My­thos und Öko­no­mie

Wie alt mag sie wohl sein? Die Zahl Hun­dert ist für uns, die wir so weit da­von ent­fernt le­ben, wie ein Tor zu ei­ner my­thi­schen Land­schaft. Et­wa so, als müß­te man, wenn man da ein­mal durch ist, nicht mehr ster­ben. Un­ter dem dün­nen ka­sta­ni­en­far­be­nen Haar der klei­nen, bucke­li­gen Frau scheint die wei­ße Kopf­haut durch. Ih­re Hän­de schie­ben ent­schlossen kon­trol­lie­rend die Wa­ren auf dem La­den­tisch zu­sam­men, wäh­rend ihr Mund das un­ver­än­der­li­che Ge­spräch mit der Ver­käu­fe­rin führt. Karg, denkt der Be­ob­ach­ter aus der rea­len Welt; ärm­lich. Din­ge, die wir nicht kau­fen, die wir nicht ein­mal se­hen im Re­gal, win­zi­ge Fläsch­chen mit Ge­sund­heits­ge­trän­ken, ei­ne ein­zel­ne, ab­ge­pack­te Ba­na­ne, die spä­ter in drei Stücke, drei Ta­ge ge­teilt wird. Drau­ßen, ne­ben der Ein­gangs­tür, hat die Hun­dert­jäh­ri­ge ihr Fahr­zeug ab­ge­stellt: Kof­fer, Thron und Rol­la­tor in ei­nem. Die Frau stellt die wei­ße Kon­bi­ni­pla­stik­tü­te auf dem Asphalt ab, klappt den Deckel (die Sitz­flä­che) hoch, holt (zau­bert) al­ler­lei Tü­cher und Beu­tel her­vor, ent­fal­tet zwei oder drei da­von, legt (zau­bert) die an­de­ren zu­rück und be­ginnt mit ra­schen, en­er­gi­schen Hand­grif­fen den Ein­kauf zu ord­nen, die Wa­ren auf zwei oder drei Beu­tel zu ver­tei­len. Wo­her die­se En­er­gie? Und was für ei­ne Art von En­er­gie? Wie mag sich das Trei­ben an­füh­len in der my­thi­schen Welt? Oder ist es nur Öko­no­mie, spar­sam­ster Um­gang mit der vor­han­de­nen En­er­gie, den Res­sour­cen? Da­bei be­steht das jetzt der Glas­front und der grel­len, scharf um­ris­se­nen, stets neu­en und al­ters­lo­sen Welt zu­ge­wand­te, zu­gleich ab­ge­wand­te Ge­sicht nur aus zwei brei­ten wei­ßen Lap­pen mit kaum ge­öff­ne­ten Seh- und Atem­schlit­zen. Der Deckel im Hand­um­dre­hen zu­ge­klappt, der Ein­kauf ist ver­teilt und ver­staut, auf den wei­ßen Lap­pen le­sen wir Zu­frie­den­heit (aber die le­sen wir hin­ein, weil wir die Aus­drucks­lo­sig­keit nicht er­tra­gen). Ab­ge­wetzt, ab­ge­ses­sen, an den Ecken ab­ge­sto­ßen und ab­ge­run­det ist das Ge­fährt der Frau, die es jetzt mit lang­sa­men und en­er­gi­schen Schrit­ten um­run­det, um es schließ­lich an der ho­ri­zon­ta­len Hal­te­stan­ge, die als Stüt­ze und Steu­er dient, zu packen. Sie rich­tet sich auf; run­det sich ab; der Buckel wölbt sich über den Thron mit dem un­sichtbaren – ich weiß nicht, ob Kö­nig, Ehe­mann, Bet­tel­mann, Nichts. Ent­schlos­sen durch­stößt die Frau die Gren­ze un­se­res Ge­sichts­felds, das sei­ne be­mes­se­ne Rea­li­tät wie­der­ge­winnt.

