Als ich noch in Neubau, im siebten Wiener Gemeindebezirk, in einem für diese Gegend untypischen Haus wohnte, erfuhr ich was das Verhüllen von Kopf, Gesicht und Körper, je nach Vollständigkeit und Blickwinkel des Betrachters, bedeuten kann: Ich war damals mit einer jungen, tschetschenischen Nachbarin in Kontakt gekommen, die sich wie einige andere Bewohner des Hauses in dessen Hof bei schönem Wetter zum Spielen, Tratschen und Kaffeetrinken einfanden.
Essay
Auslöschung (3)
Ich habe von Kultur gesprochen. Genauer, von kulturellen Produkten als wirtschaftlichem Einsatz, Existenzgrundlage weltweit tätiger Firmen. Deshalb der Eifer und Übereifer, mit dem heute Eigentumsrechte an letztlich immateriellen Dingen wie Filme und Popsongs, Figuren und Titel, Slogans und Designs geltend gemacht werden. In unseren Köpfen hallt die Drohung, wer einen Film kopiere, werde mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Und ein Großteil der Konsumenten-Produzenten, der Nutzer und Selbstdarsteller, der Kunden und Könige macht mit beim Gezeter, »das gehört doch mir« und »ich habe dafür bezahlt« und »ich will das Geld, das mir zusteht«. Der sogenannte Neoliberalismus ist tief in die Köpfe und Herzen eingedrungen, um dort Wurzeln zu schlagen. Horkheimer und Adorno haben nicht nur unter dem Eindruck der Massenbetörung durch den Nationalsozialismus, sondern gleichzeitig unter dem nachhaltigeren Eindruck von Hollywood und dem beginnenden Fernsehen ihre Theorie von der Gleichschaltung durch die Kulturindustrie entwickelt. Die Theorie wurde in ungeahntem Ausmaß von den nach und nach geschaffenen Fakten bestätigt. Mozart und Beethoven würden von dieser Industrie allein zu Werbezwecken eingesetzt, meinten die radikalen Kritiker. Sie konnten sich vermutlich nicht vorstellen, daß man sich eines Tages in der Öffentlichkeit – und teils in privaten Haushalten – gar nicht mehr bewegen kann, ohne von akustischer Kultur, durchbrochen von Werbeslogans, umfangen zu werden. Freilich nicht von Werken Mozarts oder Beethovens, sondern von seichtester Popmusik. Einer Popmusik, die in den fünfziger und sechziger Jahren als Gegenkultur antrat, inzwischen aber nahezu restlos von der musikindustriellen Herrschaftskultur gekapert worden ist. Der visuelle Siegeszug des Fernsehens und dessen geistige Folgen wurden in den achtziger Jahren von Neil Postman beschrieben. Fernsehstationen sind seither ins Kraut geschossen, es gibt keine Sekunde am Tag, in der die Bilderflut nicht auf den Konsumenten, den User lauern würde. Die digitale Vernetzung hat die Vorherrschaft des Visuellen nur verschärft. In den Zeiten vor der Einführung der Schulpflicht und der Erfindung des Buchdrucks war die Gesellschaft in einen literaten und einen illiterate Bevölkerungsteil gespalten; die Schriftunkundigen speiste man mit Bildern ab, um ihnen die Grundlagen der Kultur im Schoße der christlichen Religion zu vermitteln. Heute wendet sich die große Bevölkerungsmehrheit wieder den Bildern zu, ohne Zwang und auch nicht, weil sie gar keine Wahl hätte, sondern weil musikalisch untermalte Bilder leichter und rascher konsumierbar sind, da sie kein intellektuelles Engagement verlangen. Bequemlichkeit über alles: wie sollen da Mut und Tätigkeitsdrang gedeihen? Touchscreens und akustische Sensoren werden die Spaltung langfristig verschärfen, Analphabetismus könnte ein echtes Problem nicht nur an den Rändern der Gesellschaft werden. Warum lesen und schreiben, wo doch schauen, hören und berühren genügt?
