Kaf­kas Dop­pel­bot­schaf­ten

In Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re gibt es ei­ne Sze­ne, wo der jun­ge Mann, al­so der Ti­tel­held, sei­ne Ma­nu­skrip­te ver­brennt. Die­se »dich­te­ri­schen Ver­su­che« wa­ren wäh­rend der er­sten Lie­bes­lei­den­schaft sei­nes Le­bens zu­stan­de ge­kom­men; jetzt aber, nach der Tren­nung von sei­ner Ge­lieb­ten, be­fin­det er sie für wert­los. Sein durch und durch ra­tio­nal den­ken­der Freund Wer­ner, ein Kauf­mann, kommt da­zu, er will ihn an dem Ver­nich­tungs­werk hin­dern. Wil­helm in­si­stiert, ein Ge­dicht müs­se ent­we­der vor­treff­lich sein, oder es sol­le gar nicht exi­stie­ren. Wer­ner wi­der­spricht: Wenn je­mand zu ei­ner Tä­tig­keit Ta­lent und Nei­gung ha­be, soll er sie doch aus­üben, auch wenn kei­ne voll­kom­me­nen Er­geb­nis­se zu er­war­ten sind. Der jun­ge Wil­helm ist nicht nur in die­ser Si­tua­ti­on ra­di­kal, er geht stets aufs Gan­ze. Wer­ner rät zur Mä­ßi­gung, man sol­le sich auch mit Teil­erfol­gen zu­frie­den­ge­ben.

Ei­ne ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on be­stand zwi­schen Franz Kaf­ka und sei­nem Freund Max Brod, der als Dich­ter und di­let­tie­ren­der Mu­si­ker im­mer auch ein we­nig kauf­män­nisch dach­te. In ei­nem Ta­ge­buch­ein­trag vom Au­gust 1914, we­ni­ge Ta­ge nach Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs, sieht Kaf­ka sich selbst zur Spit­ze ei­nes Bergs flie­gen, wäh­rend an­de­re Au­toren sich in tie­fe­ren Re­gio­nen mü­hen, frei­lich mit viel grö­ße­ren Kräf­ten als er selbst. Es fehlt ihm an Aus­dau­er, Ge­sund­heit, Kom­pro­miß­be­reit­schaft, Sinn fürs So­zia­le, um sich dau­er­haft an der Spit­ze des Olymps zu eta­blie­ren. Was er be­sitzt, ist ein »traum­haf­tes in­ne­res Le­ben« und die Fä­hig­keit, sich der In­spi­ra­ti­on zu öff­nen, die ei­ner un­sicht­ba­ren Tür zu je­nem Traum­le­ben gleicht. Die Tür ist oft, manch­mal mo­na­te­lang, ver­schlos­sen, Kaf­ka müht sich ver­ge­bens um Ein­laß. Sein Le­ben ver­läuft zwi­schen zwei Re­gio­nen, die ihm ver­wehrt sind: auf der ei­nen Sei­te die Ehe, die Fa­mi­lie, die bür­ger­li­che Exi­stenz; auf der an­de­ren Sei­te der Olymp mit sei­nen Hier­ar­chien. In bei­den Re­gio­nen ist er be­sten­falls Gast. An­de­re sind in der La­ge, bei­de zu ver­ein­ba­ren, zum Bei­spiel der ho­mo­se­xu­el­le Tho­mas Mann, der ei­ne Fa­mi­lie um sich er­rich­te­te, die ihn da­vor be­wahr­te, ein Au­ßen­sei­ter zu wer­den. Kaf­ka blieb es zeit­le­bens, über­all. Die Vi­ru­lenz sei­ner Träu­me ließ ihn nicht schla­fen, er muß­te sie zu Pa­pier brin­gen und dort wei­ter ent­fal­ten, aber oft war ihm auch dies ver­wehrt, so ver­harr­te er dann wie ge­lähmt zwi­schen dem Hier und dem Dort.