Blick ins No­bel-Ar­chiv

Die teil­wei­se hef­ti­gen Dis­kus­sio­nen um die jüng­ste Ver­ga­be des Li­te­ra­tur­no­bel­prei­ses an Bob Dy­lan zei­gen, dass der Preis im­mer noch ei­ne ge­wis­se Strahl­kraft hat. An­son­sten wür­den sich die Emo­tio­nen nicht der­art hoch­schau­keln. We­nig Be­ach­tung fin­det da­bei, dass die Schwe­dische Aka­de­mie je­des Jahr ein klei­nes biss­chen ihr Ar­chiv öff­net. Mit dem je nach Tem­pe­ra­ment wohl­tu­en­den oder ob­so­let-hin­hal­ten­den Ab­stand von 50 Jah­ren wer­den die No­mi­nie­run­gen zu den No­bel­prei­sen ver­öf­fent­licht. Das Fin­den auf der Web­sei­te ist et­was kom­pli­ziert. Hat man sich aber erst ein­mal ein­ge­groovt, wird man mit in­ter­es­san­ten Er­kennt­nis­sen be­lohnt.

Der­zeit gibt es Zu­griff auf die No­mi­nie­rungs­li­sten zu den No­bel­prei­sen von 1901 bis 1965. Die Su­che kann leicht so­wohl über den Na­men als auch über das Ver­ga­be­jahr durch­geführt wer­den. Ins­ge­samt wa­ren bis da­hin 3005 No­mi­nie­run­gen für den Literaturnobel­preis ein­ge­gan­gen. 1901 la­gen 37 No­mi­nie­run­gen vor, 1965 wa­ren es be­reits 90. (Die Zahl ist in­zwi­schen deut­lich hö­her.) Ein Blick auf die Li­sten zeigt, dass ne­ben Ein­zel­vor­schlä­gen auch Sam­mel­no­mi­nie­run­gen meh­re­rer Per­sön­lich­kei­ten für ei­nen Kan­di­da­ten gab, die al­ler­dings nur ein­mal ge­zählt wur­den. Stu­diert man die Li­sten ge­nau, so gab es kei­ne Ga­ran­tie für den »Un­ter­le­ge­nen« bei ei­ner der näch­sten Preis­ver­ga­ben be­rück­sich­tigt zu wer­den.
Wei­ter­le­sen

Leucht/Wieland (Hrsg): Dich­ter­dar­stel­ler

Robert Leucht/Magnus Wieland (Hrsg): Dichterdarsteller

Ro­bert Leucht/Magnus Wie­land (Hrsg):
Dich­ter­dar­stel­ler

Seit Ro­land Bar­thes in den 1960er Jah­ren den »Tod des Au­tors« ver­kün­de­te, galt es lan­ge Zeit in den Literatur­wissenschaften als ver­pönt, Werk und Vi­ta des Au­tors in Zu­sam­men­hang zu brin­gen. Erst in den letz­ten Jah­ren wur­de die­ses na­he­zu wie ein Ta­bu be­han­del­te Dik­tum auf­ge­ge­ben und wie­der ver­mehrt die Fra­ge nach Inter­dependenzen zwi­schen dem Le­ben ei­nes Au­tors und des­sen Werk ge­stellt. Die Ent­hül­lung um das Pseud­onym von Ele­na Ferran­te zei­gen, wie wich­tig es in­zwi­schen zu sein scheint, ein Werk di­rekt mit der Au­torin zu ver­knüpfen. In­so­fern über­rascht es, dass im Feuil­le­ton die De­mas­kie­rung bis­her mehr­heit­lich ab­ge­lehnt wird.

Ro­bert Leucht und Ma­gnus Wie­land, die Her­aus­ge­ber des im Früh­jahr er­schie­ne­nen Bu­ches »Dich­ter­dar­stel­ler – Fall­stu­di­en zur bio­gra­phi­schen Le­gen­de des Au­tors im 20. und 21. Jahr­hun­dert«, er­klä­ren die­se Ten­denz vor al­lem auf­grund der stei­gen­den Be­deu­tung der so­zia­len Me­di­en, in de­nen Personali­sierungs­effekte for­ciert wer­den. Par­al­lel ist al­ler­dings seit ge­rau­mer Zeit ein star­ker Hang zum bio­gra­phi­sti­schen Le­sen im deutsch­spra­chi­gen Feuil­le­ton zu er­ken­nen.