Immanuel Kant hatte in seiner Schrift zur Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung?« den selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes als Voraussetzung für Mündigkeit und damit letztlich für Demokratie dargestellt und an die Schriftkultur gebunden. Verkümmert die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert gefestigte Schriftkultur, verkümmern Mündigkeit und Demokratie. Unmündigkeit, schlichter gesagt: Dummheit, ist mit einer gesellschaftlichen Verfassung, wie Kant und die Aufklärer sie anstrebten, nicht vereinbar. Die Kulturindustrie fördert jedoch die Unmündigkeit, indem sie nicht den Verstand, sondern ausschließlich Emotionen, Sinne und Triebe anspricht. Je stärker gewisse Triebe involviert werden, desto besser für das Geschäft. Der popkulturelle Konsumkapitalismus heutiger Tage erzeugt und fördert Süchte nicht nur in Spielhallen und in der Splatter-Abteilung der harten Drogen, sondern an allen Fronten, besonders im Netz. So sieht das vorläufige Endstadium der umfassenden »Kulturalisierung« aus, die der Entwicklung von einem auf Produktion und Arbeit, Maß und Vernunft, sozialer Disziplin und persönlicher Selbstbeherrschung orientierten Kapitalismus zu einem konsumistischen und hedonistischen, hyperaktiven und zugleich angepaßten, augenblicksverhafteten, geschichtslosen Persönlichkeitsmodell im Rahmen der postmodernen Wirtschaftsform entspricht und dient.
Auslöschung (2)
Kidzania ist ein vorsintflutlicher Spielkontinent, errichtet und betrieben mit den Mitteln modernster Technik und Kommunikation. Die Kinder gehen dort hin, um spielend zu arbeiten, also die Tätigkeiten der Erwachsenen zu imitieren, darunter solche, für die in der Erwachsenenwirklichkeit gar kein Personal mehr benötigt wird. Die meisten begleitenden Eltern oder Großeltern tun ihre Pflicht, indem sie digitale Reproduktionstechniken – Kameras, Handys – zum Einsatz bringen und die Kleinen bei ihren Tätigkeiten photographieren und filmen, was in der Regel ein Selbstzweck ist, insofern die Überfülle der gespeicherten Bilder in der Zukunft dieser Familien in virtuellen Abstellkammern verstauben wird (um eine vorsintflutliche Metapher zu gebrauchen). Das Ablichten selbst ist ein Ritual, eine Art Spiel, das die Gepflogenheiten in einer technisierten Konsumwelt bedient. Andere Angehörige sitzen in einer Ecke der Kinderstadt auf einer Ruhebank für Erwachsene und beschäftigen sich mit ihren Smartphones. Ein paar Minuten lang habe ich einem Vater über die Schulter geschaut, der eines dieser bunten Spiele spielte, wo man bewegliche abstrakte Formen ordnen und Hindernissen ausweichen muß. Während sein Sohn mit größtem Eifer die Rolle eines Polizisten ausfüllte, lümmelte der Vater da und gab sich der Beschäftigung hin, die vermutlich einen Großteil seiner Freizeit zu Hause, im Zug im Auto oder in der Mittagspause ausfüllt. Der Sohn wird diesen Grad der Infantilisierung erst im Erwachsenenalter erreichen. Einstweilen hängt er in seinem ernsten Spiel der Illusion nach, in der Welt der Väter würden vernünftige und bedeutsame Dinge geschehen, zu der jedes wertvolle Gesellschaftsmitglied seinen Beitrag zu leisten habe.
Ich selbst spiele keine solchen Games. Allerdings besteht ein Teil meiner Unterhaltung darin, spielversessene Erwachsene zu orten, sie zu beobachten und mich innerlich über diese Art von Kultur zu erregen. Ich suche nicht nach Pokemons, sondern verfolge Pokemon-go-Spieler. Einer, auf einem Bahnsteig in Osaka, tat es versteckt, hinter dem Rücken seiner etwa vierjährigen Tochter. So lasse ich mich selbst, erklärter Gegner der Infantilisierung, in meinem täglichen Verhalten von der technologischen Verspieltheit beherrschen. Wahrscheinlich wäre es besser, klein beizugeben, mir ein Smartphone oder Tablet zu kaufen und mich irgendwelchen dieser Spiele hinzugeben. Kritische beobachten oder einfach mittun, das macht letztlich gar keinen Unterschied. Außer vielleicht den, daß man nur mit einem Minimum an Distanz zu dem, was vor sich geht und Sache ist, darüber schreiben kann. Daran halte ich immer noch fest. Der nächste Schritt, die nächste Frage wäre: Wozu überhaupt schreiben? Wenn man doch schauen, berühren und klicken kann.
