Es war ein derart einschneidender Moment, dass ich etliches, was sich um dieses Ereignis herum ereignet hat, vergessen habe. Ich stehe auf einer Verkehrsinsel in Grindelwald und telefoniere mit meiner Mutter. Kurz vor dem Abendessen; ein kurzes Melden nach einigen Tagen. Sie erzählt von meinem Vater, der beim Zahnarzt gewesen war wegen seines Gebisses, welches nicht passte. Es passte schon seit Jahren nicht, aber immer wieder hatte er den Gang zum Arzt hinausgezögert und stattdessen mit Unmengen von Gebissklebern versucht, eine Festigkeit zu erzeugen. Seit Jahren nimmt mein Vater dieses Pulver; das kleine, rote Fläschchen ist in zwei, drei Tagen leer. Es ist Natriumalginat. Angeblich harmlos. Aber immer wieder, nach zwei oder drei Mahlzeiten fällt ihm das Gebiss heraus. Der Arzt hatte, wie meine Mutter sich ausdrückte, einen »Knubbel« im Mund festgestellt. Er kann kein neues Gebiss anpassen, bis dieses Ding entfernt ist. Man nahm eine Probe. Ich weiß nicht mehr, ob meine Mutter mir schon damals sagte, dass es Krebs war. Oder ob das erst später war. Aber ich verlasse die Telefonzelle mit dem Gefühl, dass mein Vater Krebs hat. Er war jenseits der 70, starker Raucher; Spieler. Sein plötzlich fasslicher, möglicher Tod ließ mich über ihn nachdenken. Ich ging wie in Trance aus der Telefonzelle. Weiterlesen
Nicole Zepter: Kunst hassen

Nicole Zepter: Kunst hassen
Wie fast immer bei einer enttäuschten Liebe schwingt noch eine gehörige Portion davon mit. Tatsächlich hat Zepter rein gar nichts gegen Kunst. Sie hasst sie auch nicht. Sie hasst jedoch umso intensiver den Betrieb, der jeden noch so lächerlichen und inhaltsleeren Schnickschnack zur »Kunst« aufbläht. Sie hasst den Betrieb, der aus jedem dahergelaufenen Wichtigtuer einen »Künstler« hochstilisiert, weil am anderen Ende zielsicher die ökonomische Belohnung steht. Sie hasst die Museen, die sich zu Kathedralen einer Vermarktungsmaschinerie machen. Und sie hasst – das sind die überzeugendsten Stellen in diesem Buch – die hyperventilierenden Sprachkaskaden eines Kunst-Journalismus bzw. ‑Feuilletonismus, der das alles mitmacht und Spalier steht. Demzufolge steht auch im Prolog eindrucksvoll und deutlich: Kunsthass ist keine Kunstkritik. Er ist die Kritik an dem Kunstsystem an sich. Der Kunsthass ist das Gegenteil des Laberns was das Zeug hält, in einem Meer von distanzlosen Kritikern, die oft gleichzeitig Künstler, Kuratoren oder mittlerweile sogar Kunsthändler sind. Das alles ist eine Günstlingsgesellschaft, ein großer Win-Win-Kosmos, in dem der Preis eines »Kunstwerks« als Maßstab für dessen Qualität gilt. Geld essen Kunst auf heißt ein Unterkapitel. Was ja immerhin voraussetzt, dass eine dagewesen sein muss. Weiterlesen
Katie Roiphe: Messy Lives – Für ein unaufgeräumtes Leben
Schwarm und Idiot
Philosophisches und Aphoristisches von Byung-Chul Han und Botho Strauß
In seinem Buch »Lichter des Toren – Der Idiot und seine Zeit« (LT; 2013) findet Botho Strauß eine konzise Formulierung für das Phänomen des Schwarms im Internet: »Netz-Schwärme sind keine konsumistische Masse, sondern lassen in korrelierten Prozessen dominante Leitsysteme entstehen, die im Kern dieselbe Botschaft verbreiten – in Meinungen, Vorlieben, Verdammungen und Direktiven.« (LT 79)