Leucht und Wie­land neh­men sich mit ih­rem ak­tu­ell her­aus­ge­ge­be­nen Band dem ewi­gen Wi­der­streit zwi­schen bio­gra­phi­sti­scher und pu­ri­sti­scher, aus­schließ­lich auf den je­wei­li­gen Text kon­zen­trier­ter Les­art, an und ma­chen mit der Wie­der­ent­deckung der »biogra­phischen Le­gen­de« ei­nen Ver­such, die bei­den li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen La­ger zu ver­söh­nen. Die »bio­gra­phi­sche Le­gen­de« ist ein Be­griff des rus­si­schen Literaturwissen­schaftlers Bo­ris To­maševskij aus dem Jahr 1923. Die bei­den Her­aus­ge­ber des Bu­ches stel­len die­se lan­ge ver­ges­se­ne The­se in ei­ner de­tail­rei­chen Ein­lei­tung vor. Die bio­gra­phi­sche Le­gen­de wird da­bei als Ab­gren­zung zum em­pi­ri­schen Au­tor als Kon­struk­ti­on hin zum Werk in­ter­pre­tiert und aber auch di­stan­zie­rend zur Au­toren­fi­gur des li­te­ra­ri­schen Tex­tes be­trach­tet. Sie ist so­mit ei­ne drit­te aukt­oria­le In­stanz; so­zu­sa­gen »zwi­schen« der rea­len Vi­ta des Au­tors und des­sen Werk.

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Chri­sti­an Kracht: Die To­ten

Christian Kracht: Die Toten

Chri­sti­an Kracht: Die To­ten

Wie schon in »Im­pe­ri­um« wer­den in »Die To­ten« hi­sto­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten von Chri­sti­an Kracht mit fik­ti­ven Hand­lun­gen und Cha­rak­te­ren zu­sam­men­ge­bracht; ein Gen­re, das mit »Do­ku-Fic­tion« oft nur un­zu­läng­lich be­zeich­net und kei­nes­falls ei­ne Er­fin­dung von Kracht ist, son­dern längst aus dem Fern­se­hen ab­ge­schaut von zahl­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Au­toren prak­ti­ziert wird. So tritt in die­sem Ro­man an zen­tra­len Stel­len Char­lie Chap­lin auf (den Kracht na­tür­lich »Charles Chap­lin« nennt) – und dies durch­aus nicht schmei­chel­haft. Auch an­de­re hi­sto­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten wie bei­spielsweise Al­fred Hu­gen­berg, Ernst Hanf­staengl, Heinz Rüh­mann, Sieg­fried Kra­cau­er und Lot­te Eis­ner wer­den wie selbst­ver­ständ­lich in die Ge­schich­te um die fik­ti­ven Haupt­per­so­nen, den Schwei­zer Film­re­gis­seur Emil Nä­ge­li, den ja­pa­ni­schen Mi­ni­ste­ri­al­be­am­ten Ma­sa­hi­ko Ama­ka­su und Ida von Üx­küll, Nä­ge­lis Ver­lob­ten, ein­ge­baut. Merk­wür­dig bei Ida ist die Ver­mi­schung zwi­schen fik­ti­ver und rea­ler Per­son. Es hat tat­säch­lich zwei Frau­en ge­ge­ben, die die­sen Na­men tru­gen, aber sie pas­sen nicht in die Bio­gra­fie der Ro­man­fi­gur, die um 1905 her­um ge­bo­ren ist (zum ei­nen Ida Grä­fin Üx­küll-Gyl­len­band, geb. Frei­in von Pfaf­fen­ho­fen-Chle­dow­s­ki [1887–1962], die Frau des 1944 hin­ge­rich­te­ten Wi­der­stands­kämp­fers Ni­ko­laus Graf Üx­küll-Gyl­len­band und zum an­de­ren ei­ne ge­wis­se Ida von Uex­kuell Gyl­len­band [1837–1920], die tat­säch­lich in Los An­ge­les ge­stor­ben sein soll). War­um Kracht wohl der­art ver­fährt?

* * *

Am En­de sei­nes Le­bens wird der Schwei­zer Re­gis­seur Emil Nä­ge­li sa­gen, dass es in ein­hun­dert Jah­ren Ki­no le­dig­lich fünf Ge­nies des Ki­nos ge­ge­ben ha­be – Bres­son, Vi­go, Dow­s­hen­ko, Ozu und er selbst. Es ge­he die­sen Re­gis­seu­ren, so der all­wis­sen­de Er­zäh­ler, »nicht nur um die Un­mög­lich­keit, die Far­be Schwarz dar­zu­stel­len, son­dern auch um das Auf­zei­gen der An­we­sen­heit Got­tes«.