Was er­war­te­te er sich von der Ehe? Be­ru­hi­gung, gu­ten Schlaf, ei­ne Ni­sche im Bür­ger­li­chen. Manch­mal so­gar: in Ru­he schrei­ben kön­nen, ir­gend­wo in der mitt­le­ren Zo­ne ar­bei­ten, nicht oben auf dem Olymp, son­dern im Wein­berg der Li­te­ra­tur. Aber der­lei Be­ru­hi­gun­gen lehn­te er zu­gleich ab, er hin­ter­trieb sie un­er­müd­lich. Kaf­ka konn­te nicht an­ders schrei­ben als in Wel­len, in klei­ne­ren, manch­mal nacht­lan­gen Erup­tio­nen oder – die Ro­ma­ne – in Rie­sen­wel­len, Tsu­na­mis gleich­sam, wo­bei er an­fangs dach­te, daß er kei­nen lan­gen Atem be­sit­ze und Kurz­for­men das ihm ent­spre­chen­de Gen­re sei­en. Doch der Lun­gen­kran­ke schaff­te wi­der die ei­ge­nen Wahr­schein­lich­kei­ten auch das, den gro­ßen Ro­man, ob­gleich er nie ei­nen »voll­ende­te«. Kaf­kas Ro­ma­ne sind ten­den­zi­ell un­end­lich, als sprach­li­che Ge­bil­de aber na­tur­ge­mäß end­lich: ein Wi­der­spruch, der sich nie­mals auf­he­ben läßt. Hier die kur­zen, viel­deu­ti­gen Pa­ra­beln, dort die rie­si­gen Frag­men­te. Und nichts in der Mit­te, kein ein­zi­ges wohl­kon­stru­ier­tes Werk, nur die Gip­fel­flü­ge und das Zer­schel­len am Bo­den, die an­hal­ten­de De­pres­si­on. Und da­zu die dau­ern­de Selbst­re­fle­xi­on, die Re­chen­schaft über die­se Pro­zes­se des Schrei­bens wie des Nicht­schrei­bens, und den an­de­ren Pro­zeß der ver­geb­li­chen, viel­leicht auch nur ein­ge­bil­de­ten, her­bei­ge­schrie­be­nen Lie­be zum Le­ben, zu ei­ni­gen Frau­en, von de­nen die am mei­sten um­wor­be­ne, Fe­li­ce Bau­er, über­haupt nicht zu ihm paß­te.

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Rai­nald Goetz: wrong

Mit den drei Stücken Reich des To­des, Ba­racke und La­pi­da­ri­um, die im so­eben er­schie­ne­nen Band La­pi­da­ri­um ver­sam­melt sind und der par­al­lel da­zu pu­bli­zier­ten Text­samm­lung wrong be­en­det der Schrift­stel­ler Rai­nald Goetz sei­ne sechs­tei­li­ge Schlucht-Rei­he, je­nen 2007 be­gon­ne­nen »Ver­such der Er­kun­dung der Dun­kel­zeit der Nuller­jah­re«, be­stehend aus »Kla­ge, Ta­ge­buch­es­say; los­la­bern, Be­richt; Jo­hann Hol­trop, Ab­riß der Ge­sell­schaft, Ro­man; ...

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Hil­des­hei­mer statt Ca­net­ti

Ju­ry­sit­zun­gen und Alar­mis­men

Li­te­ra­tur­preis der Stadt Bre­men:

