Zie­gen am Berg – Zum 90. Ge­burts­tag von Phil­ip­pe Jac­cot­tet

Phil­ip­pe Jac­cot­tet zu­ge­eig­net

ZIEGEN AM BERG

Wie dar­ge­bracht, ein Schwung
Milch, er­schien ihm
ei­ne Zie­gen­her­de am Berg,
im­mer brei­ter zer­streut.

Nicht dass wir zu­sam­men
je­mals hin­über­blick­ten.

Doch wie ich lan­ge späh­te
auf je­ne an­de­re Sei­te,
sah ich (und wuss­te nicht,
wo­durch dann jäh er­freut),

wie dort am Ge­gen­hang,
im Stei­gen, die ein­zel­nen,
die ganz am Ran­de,
in ih­rem Stre­ben nick­ten.


San­der Ort ist Künst­ler, Über­set­zer und Schrift­stel­ler. Er lebt in Pa­ris und To­kio. 2007 er­schien im Han­ser-Ver­lag von ihm über­setzt Phil­ip­pe Jac­cot­tet: »Flie­gen­de Saat – Auf­zeich­nun­gen 1954–1979«.

Joa­chim Lott­mann: Hap­py End

Joachim Lottmann: Happy End

Joa­chim Lott­mann: Hap­py End

Ir­gend­wann hat das je­der ein­mal er­lebt. Man steht am Tre­sen in ei­ner Knei­pe und war­tet auf ein Bier. Da kommt ein Mensch (es ist im­mer ein Mann), nicht unsympa­thisch, stellt sich ne­ben ei­nem und be­ginnt, zu er­zäh­len. Über das Bier hier in der Knei­pe, die Be­die­nung, sei­ne Ar­beit, über Po­li­tik, sei­nen Ur­laub, sei­ne Be­zie­hung, die Un­ge­rech­tig­keit in der Welt – es geht ein­fach um Al­les. Erst ist man nett ab­ge­lenkt, nickt zu­wei­len aus Höf­lichkeit, aber ir­gend­wann wünscht man sich, dass ein ehe­ma­li­ger Schul­freund das Lo­kal be­tritt, das lei­se im Hin­ter­grund du­deln­de Ra­dio ei­ne welt­be­we­gen­de Nach­richt ver­kün­det oder min­de­stens dass das Mo­bil­te­le­fon klin­gelt – in­stän­dig er­sehnt man ei­nen so­zi­al halb­wegs glaub­wür­di­gen Grund, dem Re­de­schwall zu ent­flie­hen.

In et­wa ist das die Si­tua­ti­on mit Joa­chim Lott­manns neu­em Buch »Hap­py End«. Der wich­tig­ste Un­ter­schied ist, dass ich, der Le­ser, mich so­zu­sa­gen an Lott­manns Tre­sen ge­stellt ha­be. Und das da je­mand nicht über Be­zie­hungs­pro­ble­me er­zählt, son­dern be­reits auf den er­sten Sei­ten sei­ne Frau Eli­sa­beth, ge­nannt Sis­si, ei­ne 38jährige er­folg­rei­che Links­in­tel­lek­tu­el­le, die über das Elend in der Welt in Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart ziel­si­cher schrei­ben kann und in »ger­ia­tri­schen« Fil­men heult, in den höch­sten Tö­nen lobt. Wei­ter geht es um Ur­laubs­rei­sen, Lek­tü­re­ein­drücke, Ko­lum­nen­schrei­be­rei (Schwer­punkt Tier­ko­lum­nen), sei­ne Ma­gen­schmer­zen, die auf ei­ne zu star­ke Ver­ein­nah­mung durch die so ver­göt­ter­te Frau hin­deu­ten und ei­ne Ge­heim­woh­nung in Wien. Dass ei­nem bei der Lek­tü­re der Kopf vor lau­ter Mü­dig­keit nicht auf das E‑­Book-Le­se­ge­rät fällt ver­mag man nur zu ver­mei­den, in­dem man die­sen ge­le­gent­lich schüt­telt. Ei­ne Me­lan­ge aus Hoff­nung, Pflicht­be­wusst­sein und Ma­so­chis­mus führt da­zu, dass man bis zum En­de liest. Wei­ter­le­sen

