prin­zip des Main­streams, der an­schwel­len­den, Zu­flüs­se sich ein­ver­lei­ben­den und im­mer wei­ter an­schwel­len­den Strö­me, ent­spricht der vi­ra­len Aus­brei­tung von In­hal­ten im In­ter­net, ist aber nicht nur dort vor­zu­fin­den, son­dern auch an­ders­wo, in wirk­li­chen Wel­ten, zum Bei­spiel hier, in die­ser ana­lo­gen Si­mu­la­ti­ons­welt na­mens Kid­za­nia, gegen­über vom Ko­shien-Base­ball­sta­di­on im Her­zen der In­du­strie­zo­ne zwi­schen Osa­ka und Ko­be. Kin­der kom­men in Be­glei­tung ih­rer El­tern oder Groß­el­tern hier­her und ar­bei­ten, ge­nau­er: sie »ar­bei­ten« – die An­füh­rungs­zei­chen sol­len auf den Spiel­cha­rak­ter ver­wei­sen, denn die Kin­der ar­bei­ten nicht »echt«, es han­delt sich nicht um ei­nen Ort der Aus­beu­tung schwa­cher, schutz­lo­ser Ar­beits­kraft, son­dern um spie­le­ri­sche Nach­ah­mung mit Hil­fe von rea­li­sti­schen At­trap­pen bzw. Rea­li­täts­bruch­stücken (Aus­stat­tung, Ge­rä­te, klei­ne Ma­schi­nen).

Am frü­hen Mor­gen ei­nes schul­frei­en Fei­er­tags strö­men Hun­der­te, Tau­sen­de Kin­der in Be­glei­tung von Er­wach­se­nen her­bei. Die si­mu­lier­te Stadt mit ih­ren Geh­stei­gen und Stra­ßen, Plät­zen und Ge­schäf­ten und Re­stau­rants (ech­te ne­ben si­mu­lier­ten) füllt sich bis zu ei­ner Men­schen­dich­te wie zu den Stoß­zei­ten in Um­eda, wo meh­re­re Bahn­hö­fe auf­ein­an­der­tref­fen. Die Kin­der be­tä­ti­gen sich, die Er­wach­se­nen sind Zu­schau­er oder blei­ben am Rand, spie­len oder schla­fen. Das al­les kann nur durch star­ke fi­nan­zi­el­le In­ve­sti­ti­on funk­tio­nie­ren, In­ve­sti­ti­on in Ma­te­ri­al, aber auch in Per­so­nal, das den Kin­dern an al­len Ecken und En­den zur Sei­te steht und ziem­lich ri­gi­de Zeit­plä­ne durch­setzt, denn je­des Kind will sich an so ei­nem Spiel­tag in mög­lichst vie­len Be­ru­fen be­tä­ti­gen. Mei­ne Toch­ter zum Bei­spiel war Flug­be­glei­te­rin und Rechts­an­wäl­tin, Klei­der- und Brillenver­käuferin, Mo­del und Jour­na­li­stin und Ra­dio­ma­che­rin. Sie war nicht Ärz­tin, Feuerwehr­frau, Zucker­bäcke­rin... Noch nicht, wir kom­men wie­der. Ein Mäd­chen, mit dem sich mei­ne Toch­ter an­freun­de­te, war schon 59 Mal hier.

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Leucht/Wieland (Hrsg): Dich­ter­dar­stel­ler

Seit Ro­land Bar­thes in den 1960er Jah­ren den »Tod des Au­tors« ver­kün­de­te, galt es lan­ge Zeit in den Literatur­wissenschaften als ver­pönt, Werk und Vi­ta des Au­tors in Zu­sam­men­hang zu brin­gen. Erst in den letz­ten Jah­ren wur­de die­ses na­he­zu wie ein Ta­bu be­han­del­te Dik­tum auf­ge­ge­ben und wie­der ver­mehrt die Fra­ge nach Inter­dependenzen zwi­schen dem Le­ben ei­nes ...