»[A]lle hat­ten ih­ren Kan­di­da­ten, der nie­mals Ca­net­ti ge­we­sen war, ge­nannt, als ich an die Rei­he ge­kom­men war und ›Ca­net­ti‹ sag­te. Ich war da­für, Ca­net­ti den Preis zu ge­ben für sei­ne ›Blen­dung‹, das ge­nia­le Ju­gend­werk, das ein Jahr vor die­ser Ju­ry­sit­zung wie­der neu ge­druckt wor­den war. Meh­re­re Ma­le sag­te ich das Wort ›Ca­net­ti‹ und je­des Mal hat­ten sich die Ge­sich­ter an dem lan­gen Tisch weh­lei­dig ver­zo­gen. Vie­le an dem Tisch wuss­ten gar nicht, wer Ca­net­ti war, aber un­ter den we­ni­gen, die von Ca­net­ti wuss­ten, war ei­ner, der plötz­lich, nach­dem ich wie­der Ca­net­ti ge­sagt hat­te, sag­te: aber der ist ja a u c h Ju­de. Dann hat­te es nur noch ein Ge­mur­mel ge­ge­ben und Ca­net­ti war un­ter den Tisch ge­fal­len.«

Die Dis­kus­si­on zog sich schier end­los hin, Na­men fal­len und wer­den ver­wor­fen; es muss­te ei­ne Ent­schei­dung ge­ben.

»Zu mei­ner gro­ßen Ver­blüf­fung zog plötz­lich ei­ner der Her­ren, ich weiß wie­der nicht, wel­cher, aus dem Bü­cher­hau­fen auf dem Tisch, wie mir schien wahl­los, ein Buch von Hil­des­hei­mer her­aus und sag­te in um­wer­fend nai­vem To­ne und ge­ra­de­zu schon im Auf­ste­hen zum Mit­tag­essen: ›Neh­men wir doch Hil­des­hei­mer, neh­men wir doch Hil­des­hei­mer‹ und Hil­des­hei­mer war ge­ra­de je­ner Na­me, der wäh­rend der gan­zen stun­den­lan­gen De­bat­ten über­haupt nicht ge­fal­len war […] Wer wirk­lich Hil­des­hei­mer war, wuss­ten sie wahr­schein­lich al­le nicht. Im Au­gen­blick wur­de auch schon an die Pres­se die Mit­tei­lung ge­ge­ben, Hil­des­hei­mer sei nach die­ser über zwei­stün­di­gen Sit­zung der neue Preis­trä­ger. Die Her­ren er­ho­ben sich und gin­gen hin­aus in den Spei­se­saal. Der Ju­de Hil­des­hei­mer hat­te den Preis be­kom­men. Für mich was d a s die Poin­te des Prei­ses. Ich ha­be sie nicht ver­schwei­gen kön­nen.«1

58 Jah­re spä­ter zu Ju­lia­ne Lie­bert und Ro­nya Oth­mann. Bei­de wa­ren 2023 in der Ju­ry zum »In­ter­na­tio­na­len Li­te­ra­tur­preis« des HKW Ber­lin. In der ZEIT be­rich­ten sie »kom­plett aus al­len Wol­ken ge­fal­len« (Per­len­tau­cher) un­ter dem Gris­ham-Ti­tel Die Ju­ry mehr als ein hal­bes Jahr spä­ter ih­re Er­leb­nis­se. Die Sa­che ist kom­pli­ziert, han­delt von Au­toren und Au­torin­nen, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Be­liebt­heit von Ju­ry­mit­glie­dern nicht auf ei­ne Short­list kom­men sol­len bzw. an­de­ren Au­torin­nen und Au­toren, die auf­grund ih­rer Her­kunft, Haut­far­be und/oder Un­be­kannt­heit auf die­se Li­ste kom­men sol­len. Es fie­len Sät­ze wie »Sor­ry, ich lie­be die Li­te­ra­tur, aber Po­li­tik ist wich­ti­ger« und selbst als man sich auf ei­nen Preis­trä­ger ge­ei­nigt hat­te, kri­ti­sier­te man noch die bei­den Über­set­zer und ob es über­haupt ge­stat­tet ist, wenn Wei­ße ei­nen Schwar­zen über­set­zen und al­ler­lei an­de­rer Un­sinn. Es ging al­so, so die Quint­essenz, we­ni­ger um li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät als um iden­ti­täts­po­li­tisch mo­ti­vier­te Quo­ten. So weit, so we­nig über­ra­schend. Und man hät­te si­cher­lich die­sen Text nie zu le­sen be­kom­men, wenn die bei­den Au­torin­nen auch für 2024 in der Ju­ry no­mi­niert wor­den wä­ren. Wur­den sie aber nicht und nun al­so das, ei­ne gan­ze Sei­te in der ZEIT, das gibt es nicht mehr häu­fig.