Der Ma­ler der Ap­ple-Mo­der­ne: Os­kar Schlem­mer

»Vi­sio­nen ei­ner neu­en Welt« in der Staats­ga­le­rie Stutt­gart

Ein Nach­klapp

Os­kar Schlem­mer ist ein be­lieb­ter Ma­ler: An ei­nem Frei­tag Nach­mit­tag sind die Aus­stellungsräume der Staats­ga­le­rie Stutt­gart gut ge­füllt. Das ty­pi­sche Pu­bli­kum für ei­nen Mu­se­ums­wo­chen­tag: Rent­ner-Grup­pen, Schü­le­rin­nen und Stu­den­tin­nen so­wie Kin­der. Wäh­rend die jun­gen Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher meist un­an­ge­lei­tet, aber mit Block und Stif­ten in der Hand, durch die Sä­le ge­hen, tappt die Mehr­zahl der Se­nio­ren mit Kopf­hörern auf den Oh­ren und ei­nem vor der Brust bau­meln­den Au­dio-Gui­de von Bild zu Bild, Raum zu Raum. Die Be­trach­ter ge­ra­ten da­bei in selt­sa­me, mit­un­ter ko­mi­sche Kor­re­spon­den­zen zu den auf den Bil­dern rast­los hin und her, auf und ab schrei­ten­den Ge­stal­ten: Ir­gend­wie fremd­ge­steu­ert bei­de, stre­ben die Schlem­mer-We­sen ge­mes­se­nen Schrit­tes und meist äthe­risch strah­lend rank und schlank zu Hö­he­rem, wäh­rend sich die Ir­di­schen in ih­ren von Zeit, Schwer­kraft und Er­fah­rung in­di­vi­du­el­le ge­form­ten Lei­bern durch die Aus­stel­lung schie­ben.

Die Be­liebt­heit Schlem­mers beim Pu­bli­kum er­schließt sich so­fort: Sei­ne Bil­der bie­ten ei­ne auf­ge­räum­te, ge­ra­de­zu clea­ne Äs­the­tik in zu­rück­hal­ten­der, har­mo­ni­scher, freund­li­cher Far­big­keit. Ei­gent­lich im­mer sind mensch­li­che Ge­stal­ten zu er­ken­nen, meist in an­ge­deu­te­te ar­chi­tek­to­ni­sche Zu­sam­men­hän­ge ein­ge­fügt, in sug­ge­sti­ven Po­sen und Kon­stel­la­tio­nen. Ei­ne klas­si­sche Mo­der­ne, de­ren Ir­ri­ta­ti­ons­ver­mö­gen fast gänz­lich ver­schwun­den ist, die uns aber noch ein­mal das gro­ße Ver­spre­chen auf ei­ne bes­se­re, ef­fi­zi­en­te­re, schwe­re­lo­se Welt spür­bar macht, das die Mo­der­ne auch ein­mal war.

Os­kar Schlem­mers Ge­mäl­de müss­ten ei­gent­lich die Wän­de der Smart Ho­mes von Si­li­con Val­ley-Ty­coo­nen schmücken, fi­nan­ziert vom Ge­winn aus Goog­le- und Ap­ple-Ak­ti­en.

Dass sie das bis­her nicht tun, liegt nicht an den In­ter­net-Un­ter­neh­mern, son­dern an den Schlem­mer-Er­ben. Nach dem Tot von Tut Schlem­mer, der Wit­we Schlem­mers, ver­hinderten de­ren Er­ben nicht nur den Ver­kauf sei­ner Wer­ke fast voll­stän­dig, son­dern auch vie­le Aus­stel­lun­gen so­wie Pu­bli­ka­tio­nen. Der Ruf von Os­kar Schlem­mer als ei­ner zen­tra­len Fi­gur der klas­si­schen Mo­der­ne, – wie ihn auch die Stutt­gar­ter Aus­stel­lung fei­er­te –, ist des­we­gen eher my­thi­scher Na­tur. Auf­grund der Ma­chen­schaf­ten sei­ner Er­ben und der Ängst­lich­keit vie­ler Mu­se­en ist sei­ne kunst­hi­sto­ri­sche Ein­ord­nung heu­te un­ge­nau, mehr Be­haup­tung als An­schau­ung. Aber nun, 70 Jah­re nach sei­nem Tod, ist die Dis­kus­si­on wie­der er­öff­net, denn nun sind die Rech­te an den Bil­dern frei. Wei­ter­le­sen

Frank Schirr­ma­cher: Un­ge­heu­er­li­che Neu­ig­kei­ten (Hrsg. von Ja­kob Aug­stein)

Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten - Hrsg. v. Jakob Augstein

Frank Schirr­ma­cher: Un­ge­heu­er­li­che Neu­ig­kei­ten – Hrsg. v. Ja­kob Aug­stein

Der über­ra­schen­de und be­stür­zen­de Tod des 54jährigen Frank Schirr­ma­cher ist noch nicht ein­mal ein Jahr her, da er­scheint schon ein Band mit sei­nen Auf­sät­zen aus den Jah­ren 1990 bis 2014. Es sind 39 Tex­te und fünf Ge­sprä­che (mit Joa­chim Fest, dem Al­bert Speer jr., Ott­fried Preuß­ler, Gün­ter Grass [je­nes Ge­spräch von 2006, in dem er sei­ne Mit­glied­schaft in ei­ner Ein­heit der Waf­fen-SS öf­fent­lich mach­te] und das Ver­söhnungsgespräch zwi­schen Mar­tin Wal­ser, Sa­lo­mon Korn und Ignatz Bu­bis nach Walsers Pauls­kir­chen­re­de 1998 – der läng­ste Bei­trag im Buch). Die Ord­nung der Tex­te in­ner­halb der sie­ben ge­wähl­ten Ka­te­go­rien ist nicht chro­no­lo­gisch; war­um, bleibt of­fen. Die Tex­te wer­den oh­ne er­klä­ren­de Er­läu­te­run­gen ab­ge­druckt. Kon­tex­te und Hin­ter­grün­de muss der Le­ser ge­ge­be­nen­falls sel­ber eru­ie­ren.

Der Ti­tel des Sam­mel­ban­des trifft per­fekt Schirr­ma­chers Duk­tus: »Un­ge­heu­er­li­che Neu­ig­kei­ten«. Her­aus­ge­ge­ben ist das Buch von Ja­kob Aug­stein, der auch ein kur­zes, aber sehr stu­pen­des Vor­wort ver­fasst hat. Die längst ein­ge­setz­te Ha­gio­gra­phi­sie­rung Schirr­machers ins­be­son­de­re in wei­ten Tei­len des Kul­tur­jour­na­lis­mus ver­mei­det Aug­stein, al­ler­dings oh­ne da­bei dem gro­ßen Kol­le­gen den Re­spekt zu ver­wei­gern. So be­zich­tigt er Schirr­ma­cher bei­spiels­wei­se des Alar­mis­mus, was zwei­fel­los den Tat­sa­chen ent­spricht. Kon­ge­ni­al wenn auch nicht ori­gi­nell der Ver­gleich mit dem »ra­sen­den Re­por­ter« Egon Er­win Kisch. Wenn man Schirr­ma­chers Tex­te in die­ser Ge­ballt­heit hin­ter­ein­an­der liest, be­merkt man das Um­trie­bi­ge, fast Hek­ti­sche, das Aug­stein kon­ge­ni­al be­schreibt. Stets gilt es, der Er­ste zu sein, der sich ei­ner am Ho­ri­zont an­bah­nen­den ge­sell­schaft­li­chen Dis­kus­si­on wid­met. Und wenn die an­de­ren auf den Zug auf­ge­sprun­gen wa­ren, wink­te schon ein an­de­res The­ma. Wei­ter­le­sen

Mal­te Her­wig: Die Frau, die Nein sagt

Malte Herwig: Die Frau, die Nein sagt

Mal­te Her­wig: Die Frau, die Nein sagt

Es ist der 23. Sep­tem­ber 1953. Ei­ne 32jährige Frau ver­lässt mit ih­ren bei­den Kin­dern (6 und 4) den Ge­lieb­ten. »Kei­ne Frau ver­lässt ei­nen Mann wie mich«, hat­te die­ser ge­tönt. »Ei­nen Mann, so reich und be­rühmt«. »Und sie? Hat­te schal­lend ge­lacht und ihm ent­geg­net, dann sei sie eben die er­ste Frau, die es fer­tig­bräch­te«.

Mit die­ser Sze­ne be­ginnt das Buch »Die Frau, die Nein sagt« von Mal­te Her­wig. Der Mann, den man nicht ver­lässt, ist Pa­blo Pi­cas­so. Er ist da­mals fast 73 Jah­re alt. Die Frau, die in ei­ner der we­ni­gen Re­por­ter­su­per­la­ti­ve in die­sem Buch »die be­rühm­te­ste Über­le­ben­de der Kunst­ge­schich­te« ge­nannt wird, ist Fran­çoi­se Gi­lot. Sie ist die Frau, die nach zehn Jah­ren Nein ge­sagt hat. Und bis heu­te im­mer dann Nein sagt, wenn es ihr passt. Mit al­len Kon­se­quen­zen.