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Ver­lo­ren im Pa­ra­dies

Ein üp­pi­ges Blu­men­bou­quet. Dann die To­ta­le auf ei­nen gro­ßen, fest­lich ge­deck­ten Tisch, in des­sen Mit­te die­se Blu­men lie­gen. Ser­vie­rin­nen le­gen letz­te Hand an. Die Kel­ler tre­ten ein. Die Mu­sik im Raum ne­ben­an en­det und die Tü­ren wer­den auf ein Si­gnal des Maitre hin ge­öff­net. Und es dau­ert nicht lan­ge, bis die er­sten Per­so­nen ein­tre­ten, den ...

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War­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be

1

Daß ich über­haupt Li­te­ra­tur­kri­tik ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht ha­be, liegt dar­an, daß ich als jun­ger Mann auf den Be­sitz von Bü­chern ver­ses­sen war, aber nicht ge­nug Geld hat­te, mir wel­che zu kau­fen. Als Re­zen­sent hat man ein Recht auf sein Re­zen­si­ons­exem­plar, man läßt sich nicht mit lo­sen Druck­fah­nen ab­spei­sen. Spä­ter dann, als ich nach Ar­gen­ti­ni­en und von dort nach Ja­pan ging, trenn­te ich mich von mei­ner mitt­ler­wei­le statt­li­chen Bi­blio­thek. Schon vor­her wa­ren mir die Bü­cher mehr und mehr zur Last ge­wor­den: die Woh­nung ver­staub­te, und es wur­de im­mer schwie­ri­ger, ei­ne Ord­nung auf­recht­zu­er­hal­ten. Ich sag­te mir, das We­sent­li­che die­ser Ge­brauchs­ge­gen­stän­de, ih­ren In­halt so­zu­sa­gen, hät­te ich oh­ne­hin in mei­nem Kopf ge­spei­chert, und so ver­kauf­te ich die ge­sam­te Bi­blio­thek zu ei­nem Spott­preis (ab­ge­se­hen von ei­ni­gen Aus­nah­men wie der Plé­ia­de-Werk­aus­ga­be von Bor­ges). Ich fühl­te mich er­leich­tert und ha­be die­sen Schritt nie be­reut.

Mit mei­ner kri­ti­schen Tä­tig­keit fuhr ich fort, aus Träg­heit und an­hal­ten­der Neu­gier. Hat­te ich die Bü­cher ge­le­sen, ver­schenk­te ich sie oder ließ sie ir­gend­wo zu­rück. Das di­gi­ta­le Zeit­al­ter hat­te in­zwi­schen be­gon­nen, und ich war froh, daß mir die Ver­la­ge pdf-Da­tei­en schick­ten an­stel­le von Bü­cher­pa­ke­ten. Sie ta­ten es an­fangs mit ei­nem ge­wis­sen Miß­trau­en, ganz so, als kön­ne man mit di­gi­ta­lem Gut mehr Schind­lu­der trei­ben als mit ana­lo­gem. Daß ich auf die Zu­sen­dung ei­nes »ech­ten« Buchs ver­zich­te­te, ver­stan­den sie nicht; hart­näckig schick­ten sie mir das Re­zen­si­ons­exem­plar, das mir zu­stand.

Ei­gent­lich woll­te ich im­mer schon Schrift­stel­ler wer­den, aber es man­gel­te mir am nö­ti­gen Selbst­be­wußt­sein. So war ich über­rascht und glück­lich, als mir ge­gen En­de mei­nes Stu­di­ums, als ich no­lens vo­lens ir­gend­wel­che be­ruf­li­chen Schrit­te un­ter­neh­men muß­te, wo­zu ich gänz­lich un­fä­hig war, der Lei­ter ei­ner Li­te­ra­tur­sen­dung im Ra­dio auf mei­ne An­fra­ge zu­rück­schrieb, er wol­le mich un­ter sei­ne frei­en Mit­ar­bei­ter auf­neh­men. Kurz dar­auf er­gab sich für mich, nach­dem zwei an­de­re Be­wer­ber ab­ge­sagt hat­ten, die Mög­lichkeit, als Lek­tor an ei­ne Uni­ver­si­tät nach Frank­reich zu ge­hen, und ich ließ sie nicht ver­strei­chen. Erst ei­ni­ge Jah­re spä­ter, als ich im­mer­hin schon ei­nen Ro­man in der Schub­la­de hat­te und ein we­nig aus dem Fran­zö­si­schen über­setz­te, be­gann ich wirk­lich, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben, aus dem ein­gangs er­wähn­ten Grund, denn mein Brot­be­ruf war nie be­son­ders ein­träg­lich. Da­mals ging man noch per­sön­lich in Re­dak­tio­nen, um Text zu lie­fern, an­fangs tat­säch­lich noch auf Pa­pier, dann auf ei­ner Dis­ket­te, die ich in ei­nen Schlitz am Haupt­com­pu­ter der Zei­tung, für die ich schrieb, stecken muß­te.