Diese Form einer Definition ist in Strauß’ ansonsten meist sentenziösem Buch ungewöhnlich. Es könnte jedoch als Leitspruch auch über den unlängst erschienenen Essay »Im Schwarm – Ansichten des Digitalen« von Byung-Chul Han stehen (IS; 2013). Wo Strauß etwas nebulös vom »Plurimi-Faktor« schreibt, der »das Hohe zugunsten des Breiten« abwerte (LT 32), spricht Han vom Schwarm. Wie Strauß unterscheidet Han Masse von Schwarm und spricht zunächst neutral von Menge. »Die neue Menge heißt der digitale Schwarm« (IS 19). Die Unterschiede zur Masse sind immanent. Der Schwarm hat, so die These, keine Seele, keinen Geist. Seele sei »versammelnd«, so Han, der Schwarm bestehe jedoch aus »vereinzelten Individuen«. Eine Masse »offenbart Eigenschaften, die auf die Einzelnen nicht zurückzuführen sind. Die einzelnen verschmelzen zu einer neuen Einheit« (IS 19). Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Die Individuen des Schwarms »entwickeln kein Wir.« Sie blieben alleine: »Elektronische Medien…versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.« Der Schwarmteilnehmer, der homo digitalis, sei kein Niemand, sondern ein Jemand, »der sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt«. Für Strauß ist der Schwarm sogar bedrohlich: »Wenn sich der Geist des Schwarms als Ordnungsmacht etabliert, schlägt die Stunde der Insurgenten« (LT 41), so heißt es ein wenig bedrohlich. Weiterlesen
Übertreibungslaune und Augenflackern
TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN SEPTEMBER/OKTOBER 1983 (Wien)
Mittwoch, 29. September 1983
Mit Lillian1 zu Eva Mattes. Ihre Schwere und Traurigkeit, ihre Wärme und Neugierde gefallen mir – und in den nächsten Stunden intensives Kennenlernen; gemeinsam am Naschmarkt, danach noch im Restaurant Smutny. Eva lieb zu mir und ich zu ihr – eine PERSÖNLICHKEIT, wie man sie selten findet. Da will man auch von sich etwas hergeben, wenn jemand so ist. Im Smutny meine Frage nach Evas Mutter2, die UFA-Schauspielerin war – das führt zu einem leidenschaftlichen Eva-Monolog, denn ihre Mutter war wahrscheinlich eine Geliebte von Goebbels. Beim Abschied Evas Einladung, wir sollen sie in München besuchen kommen – ihr intensiver Blick beim Adieu. (...) Abends bei Marietta Torberg3 eingeladen, Karin4 und Klaus Maria Brandauer stoßen dazu, KMB in Übertreibungslaune, wie immer, aber seine Nacherzählung der Audienz bei Papst Johannes Paul II. hat höchste Qualität, wer kann das so wiedergeben, mit so viel Erzähl-Perfektion? Wir lachen Tränen. Manchmal KMB’s Forcieren, als sei er unsicher, nicht unsicher im Erzählen, sondern im »Normalsein«: er kann nicht ruhig und normal sein, hat den Ruhm immer als BEWUßTSEIN im Nacken. Mit Marietta und den Brandauers ins Restaurant ‚Argentina’. Karin gefällt mir sehr, ihre Ruhe und ECHTHEIT. Nun ist die Reihe an mir, zu erzählen, ich gebe meine Los-Angeles-Erlebnisse zum Teil wieder. (...) Karin spricht von Filmplänen, KMB von Regie- und Spielplänen. Der Abend anregungsreich, unwienerisch. Weiterlesen
Kleiner Hinweis...