Gi­lot ist Jahr­gang 1921 und 90 Jah­re alt, als sich der SZ-Re­por­ter Mal­te Her­wig bei ihr mel­det. Zehn Mo­na­te lebt die Da­me in New York, im Mai und Ju­ni zieht es sie nach Pa­ris. Sie ist Ma­le­rin ge­we­sen und ge­blie­ben. »5000 Zeich­nun­gen und 1600 Ge­mäl­de« fasst ihr Œu­vre aus 75 Jah­ren. » ‘Au­ßer ma­len tue ich ja nichts’ «, so die la­ko­ni­sche Be­grün­dung für die­ses Werk. Ih­re Zeit mit Pi­cas­so, als sie Mu­se, Mut­ter und Ge­lieb­te war, hat ihr Le­ben zwar ge­prägt, aber Her­wig re­du­ziert sie nicht dar­auf.

Na­tür­lich gab es glück­li­che Ta­ge, wie die­ses Bild, das auch im Buch ab­ge­druckt ist, zeigt. Die ein­zel­nen Etap­pen der Li­ai­son und den Ein­fluss Gi­lots auf Pi­cas­sos Schaf­fen wer­den her­aus­ge­ar­bei­tet. Pi­cas­so sei »der ein­sam­ste al­ler Men­schen« ge­we­sen, so Gi­lot. Dies trotz der zahl­rei­chen Ge­lieb­ten und ver­meint­li­chen Freun­de; Letz­te­re fast al­le Ja­sa­ger. Zur Ein­sam­keit ge­sellt sich die Un­si­cher­heit die­ses ver­meint­li­chen Ber­ser­kers Pi­cas­so. Und dann die­se Ei­fer­sucht als Ma­tis­se sie als Mo­dell nahm. Zu­wei­len zi­tiert Her­wig aus Gi­lots Buch über das Le­ben mit Pi­cas­so.

Das Ge­nie als mensch­li­ches Scheu­sal – man glaubt, dies zu ken­nen und ist dann doch im­mer wie­der über­rascht. Pi­cas­so be­leg­te sei­ne Ex-Ge­lieb­te, die Mut­ter sei­ner Kin­der, mit ei­nem Bann­strahl. Er, der be­rühm­te Mann, droh­te Ga­le­rien und Mu­se­en, ih­nen kei­ne Bil­der mehr zu lie­fern, wenn sie Bil­der von Fran­çoi­se Gi­lot aus­stel­len soll­ten. So schrumpft Grö­ße. Lan­ge Zeit mach­te der Be­trieb, die Kri­tik, mit. Man kennt das. Wei­ter­le­sen

Wenn Qua­li­täts­jour­na­li­sten ope­rie­ren

Ich ge­ste­he frei­mü­tig bis ge­stern von der Exi­stenz ei­ner »Deut­schen Ge­sell­schaft Qua­li­täts­jour­na­lis­mus« nichts ge­wusst zu ha­ben. Die Mel­dung im Bran­chen­ma­ga­zin »Kress« über ei­nen Bei­trag des FAZ-Mit­her­aus­ge­bers Wer­ner D’In­ka hat mich auf die Spur ge­bracht. Im Band »Quo va­dis, Qua­li­täts­jour­na­lis­mus«, der als pdf her­un­ter­lad­bar ist, fin­det sich D’In­kas Bei­trag. Aus­ge­wie­se­ne Jour­na­li­sten­schüt­zer wie bei­spiels­wei­se Ro­land Ber­ger, Vol­ker Bouf­fier, Bernd Raf­fel­hü­schen, Jür­gen Fit­schen, Jens Weid­mann oder auch Götz Wer­ner er­klä­ren in zu­wei­len knap­pen wie ba­na­len Bei­trä­gen, wie wich­tig heut­zu­ta­ge Jour­na­lis­mus ist. So­gar Bahn­chef Rü­di­ger Gru­be fand zwi­schen den Tarif­verhandlungen sei­nes Per­so­nal­vor­stands noch Zeit, ei­nen Text zu ver­fas­sen. Man fragt sich in An­be­tracht die­ser Zu­sam­men­stel­lung mehr denn je, wie schlecht es um das, was man ge­mein­hin »Jour­na­lis­mus« nennt in die­sem Land be­stellt sein muss, wenn es sol­che Lob­red­ner braucht.