Der zu­stän­di­ge Re­dak­teur frag­te mich da­mals, was ich sonst so tä­te. Ich wuß­te kei­ne rech­te Ant­wort, von mei­nen Schub­la­den woll­te ich nicht er­zäh­len, und so lau­te­te der Kom­men­tar des Re­dak­teurs zu mei­nem Ge­stot­ter: »Aber vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man doch nicht le­ben.« Dan­ke für die Aus­kunft, dach­te ich und war zu per­plex, um zu ant­worten. Auf die Idee, mir ir­gend­wel­che Hin­wei­se, ei­ne klei­ne Hand­rei­chung zu ge­ben, kam der Mann nicht. Um­ge­kehrt kam ich nicht auf die Idee, die mir auf ab­strak­ter Ebe­ne durch­aus be­kannt war, daß man näm­lich sei­ne Ell­bo­gen ein­set­zen muß, um sich im Me­di­en­be­trieb ein sei es auch noch so klei­nes Plätz­chen zu ver­schaf­fen (im Literatur­betrieb gilt das­sel­be, auch un­ter Über­set­zern). Bei der Wo­chen­end­bei­la­ge der­sel­ben Ta­ges­zei­tung be­kam ich nach an­nä­hernd zehn Jah­ren frei­er Mit­ar­beit Schwie­rig­kei­ten, weil ich in an­de­ren Or­ga­nen zu ver­öf­fent­li­chen be­gon­nen hat­te. Man er­war­te­te von uns Schrei­ber­lin­gen, daß wir dem Blatt treu blie­ben – so sah die Frei­heit aus. Aus­nah­men wur­den bei so­ge­nann­ten Be­rühmt­hei­ten ge­macht, die durf­ten ver­öf­fent­li­chen, wo sie woll­ten.

Die­se Ge­schich­ten spie­len in Öster­reich, ei­nem en­gen Länd­chen mit so­ge­nann­ter Pres­se­kon­zen­tra­ti­on, wo Ei­fer­süch­te­lei­en und Miß­trau­en gang und gä­be wa­ren. An­de­rer­seits: Vom Ar­ti­kel­schrei­ben kann man nicht le­ben – vor al­lem nicht, wenn man nur für ein Or­gan schreibt. Ich ver­such­te zu wech­seln, was mir auch nicht recht ge­lin­gen woll­te, und war froh, als sich die Mög­lich­keit er­gab, re­gel­mä­ßig für ei­ne Schwei­zer Zei­tung zu schrei­ben, die über sol­chen Klein­kram er­ha­ben war und ist, ob­wohl ja auch die Schweiz, nach dem Be­kun­den ei­ni­ger von dort stam­men­der Au­toren, ein en­ges Länd­chen ist: wahr­schein­lich doch, trotz der ver­bin­den­den Al­pen, mit et­was wei­te­rem Ho­ri­zont.

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Geist und Macht

Zwei Bü­cher über Alar­mis­mus und Kon­for­mi­tät deut­scher In­tel­lek­tu­el­ler nach 1945 Im­mer wenn po­li­ti­sche, so­zia­le oder öko­no­mi­sche Kri­sen ein Ge­mein­we­sen er­schüt­tern, wer­den sie ge­ru­fen, um Stel­lung zu be­zie­hen: Die In­tel­lek­tu­el­len. In der all­ge­mei­nen Mei­nungs­ka­ko­pho­nie sol­len sie Halt bie­ten, Aus­we­ge auf­zei­gen, die Un­über­sicht­lich­keit ord­nen und re­prä­sen­ta­tiv für die kri­ti­sche Mas­se ihr Wort er­he­ben. Wo frü­her Pfar­rer die ...

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