Ab heute ist mein zweites Buch lieferbar, erschienen im Mirabilis-Verlag. Es ist ein kurzer, aber hoffentlich prägnanter Essay über Peter Handke und das Kino mit dem schönen Titel »Der Geruch der Filme«. Es geht um Handkes Kinoleidenschaft, um die Filme, in denen er Regie geführt hat und um seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders. Es geht um Yasujirō Ozu, Jean-Marie Straub/Danièle Huillet und John Ford. Anhand seines Werkes werden die Filme herausgestellt, die für Handkes ästhetischen Kanon besonders wichtig waren (und sind). Und es gibt noch kongeniale Bilder zum Text.

Lothar Struck:
Der Geruch der Filme – Peter Handke und das Kino
(Mirabilis Verlag
Bild © Dieter Sander)
Bestellungen können zum Beispiel über die Verlagsseite getätigt werden.
Peter Handke: Versuch über den Pilznarren
[...]
Und nun also der »Versuch über den Pilznarren«. Auch dies ist eine Geschichte, und zwar eine Geschichte für sich, so der Untertitel. Eine bloße Nacherzählung sei dies – eigentlich sonst nicht eben meine Sache, schreibt der Erzähler. Dies an einer Stelle, als es darum geht, das Kippen des Pilzfreundes, ‑sammlers, ‑suchers (und ‑finders) hin zum Narrentum, zur Manie, zu erzählen. Denn hier ist es kein schrulliger Vater, der sich in den Wald geflüchtet hat um seinen Platz dort zu finden. Es ist ein Strafanwalt beim Internationalen Strafgericht, jemand, der aus der Schönheit des jeweiligen Angeklagten und dem Duft des Waldes seine Inspiration für die Plädoyers nutzt, die zum Freispruch führen. Von diesem Straf- und Staranwalt erzählt das Ich, der Schriftsteller, oder vielleicht eher Schreiber, der Jugendfreund. Es wird eine Geschichte der Leiden und der Leidenschaft – und eine Geschichte der Heilung.
Fast chronologisch wird dieses später (vorübergehend) in Pilznarrentum ergehende Leben erzählt. (Erzählt, nicht gedeutet!) Von klein auf habe er sich zum Schatzsucher bestimmt gefühlt, als eine Art Auserwählter. Was ihn nicht daran hinderte, geldversessen wie er war, die Schätze seiner Suche, die Eierschwammerl (vulgo Pfifferlinge) zu verkaufen, um mit den Erlösen seinen Wissendurst mit Büchern zu stillen. Es folgte das Studium, der Beruf; er wird zwar kein Reicher, aber »gut situiert«. Hier verloren sich die Jugendfreunde vorübergehend aus den Augen. Der bekannte Anwalt, in Maßanzügen, englischen Maßschuhen und mit wechselnden Seidenkrawatten zum Weltmann geworden, schickte irgendwann, unverhofft, ein Lebenszeichen an den Schriftsteller. Er lese gerade die Geschichte vom Leben in der Niemandsbucht und finde sich selber darin miterzählt. Immer wieder finden sich Bezüge zu anderen Handke-Büchern.
[...]
Der ganze Beitrag hier bei »Glanz und Elend«
Hessen und Hamburg
In den nächsten Wochen werden die politischen Gesprächssendungen in Radio und Fernsehen nur ein Thema haben: Wer wird zukünftig im Bund regieren? Einen Vorgeschmack auf den Tsunami des Geschnatters vermeintlicher Experten hat man in den letzten Tagen schon bekommen. Ich erspare mir die Aufzählung der üblichen Verdächtigen.
Da werden veritable Gegenargumente für die Große Koalition aufgebracht. Man kann diese Phrasen allesamt in das Reich der Fabel verweisen. Es gibt keine andere Möglichkeit als die Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Man kann seine Lebenszeit besser verbringen, als der Kaffeesatzleserei unterbeschäftigter Medienvertreter anzuschließen. Was immer in den ach so schönen Planspielen der Diskutanten ausgeblendet wird: Die Situation im Bundesrat. Weiterlesen