Auslöschung (1)
Das Prinzip des Mainstreams, der anschwellenden, Zuflüsse sich einverleibenden und immer weiter anschwellenden Ströme, entspricht der viralen Ausbreitung von Inhalten im Internet, ist aber nicht nur dort vorzufinden, sondern auch anderswo, in wirklichen Welten, zum Beispiel hier, in dieser analogen Simulationswelt namens Kidzania, gegenüber vom Koshien-Baseballstadion im Herzen der Industriezone zwischen Osaka und Kobe. Kinder kommen in Begleitung ihrer Eltern oder Großeltern hierher und arbeiten, genauer: sie »arbeiten« – die Anführungszeichen sollen auf den Spielcharakter verweisen, denn die Kinder arbeiten nicht »echt«, es handelt sich nicht um einen Ort der Ausbeutung schwacher, schutzloser Arbeitskraft, sondern um spielerische Nachahmung mit Hilfe von realistischen Attrappen bzw. Realitätsbruchstücken (Ausstattung, Geräte, kleine Maschinen).
Am frühen Morgen eines schulfreien Feiertags strömen Hunderte, Tausende Kinder in Begleitung von Erwachsenen herbei. Die simulierte Stadt mit ihren Gehsteigen und Straßen, Plätzen und Geschäften und Restaurants (echte neben simulierten) füllt sich bis zu einer Menschendichte wie zu den Stoßzeiten in Umeda, wo mehrere Bahnhöfe aufeinandertreffen. Die Kinder betätigen sich, die Erwachsenen sind Zuschauer oder bleiben am Rand, spielen oder schlafen. Das alles kann nur durch starke finanzielle Investition funktionieren, Investition in Material, aber auch in Personal, das den Kindern an allen Ecken und Enden zur Seite steht und ziemlich rigide Zeitpläne durchsetzt, denn jedes Kind will sich an so einem Spieltag in möglichst vielen Berufen betätigen. Meine Tochter zum Beispiel war Flugbegleiterin und Rechtsanwältin, Kleider- und Brillenverkäuferin, Model und Journalistin und Radiomacherin. Sie war nicht Ärztin, Feuerwehrfrau, Zuckerbäckerin... Noch nicht, wir kommen wieder. Ein Mädchen, mit dem sich meine Tochter anfreundete, war schon 59 Mal hier.
Leucht/Wieland (Hrsg): Dichterdarsteller
Seit Roland Barthes in den 1960er Jahren den »Tod des Autors« verkündete, galt es lange Zeit in den Literaturwissenschaften als verpönt, Werk und Vita des Autors in Zusammenhang zu bringen. Erst in den letzten Jahren wurde dieses nahezu wie ein Tabu behandelte Diktum aufgegeben und wieder vermehrt die Frage nach Interdependenzen zwischen dem Leben eines ...
Verloren im Paradies
Ein üppiges Blumenbouquet. Dann die Totale auf einen großen, festlich gedeckten Tisch, in dessen Mitte diese Blumen liegen. Servierinnen legen letzte Hand an. Die Keller treten ein. Die Musik im Raum nebenan endet und die Türen werden auf ein Signal des Maitre hin geöffnet. Und es dauert nicht lange, bis die ersten Personen eintreten, den ...
Warum ich keine Literaturkritik mehr schreibe
Daß ich überhaupt Literaturkritik geschrieben und veröffentlicht habe, liegt daran, daß ich als junger Mann auf den Besitz von Büchern versessen war, aber nicht genug Geld hatte, mir welche zu kaufen. Als Rezensent hat man ein Recht auf sein Rezensionsexemplar, man läßt sich nicht mit losen Druckfahnen abspeisen. Später dann, als ich nach Argentinien und von dort nach Japan ging, trennte ich mich von meiner mittlerweile stattlichen Bibliothek. Schon vorher waren mir die Bücher mehr und mehr zur Last geworden: die Wohnung verstaubte, und es wurde immer schwieriger, eine Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich sagte mir, das Wesentliche dieser Gebrauchsgegenstände, ihren Inhalt sozusagen, hätte ich ohnehin in meinem Kopf gespeichert, und so verkaufte ich die gesamte Bibliothek zu einem Spottpreis (abgesehen von einigen Ausnahmen wie der Pléiade-Werkausgabe von Borges). Ich fühlte mich erleichtert und habe diesen Schritt nie bereut.