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C 12

Nach Kaf­fee und Scho­ko­la­den­eis mit Sah­ne bei de Mar­co (wie im­mer) wei­ter durch Eicken, mei­nem Kind­heits­vier­tel, seit Jahr­zehn­ten ver­kehrs­be­ru­higt und längst öko­nomisch ster­bens­krank, so vie­le Lä­den, die ge­schlos­sen sind, ei­ni­ge seit Jah­ren, teils trot­zig mit ih­ren zu­ge­kleb­ten Schei­ben oder die­sem ur­alten, ver­ro­ste­ten Roll­git­ter vor dem ein­sti­gen Op­ti­ker­ge­schäft, des­sen Bril­len ich heu­te sehr sel­ten noch als Er­satz für den Er­satz ver­wen­de. An der Spar­kas­se links ab­ge­bo­gen auf die Schwo­gen­stra­sse, wo einst M. sein Haus hat­te, je­ner M., der im Früh­jahr starb und in der To­des­an­zei­ge hat­te ich zum er­sten Mal sei­nen Jahr­gang ge­le­sen (er war 26 Jah­re jün­ger als mein Va­ter) und den Spruch von der »lie­be­vol­len Für­sor­ge«, der da ver­wen­det wur­de, war der­art ge­heu­chelt, dass mir übel wur­de; ihm, die­sem Fremd­gän­ger und Cho­le­ri­ker wur­de im Tod ein Denk­mal der fa­mi­liä­ren Tu­gend er­rich­tet und da er­in­ner­te ich mich an sei­ne her­ri­sche Art, mit der er mei­nen Va­ter kom­man­dier­te und die Ver­ach­tung, die ich mei­nem Va­ter da­für zoll­te, dass er sich der­art kom­man­die­ren ließ und nur ganz kurz, als ich nach der Schu­le kei­ne Lehr­stel­le be­kom­men hat­te und ar­beits­los war, »ar­bei­te­te« ich für M., ana­ly­sier­te die wö­chent­lich er­schei­nen­den »Renn­ka­len­der«, ex­tra­hier­te be­stimm­te Da­ten von Pfer­den und Trai­nern aus die­sen Li­sten, die ich ihm dann auf­be­rei­te­te und als die­ses oder je­nes dann er­geb­nis­re­le­vant war, be­schimpf­te er mich, war­um ich ihm das nicht ge­sagt hat­te, da­bei hat­te ich es ge­sagt aber nur ein­mal und dann auf mei­ne Auf­zeichnungen ver­wie­sen und grob fuch­telnd wehr­te er ab, das »Ge­schreib­sel« ha­be er doch nicht ge­le­sen oder so­fort wie­der ver­ges­sen, ich müs­se es ihm sa­gen, mehr­mals, im­mer wie­der und in der näch­sten Wo­che sag­te ich ihm die Auf­fäl­lig­kei­ten und er rich­te­te sich mit sei­nen Wet­ten da­nach, aber nichts traf zu und er schimpf­te wie­der und dann ich hör­te auf, nahm die 50 Mark für die zwei Wo­chen und von nun an ver­such­te ich, ihn wie Luft zu be­han­deln. Wei­ter­le­sen

Fi­ston Mwanza Mu­ji­la: Tram 83

Fiston Mwanza Mujila: Tram 83

Fi­ston Mwanza Mu­ji­la: Tram 83

Ir­gend­wo in Afri­ka, in ei­nem Land, das sich Demo­kratische Re­pu­blik Kon­go nennt (und vor­her Zai­re nann­te), viel­leicht in ei­ner Stadt in der Pro­vinz Ka­tan­ga, die hier »Stadt­land« heisst, ei­ner Stadt oder ei­nem Ge­biet, das sich von »Hin­ter­land« ab­ge­spal­ten hat, denn in Stadt­land gibt es Stei­ne und die­se Stei­ne be­inhal­ten Er­ze und vor al­lem Kup­fer und das ver­spricht Reich­tum, aber die­ses Ver­spre­chen gilt nicht für je­den und am En­de kommt es nur noch dar­auf an, ob man auf der orga­nisierten oder des­or­ga­ni­sier­ten Sei­te der Bananen­republik lebt. Dort gibt es das »Tram 83«: Ka­schem­me, Bar, Im­biss, Jazz­club, Büh­ne, Tanz­pa­last, Bor­dell, Drogen­höhle, Geld­wasch­an­la­ge, 24 Stun­den ge­öff­net, ei­ne Mi­schung aus Berg­hain, Cot­ton Club, So­dom und Go­mor­rha, Hie­ro­ny­mus Boschs »Sie­ben Tod­sün­den« und dem »Welt­ge­richt«, Kir­che und Mo­schee, ein Ort, der fas­zi­niert und ab­stösst, Treff­punkt für Gru­ben­ar­bei­ter, Stu­den­ten, »Tou­ri­sten«, Dea­ler, Li­te­ra­ten und Ver­le­ger, Frau­en, die nach »Kü­ken«, »Sin­gle-Ma­mas« und »Ex-Sin­gle-Ma­mas« und, vor al­lem, nach Form und Grö­ße ih­rer Brü­ste un­ter­teilt wer­den, Geschäfts­männer, Zu­häl­ter, Gläu­bi­ge und Athe­isten, Kor­rup­te und Mo­ra­li­sten. Zu Be­ginn fällt ei­nem noch ei­ne Gold­grä­ber­ro­man­tik aus den USA ein, aber das wird ei­nem hier schnell aus­ge­trie­ben, denn hier herr­schen Sex und Geld und ein Frau­en­über­schuss, da Bürger­kriege noch nicht lan­ge zu­rück­lie­gen.