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  1. Thomas Bernhard, Meine Preise, Suhrkamp, 1. Auflage 2009, S. 32-49. 

Wel­ten und Zei­ten VI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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In der poe­to­lo­gi­schen Kor­re­spon­denz Aus der Zu­kunft des Ro­mans zwi­schen Ol­ga Mar­ty­n­o­va und mir, zu der sich dann an­de­re Au­toren ge­sell­ten und die sich über fast zwei Jah­re er­streck­te, fragt Kurt Neu­mann, das gan­ze Kon­vo­lut über­blickend, ob die Zu­kunft des Ro­mans nicht ei­ne mi­ni­ma­li­sti­sche sei. In der Tat neig­te vor al­lem Ol­ga im­mer wie­der zur Kür­ze; auch An­na Wei­den­hol­zer teil­te am En­de mit, sie wol­le künf­tig Er­zäh­lun­gen in der Art von Ray­mond Car­ver schrei­ben, und zi­tier­te He­ming­ways be­rühm­te Eis­berg-Theo­rie: »Al­les, was man eli­mi­niert, macht den Eis­berg nur noch stär­ker. Es liegt al­les an dem Teil, der un­sicht­bar bleibt.« Sich aufs We­sent­li­che kon­zen­trie­ren – so­fern man weiß, was das We­sent­li­che ist. Bei mir selbst ent­spricht die­se Ten­denz mei­ner spä­ten Ent­deckung der klei­nen Ro­ma­ne à la Mo­dia­no. Ich den­ke mir auch, daß wir auf schwe­res Ge­päck künf­tig ver­zich­ten soll­ten, und in der Wirk­lich­keit rei­se ich ge­nau so, nicht mal ei­nen Rei­se­füh­rer brau­che ich, kei­nen Com­pu­ter, nur ein Han­dy, für Ho­tel­re­ser­vie­run­gen. Und dann soll­ten wir viel­leicht aufs Rei­sen über­haupt ver­zich­ten… Zu an­stren­gend, bringt die na­tür­li­chen Le­bens­ab­läu­fe durch­ein­an­der.

An­de­rer­seits schrei­ben bei wei­tem nicht al­le Ro­man­au­to­ren mi­ni­ma­li­stisch. Hin und wie­der gibt es ge­gen­ge­rich­te­te Strö­mun­gen, oder soll man sa­gen: Mo­den? »Ach­tung, die dicken Ro­ma­ne kom­men!«, kün­de­te – oder warn­te? – Paul Jandl im Som­mer 2018 in der neu­en Zür­cher Zei­tung. Of­fen­sicht­lich ein Ar­ti­kel auf der Grund­la­ge von Ver­lags­ka­ta­lo­gen, die in vie­len Fäl­len wohl die Lek­tü­re der Bü­cher er­set­zen. Am Wel­ten­rand sit­zen die Men­schen und la­chen, von Phil­ip Weiss, ist da­bei, gut 1000 Sei­ten, ei­gent­lich aber fünf Ro­ma­ne, und auch Schat­ten­froh, von Mi­cha­el Lentz, ein Buch, das ich in­zwi­schen – Som­mer 2021 – ge­le­sen ha­be, quer­ge­le­sen, um ehr­lich zu sein, der Ro­man spielt kei­nes­wegs, wie der ir­re­ge­lei­te­te Jandl meint, in Chi­na, son­dern im Kopf des Au­tors, und der ist ziem­lich weit­läu­fig, weit­läu­fi­ger als Chi­na.