Mit meiner kritischen Tätigkeit fuhr ich fort, aus Trägheit und anhaltender Neugier. Hatte ich die Bücher gelesen, verschenkte ich sie oder ließ sie irgendwo zurück. Das digitale Zeitalter hatte inzwischen begonnen, und ich war froh, daß mir die Verlage pdf-Dateien schickten anstelle von Bücherpaketen. Sie taten es anfangs mit einem gewissen Mißtrauen, ganz so, als könne man mit digitalem Gut mehr Schindluder treiben als mit analogem. Daß ich auf die Zusendung eines »echten« Buchs verzichtete, verstanden sie nicht; hartnäckig schickten sie mir das Rezensionsexemplar, das mir zustand.
Eigentlich wollte ich immer schon Schriftsteller werden, aber es mangelte mir am nötigen Selbstbewußtsein. So war ich überrascht und glücklich, als mir gegen Ende meines Studiums, als ich nolens volens irgendwelche beruflichen Schritte unternehmen mußte, wozu ich gänzlich unfähig war, der Leiter einer Literatursendung im Radio auf meine Anfrage zurückschrieb, er wolle mich unter seine freien Mitarbeiter aufnehmen. Kurz darauf ergab sich für mich, nachdem zwei andere Bewerber abgesagt hatten, die Möglichkeit, als Lektor an eine Universität nach Frankreich zu gehen, und ich ließ sie nicht verstreichen. Erst einige Jahre später, als ich immerhin schon einen Roman in der Schublade hatte und ein wenig aus dem Französischen übersetzte, begann ich wirklich, Literaturkritik zu schreiben, aus dem eingangs erwähnten Grund, denn mein Brotberuf war nie besonders einträglich. Damals ging man noch persönlich in Redaktionen, um Text zu liefern, anfangs tatsächlich noch auf Papier, dann auf einer Diskette, die ich in einen Schlitz am Hauptcomputer der Zeitung, für die ich schrieb, stecken mußte.
Der zuständige Redakteur fragte mich damals, was ich sonst so täte. Ich wußte keine rechte Antwort, von meinen Schubladen wollte ich nicht erzählen, und so lautete der Kommentar des Redakteurs zu meinem Gestotter: »Aber vom Artikelschreiben kann man doch nicht leben.« Danke für die Auskunft, dachte ich und war zu perplex, um zu antworten. Auf die Idee, mir irgendwelche Hinweise, eine kleine Handreichung zu geben, kam der Mann nicht. Umgekehrt kam ich nicht auf die Idee, die mir auf abstrakter Ebene durchaus bekannt war, daß man nämlich seine Ellbogen einsetzen muß, um sich im Medienbetrieb ein sei es auch noch so kleines Plätzchen zu verschaffen (im Literaturbetrieb gilt dasselbe, auch unter Übersetzern). Bei der Wochenendbeilage derselben Tageszeitung bekam ich nach annähernd zehn Jahren freier Mitarbeit Schwierigkeiten, weil ich in anderen Organen zu veröffentlichen begonnen hatte. Man erwartete von uns Schreiberlingen, daß wir dem Blatt treu blieben – so sah die Freiheit aus. Ausnahmen wurden bei sogenannten Berühmtheiten gemacht, die durften veröffentlichen, wo sie wollten.
Diese Geschichten spielen in Österreich, einem engen Ländchen mit sogenannter Pressekonzentration, wo Eifersüchteleien und Mißtrauen gang und gäbe waren. Andererseits: Vom Artikelschreiben kann man nicht leben – vor allem nicht, wenn man nur für ein Organ schreibt. Ich versuchte zu wechseln, was mir auch nicht recht gelingen wollte, und war froh, als sich die Möglichkeit ergab, regelmäßig für eine Schweizer Zeitung zu schreiben, die über solchen Kleinkram erhaben war und ist, obwohl ja auch die Schweiz, nach dem Bekunden einiger von dort stammender Autoren, ein enges Ländchen ist: wahrscheinlich doch, trotz der verbindenden Alpen, mit etwas weiterem Horizont.
Geist und Macht
Zwei Bücher über Alarmismus und Konformität deutscher Intellektueller nach 1945 Immer wenn politische, soziale oder ökonomische Krisen ein Gemeinwesen erschüttern, werden sie gerufen, um Stellung zu beziehen: Die Intellektuellen. In der allgemeinen Meinungskakophonie sollen sie Halt bieten, Auswege aufzeigen, die Unübersichtlichkeit ordnen und repräsentativ für die kritische Masse ihr Wort erheben. Wo früher Pfarrer die ...