Zu Be­ginn kommt Lu­ci­en ins »Tram 83«, ein Schön­geist mit No­tiz­buch, der ein Büh­nen-Epos nach Pa­ris ab­lie­fern soll. Er trifft sei­nen Freund Re­qui­em, ge­nannt »Ne­gus«, ei­nem auf den er­sten Blick Klein­kri­mi­nel­lem, der im­mer un­sym­pa­thi­scher wird, sich als Kriegs­verbrecher (ein Pleo­nas­mus?), Ban­den­füh­rer, Plün­de­rer, Ver­ge­wal­ti­ger, Er­pres­ser und Schmugg­ler ent­puppt, der Fil­me mit Jean Ga­bin und Li­no Ven­tura mag. Ir­gend­wann gibt es noch den Schwei­zer Ver­le­ger Fer­di­nand, der Ge­fal­len an Lu­ci­ens Tex­ten fin­det, aber schließ­lich von Re­qui­em mit Bil­dern von ihm und der (min­der­jäh­ri­gen) Prosti­tuierten er­presst wird. »Was sagt die Uhr« ist der Stan­dard­satz, den man stel­len­wei­se auf fast je­der Sei­te des Buchs fin­det. »Was sagt die Uhr« fragt die Meu­te für die Mu­ße ein Ver­bre­chen ist. Al­les ist vul­gä­res Busi­ness (vor al­lem der Sex), selbst die Kell­ne­rin­nen drang­sa­lie­ren die Gä­ste zum Trink­geld und für die Pro­sti­tu­ier­ten gilt die (Schach-)Regel: »be­rührt-ge­führt«. Wei­ter­le­sen

Em­ma Bras­lavsky: Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen

Emma Braslavsky: Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen

Em­ma Bras­lavsky:
Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen

Der Deutsch-Ar­gen­ti­ni­er (oder Ar­gen­ti­ni­en-Deut­sche) Jivan Haff­ner Fernán­dez ist Bun­ker­ar­chi­tekt, An­fang 40 und lebt in Ber­lin. Er ist ver­hei­ra­tet mit der 39jähigen Jo Le­wan­dow­s­ki Fri­d­man. Jivan braucht Geld, die Ge­schäf­te ge­hen schlecht und er hat im­mense Spiel­schul­den, denn sein Hob­by ist On­line-Po­ker. Auch Jos Ak­ti­vi­tä­ten zeich­nen sich da­durch aus, dass sie Geld ko­sten und we­nig bis nichts ein­brin­gen. Sie ist ei­ne »Bes­se­re-Welt-Ak­ti­vi­stin«; ver­mut­lich zu­nächst auf Ba­sis des­sen, was man Eh­ren­amt nennt. Im Lau­fe des Ro­mans »Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen« durch­läuft Jo das Ca­sting al­ler wich­ti­gen, mul­ti­na­tio­na­len Weltrettungs­organisationen, die auf die­sem Pla­ne­ten nicht mehr so ganz ein­fluss­los sind.