Hin­zu kommt, und das ist jetzt wirk­lich pein­lich, daß ich als Au­tor trotz neu­er Vor­lie­ben als Le­ser im­mer noch so schrei­be, wie ich es vor ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert zu recht­fer­ti­gen such­te, in­dem ich ei­nen ma­ni­fest­ar­ti­gen Text ver­faß­te: Für ei­ne ba­rocke Li­te­ra­tur! Un­ter »ba­rock« faß­te ich Ei­gen­schaf­ten wie aus­ufernd, schwei­fend, wu­chernd, ver­schnör­kelt, viel­di­men­sio­nal, lang-wei­lig (im Adal­bert Stif­ter­schen Sinn) zu­sam­men – al­les, was die stram­me deut­sche Li­te­ra­tur­kri­tik seit dem En­de des letz­ten Welt­kriegs ver­pönt. So schrei­be ich ver­al­tet in die Zu­kunft hin­ein… Pe­ter Hand­ke hat ja auch sol­che Bü­cher ge­macht, nur hat­te er nichts mit dem Ba­rock am Hut, hat viel­mehr sei­ne Epen an fast schon prä­hi­sto­ri­sche Zei­ten an­schlie­ßen wol­len: Gott­fried von Straß­burg wur­de zum Schutz­hei­li­gen er­nannt. Bei man­chen Au­toren ist das Neo­ba­rock ei­ne Al­ters­er­schei­nung, die Kon­zen­tra­ti­ons­kraft scheint ih­nen ab­han­den­ge­kom­men, ein bio­lo­gi­scher Vor­gang. Jun­ger Au­tor = Ge­dich­te, ra­san­te Er­zäh­lun­gen; al­ter Au­tor = be­hä­big aus­ufern­de Ro­ma­ne.

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Ak­ti­vis­mus und Re­ak­tanz

Über drei Ana­ly­sen zur Zeit

Ein neu­es Ge­spenst geht um. Man mag es »Iden­ti­täts­po­li­tik« (Bernd Ste­ge­mann), »Wo­ke­ness« (Esther Bock­wyt) oder »Mo­ral­spek­ta­kel« (Phil­ipp Hübl) nen­nen. Im Kern ist es ei­ne aus den USA her­über­schwap­pen­de, sich epi­de­misch aus­brei­ten­de Gei­stes­hal­tung, die, zu En­de ge­dacht, an die Grund­fe­sten plu­ra­li­sti­scher Ge­sell­schaf­ten rüt­telt. Der deut­sche Du­den de­fi­niert das eng­li­sche Lehn­wort wo­ke als »in ho­hem Maß po­li­tisch wach und en­ga­giert ge­gen (ins­be­son­de­re ras­si­sti­sche, se­xi­sti­sche, so­zia­le) Dis­kri­mi­nie­rung«. Ei­gen­schaf­ten, die zu­nächst po­si­tiv be­setzt sind, denn wer ist nicht für ei­ne ge­rech­te Welt und ge­gen Ras­sis­mus? Gin­ge es nach Ver­fech­tern die­sen Den­kens, dürf­ten die Be­grif­fe »wo­ke« und Wo­ke­ness gar nicht ver­wen­det wer­den, denn wie schon »po­li­ti­cal cor­rect­ness« soll es sich um ei­nen rech­ten Kampf­be­griff han­deln. Das kann man als ziem­lich durch­sich­ti­gen Ver­such neh­men, ei­ne dog­ma­tisch auf­tre­ten­de Ideen­leh­re als un­ab­weis­ba­res Er­for­der­nis für ei­ne neue Welt ein­zu­füh­ren.