Die heh­ren Be­kennt­nis­se die­ser Her­ren (es sind nur we­ni­ge Da­men) ha­ben in et­wa den Er­kennt­nis­wert ei­ner Sand­männ­chen-Sen­dung. Es kom­me nicht auf Klick­zah­len im In­ter­net an, weiß zum Bei­spiel Vol­ker Bouf­fier, der lei­der nicht schreibt, was er in sei­ner zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen kur­zen Zeit im ZDF Ver­wal­tungs­rat da­für ge­tan hat, Kul­tur­pro­gram­me jen­seits der Ein­schalt­quo­ten­hö­rig­keit ins Pro­gramm zu plat­zie­ren. Fast je­der die­ser Fach­leu­te in Sa­chen Jour­na­lis­mus be­tont die Not­wen­dig­keit der frei­en Pres­se. In­ter­es­san­ter­wei­se wis­sen sie auch recht ge­nau, wie die­se aus­zu­se­hen hat. Wei­ter­le­sen

Flo­ri­an L. Ar­nold: Ein un­ge­heu­er­li­cher Satz

Florian L. Arnold: Ein ungeheuerlicher Satz

Flo­ri­an L. Ar­nold:
Ein un­ge­heu­er­li­cher Satz

»No­vel­le« nennt Flo­ri­an L. Ar­nold sein Buch »Ein un­ge­heu­er­li­cher Satz«. Seit ei­ni­gen Jah­ren be­die­nen sich Ver­la­ge die­ser Gat­tungs­be­zeich­nung ver­mehrt, um kur­ze Er­zäh­lun­gen, die nicht als Ro­man ver­mark­tet wer­den kön­nen, auf­zu­wer­ten. »No­vel­le« dient da­bei Fall als Di­stink­ti­ons­merk­mal ge­gen­über »Er­zäh­lung«. Hier trifft die­se Spie­le­rei je­doch nicht zu. Es han­delt sich tat­säch­lich um ei­ne »un­er­hör­te Be­ge­ben­heit«, wie Goe­thes De­fi­ni­ti­on der No­vel­le lau­te­te. Der na­men­lo­se Ich-Er­zäh­ler, ein 13jähriger Jun­ge (?), wird ei­nes Ta­ges mit ei­nem »un­ge­heu­er­li­chen Satz« sei­nes Va­ters kon­fron­tiert: »Wir ge­hen weg«. Die Fol­gen wer­den ein­schnei­dend sein.

Man lebt in ei­ner Art Wild­nis; für sich, al­lei­ne. Die Zeit, in der die No­vel­le spielt, ist nicht eru­ier­bar. Zwei‑, drei­mal im Jahr fährt die Fa­mi­lie mit ei­nem al­ten, »selbst­mord­ge­fähr­de­ten« Au­to in die Stadt. Dort kauft man un­ter an­de­rem schwar­ze, un­li­nier­te Hef­te, die vom Va­ter ir­gend­wann zwang­haft voll­ge­schrie­ben und von der Mut­ter dann per Post nach »Igna­tu« ver­schickt wer­den. An­son­sten lebt man vom Ge­mü­se­gar­ten. Es scheint we­der Te­le­fon noch In­ter­net zu ge­ben. So­zia­le Kon­tak­te hal­ten sich in Gren­zen, blei­ben schließ­lich bis auf ei­nen ge­wis­sen Rö­sen­mar­rer gänz­lich aus (und so­fort denkt man bei die­sem Na­men an Roit­ha­mer aus Tho­mas Bern­hards »Kor­rek­tur«).

Der Va­ter, ei­ne Her­mann-Bur­ger-Fi­gur, ist ein rau­chen­der Me­lan­cho­li­ker, ge­heim­nis­voll in sei­nem schein­bar kin­di­schen Hass auf das Licht, die Son­ne, die Hit­ze, den Som­mer. Ein Mann, der mit sei­nem Sohn über ei­nen längst ver­wil­der­ten Fried­hof spa­ziert und Grab­steine buch­sta­biert, ent­zif­fert und sich von sei­nem Kind die Le­bens­da­ten aus­rech­nen lässt. Wei­ter­le­sen