Die Pu­bli­ka­tio­nen, die sich mit die­sem Phä­no­men be­schäf­ti­gen, neh­men dra­stisch zu. Es ist na­he­zu un­mög­lich, den Über­blick zu be­hal­ten. Hier sol­len drei Bü­cher vor­ge­stellt wer­den, die die The­ma­tik ver­su­chen, mög­lichst un­ideo­lo­gisch zu er­fas­sen, aber un­ter­schied­li­che Prio­ri­tä­ten set­zen. Wäh­rend der Phi­lo­soph Phil­ipp Hübl in Mo­ral­spek­ta­kel ei­nen tie­fen, de­skrip­ti­ven Ein­blick ver­schafft, ana­ly­siert die Psy­cho­lo­gin Esther Bock­wyt in Wo­ke vor al­lem die Aus­wir­kun­gen der Gender-Theorie(n) auf die phy­si­sche und psy­chi­sche Ge­sund­heit Be­trof­fe­ner und zeigt, wie sehr die­ses Den­ken be­reits in po­li­ti­schen In­sti­tu­tio­nen bis hin zu Ge­setz­ge­bern ein­ge­sickert ist. Im be­reits im letz­ten Herbst er­schie­ne­nen Buch Iden­ti­täts­po­li­tik un­ter­sucht der Kul­tur­so­zio­lo­ge Bernd Ste­ge­mann die Aus­wir­kun­gen der von den Prot­ago­ni­sten ver­foch­te­nen schrof­fen Ab­leh­nung des Uni­ver­sa­lis­mus zu Gun­sten ei­nes Wer­te-Re­la­ti­vis­mus und ent­deckt in der Um­deu­tung der Wer­te der Auf­klä­rung frap­pie­ren­de Par­al­le­len zwi­schen rech­ten und lin­ken Denk­rich­tun­gen.

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Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war
Chri­stoph Rans­mayr: Als ich noch un­sterb­lich war

Ei­gent­lich sind es drei­zehn Er­zäh­lun­gen, die Chri­stoph Rans­mayr in sei­nem neu­en Buch ver­sam­melt hat. Al­le­samt sind sie zwi­schen 1997 und 2018 pu­bli­ziert wor­den und wer­den jetzt mit dem leicht-re­si­gna­ti­ven Ti­tel Als ich noch un­sterb­lich war end­lich an ei­nem Ort zu­sam­men­ge­fasst. Wo­bei der aber­gläu­bi­sche Au­tor in ei­nem klei­nen Vor­wort von »12a« spricht, um die­se un­ge­lieb­te Zahl zu ver­mei­den. Man kann al­ler­dings auch ein­fach die Ein­lei­tung als 14. Ge­schich­te le­sen, zu­mal dort das Co­ver vom bren­nen­den Schab­racken­ta­pir er­läu­tert wird.

Rans­mayr spricht in 12a von »Spiel­for­men der Er­zähl­kunst« und be­weist in die­sem Band sei­ne Viel­sei­tig­keit. Die Ti­tel­ge­schich­te, die den Band er­öff­net, han­delt von ihm als Kind, wel­ches beim Es­sen der Buch­sta­ben­sup­pe durch die Mut­ter an­ge­lernt wird »mit ei­nem Löf­fel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu hal­ten und sich dem »Zau­ber der Ver­wand­lung von et­was in Spra­che et­was selt­sam Fried­li­ches« hin­zu­ge­ben. Die­ser pa­ra­die­sisch an­mu­ten­de Zu­stand kommt zu ei­nem jä­hen En­de, als die Mut­ter »kaum sech­zig­jäh­rig, an ei­nem hei­ßen Au­gust­tag starb«. Auf dem To­ten­bett aus Ver­zweif­lung nach Wor­ten rin­gend, mahn­te die Mut­ter ih­ren Sohn ge­sti­ku­lie­rend zur Stil­le. Ein be­we­gen­des Bild.

Auch die an vor­letz­ter Stel­le wie bei­läu­fig ein­ge­ar­bei­te­te Va­ter­ge­schich­te An der Bah­re ei­nes frei­en Man­nes er­greift den Le­ser. Karl-Fried­rich Rans­mayr wird hier als ein Wie­der­gän­ger von Mi­cha­el Kohl­haas er­zählt. Da­bei klingt es zu­nächst mehr nach Bart­le­by. Rans­mayrs Va­ter wi­der­stand als Schü­ler dem Druck, auf ei­ne Na­zi-Eli­te­schu­le zu ge­hen und lehn­te es spä­ter ab, die Of­fi­ziers­lauf­bahn in der Wehr­macht ein­zu­schla­gen. »Ich woll­te un­ter die­sen Leu­ten nichts wer­den«, er­klär­te er hin­ter­her. Nach dem Krieg wur­de er Leh­rer und en­ga­gier­te sich eh­ren­amt­lich, ver­fass­te Ein­ga­ben und Ge­su­che »für Bau­ern, Hand­wer­ker, Gast­wir­te, Faß­bin­der und Schicht­ar­bei­ter«, schließ­lich stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster und ver­gab hemds­är­me­lig und un­kon­ven­tio­nell Kre­di­te an Klein­ge­wer­be­trei­ben­de. Sei­ne Be­liebt­heit weck­te Nei­der, man de­nun­zier­te ihn, Gel­der ver­un­treut zu ha­ben. Es wur­de er­mit­telt, Karl-Fried­rich Rans­mayr »ver­lor sei­ne Stel­le als Ober­leh­rer, ver­lor al­le sei­ne Funk­tio­nen in den Ver­ei­nen des Or­tes und na­tür­lich auch sei­nen Rang als stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­mei­ster«. Der Pro­zess er­gab, dass er sich zwar nicht be­rei­chert und der Ge­mein­de kei­nen Scha­den zu­ge­fügt hat­te, aber der ju­ri­sti­sche Tat­be­stand der Un­treue blieb be­stehen. »Aber Kohl­haas, mein Va­ter, woll­te zum er­sten Mal in sei­nem Le­ben kei­ne Nach­sicht, auch kei­ne Mil­de, son­dern Ge­rech­tig­keit« und »wei­ger­te sich, das Ur­teil an­zu­neh­men.« Im­mer­hin: »Nach fünf Jah­ren Nacht­ar­beit am Fließ­band der Pa­pier­fa­brik« er­folg­te die voll­stän­di­ge Re­ha­bi­li­ta­ti­on. Dann starb sei­ne Frau, Rans­mayrs Mut­ter. Der Va­ter »lehnte…die Wie­der­auf­nah­me in die dörf­li­che Ge­mein­schaft ab« und or­ga­ni­sier­te sein Le­ben neu. Ein zärt­lich-be­wun­dern­der Ton ist in die­ser Er­zäh­lung ein­ge­wo­ben.

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Wel­ten und Zei­ten V

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

← Wel­ten und Zei­ten IV

Liest man Huys­mans‘ rück­blicken­des Vor­wort (1903) zu A re­bours (1884), er­kennt man so­gleich die Front­stel­lun­gen, li­te­ra­ri­schen Schu­len und Kon­stel­la­tio­nen, die die Au­toren je­weils zu über­win­den trach­te­ten. Huys­mans hebt die­se Re­li­efs noch her­vor. »Ge­gen den Strich«, das heißt auch: ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te, ge­gen be­stimm­te Strö­mun­gen. Aber da es heu­te kei­ne sol­chen epo­cha­len oder schul­mä­ßi­gen Front­stel­lun­gen mehr gibt, er­üb­ri­gen sich auch die Kämp­fe da­ge­gen. Von wem soll ich mich in mei­nem Werk denn ab­gren­zen? Von El­frie­de Je­li­nek? Von … Ich wüß­te wirk­lich nicht, von wem. In den sieb­zi­ger Jah­ren des vo­ri­gen Jahr­hun­derts, kei­ne hun­dert Jah­re nach A re­bours – wie na­he die­se Da­ten jetzt bei­ein­an­der­lie­gen, um 1980 kam mir Huys­mans tief hi­sto­risch vor – galt das noch: Ex­pe­ri­men­tel­le Li­te­ra­tur ge­gen (so­zia­li­sti­schen) Rea­lis­mus, Neue In­ner­lich­keit ge­gen bei­de Fron­ten, dann noch ein­mal Rück­kehr zur Sach­lich­keit und zu­letzt – Post­mo­der­ne, d. h. anything goes, To­le­ranz ge­gen al­le und al­les. Da ste­hen wir heu­te noch, in der Post-post­mo­der­ne. Das Prä­fix läßt sich be­lie­big oft wie­der­ho­len, wie ein Ge­stot­ter. Wenn al­les geht, gibt es nichts zu er­le­di­gen.

A re­bours, der Ti­tel wur­de – mit gu­ten Grün­den – auch mit »Wi­der die Na­tur« über­setzt (na­he­lie­gend: ge­gen den Na­tu­ra­lis­mus). Was mich an A re­bours dann wie­der ab­stößt – nein, zu scharf for­mu­liert: was mich da­von wie­der weg­zieht, ist das The­sen­haf­te. Denn A re­bours ist ein The­sen­ro­man. Der Au­tor il­lu­striert er­zäh­lend-be­schrei­bend sei­ne The­se, daß Li­te­ra­tur und Kunst ih­rer ei­ge­nen Künst­lich­keit zu fol­gen ha­ben und nicht – wie es Goe­the sei­ner­zeit for­der­te – der Na­tur. Kunst ist ei­ne Art An­ti-Na­tur, so Huys­mans. Selt­sam, aber ein ganz an­de­rer Ro­man, den ich kürz­lich ge­le­sen ha­be, So­u­mis­si­on von Mi­chel Hou­el­le­becq, ist eben­falls ein The­sen­ro­man. Gar nicht so selt­sam, wenn man be­denkt, daß die Haupt­fi­gur dar­in Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und als sol­cher Huys­mans-Spe­zia­list. Sti­li­stisch hat Hou­el­le­becq mit Huys­mans we­nig ge­mein­sam, und sei­ne The­se ist kei­nes­wegs ge­gen die Li­te­ra­tur­ge­schich­te ge­rich­tet – in die­ser Hin­sicht ist Hou­el­le­becq mit sei­ner Bal­zac-Be­wun­de­rung ziem­lich kon­ser­va­tiv. Nein, die vom Ro­man zu il­lu­strie­ren­de The­se be­trifft die Ge­sell­schaft und hat po­li­ti­schen Cha­rak­ter: »Der Is­lam über­nimmt die kul­tu­rel­le He­ge­mo­nie«. Der ge­sam­te Text ist auf die­se The­se hin ge­trimmt. In mei­nem Ver­ständ­nis – aber da bin ich Kaf­kaianer, nicht Tho­mas Man­nia­ner, moi aus­si j’ai choi­si mon camp – in mei­nem Ver­ständ­nis soll­te man als Au­tor ge­nau die­ses Trim­men ver­mei­den, sich viel­mehr ins Un­be­kann­te trei­ben las­sen. Der Schrei­ben­de soll­te nicht zu­viel wis­sen. Am be­sten: Gar nichts wis­sen; sein Wis­sen über Bord wer­fen.

Ich er­in­ne­re mich, wie Hand­ke vor vie­len Jah­ren ein­mal zu mir sag­te: »Sie wis­sen zu­viel.« Ich er­schrak, fühl­te mich plötz­lich wie in ei­nem Kri­mi. Ei­nen Mo­ment lang lau­te­te die Bot­schaft an mich: Wir müs­sen Sie be­sei­ti­gen. Das wer­den sie doch ver­ste­hen.

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Ma­thi­as Enard: Tanz des Ver­rats

Ei­gent­lich sind es zwei ganz un­ter­schied­li­che Ge­schich­ten, die der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Ma­thi­as Enard in sei­nem neue­sten Ro­man er­zählt. Und das spie­gelt sich (ab­sicht­lich oder nicht?) be­reits in der deut­schen Über­set­zung des Ti­tels. Im Ori­gi­nal heißt der Ro­man Dé­ser­ter, in der deut­schen Über­set­zung von Hol­ger Fock und Sa­bi­ne Mül­ler Tanz des Ver­rats. Zum ei­nen han­delt es ...

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