Denn Em­ma Bras­lavskys Buch spielt in ei­ner Zu­kunft, die von al­len po­li­ti­schen und so­zia­len Un­ru­hen ge­rei­nigt scheint. Es muss um das Jahr 2050 sein, in Lu­b­lin ist ge­ra­de der zehn­mil­li­ard­ste Mensch ge­bo­ren wor­den. Die Ver­ein­ten Na­tio­nen ha­ben mehr oder we­ni­ger die Durchsetzungs­macht über­nom­men, ob­wohl die Na­tio­nal­staa­ten wei­ter exi­stie­ren. Auf dem Markt der Idea­li­sten kon­kur­rie­ren kei­ne Kir­chen mehr mit- oder ge­gen­ein­an­der, son­dern welt­weit vor al­lem zwei Or­ga­ni­sa­tio­nen: »Bet­ter­Pla­net« und »Life from Ze­ro«. Die­se lie­fern sich ei­nen er­bit­ter­ten Kampf um Mit­glie­der und vor al­lem Geld­ge­ber. Zu Be­ginn möch­te Jo Pres­se­spre­che­rin der mul­ti­na­tio­na­len Tier­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on »Ani­mal for Rights« wer­den (»der Mensch ist laut Sat­zung der Or­ga­ni­sa­ti­on ‘ein bö­ses Tier‘«) und trifft sich hier­zu mit den bei­den Grün­dern in ei­nem – selbst­re­dend – ve­ga­nen Re­stau­rant. Auch Jivan stößt da­zu; er hat­te sich et­was ver­spä­tet, weil er zum ei­nen noch ei­nen Dö­ner bei sei­nem Freund Ediz ge­ges­sen hat­te und zum an­dern sei­ne al­te Le­der­ta­sche noch ver­stecken muss­te, um kei­nen Arg­wohn bei den Tier­recht­lern zu er­re­gen.

Die Heu­che­lei­en ge­lin­gen Jivan präch­tig. Zwi­schen »Reis­milch-Sal­bei-Küm­mel-Brü­he« und »auf Pal­men­blät­tern ge­grill­tes Pilz­as­sort­ment« un­ter­brei­tet Jivan den tat­säch­lich ernst­haft dis­ku­tier­ten Vor­schlag, wo­nach Men­schen und Tie­re künst­li­che Ein­hör­ner tra­gen soll­ten (da­her das Co­ver). Es ist ge­konnt und ver­gnüg­lich, wie Bras­lavsky die­ses Sze­na­rio in ei­ner Mi­schung aus Lo­ri­ot und Joa­chim Zel­ter in­sze­niert und der Le­ser be­kommt ei­nen Vor­ge­schmack auf Jos Ehr­geiz und Vi­ta­li­tät, auch noch den größ­ten Un­sinn in ih­re Welt­ret­tungs­plä­ne min­de­stens ins Kal­kül zu zie­hen. Wei­ter­le­sen

Pos­sen­spie­le

»Ich bin psy­chisch sta­bil«, sagt die Schrift­stel­le­rin Mi­chel­le Stein­beck in ei­nem In­ter­view mit dem Schwei­zer »Ta­ges­an­zei­ger«. Ein merk­wür­di­ges State­ment, aber es ist fast schon er­zwun­gen, da die Hil­de Ben­ja­min der deut­schen Li­te­ra­tur­kri­tik, El­ke Hei­den­reich, wie­der ein­mal ei­nen ih­rer Aus­set­zer hat­te und im letz­ten »Li­te­ra­tur­club« der Au­torin ei­ne »ernst­haf­te Stö­rung« at­te­stier­te – und dies ein­zig al­lei­ne, weil ihr, Hei­den­reich, das Buch von Stein­beck (»Mein Va­ter war ein Mann an Land und im Was­ser ein Wal­fisch«) nicht ge­fällt.

Hei­den­reich ent­wicke­le sich zu ei­ner Hy­po­thek für den »Li­te­ra­tur­club« stell­te dann auch Gui­do Kal­be­rer im »Ta­ges­an­zei­ger« fest. Die Li­ste der Hei­den­reich-Es­ka­pa­den sind längst Le­gi­on. Aus Grün­den, die nicht nach­voll­zieh­bar sind, steht und stand die Re­dak­ti­on zu ihr. Als sie mit Ste­fan Zwei­fel an­ein­an­der­ge­riet, weil sie ein fal­sches Zi­tat ver­wen­de­te, muss­te nicht sie ge­hen, son­dern Zwei­fel. Die Gran­dez­za, mit der sie neu­lich die­sen Vor­gang ver­dreh­te, muss man erst ein­mal nach­ma­chen.

All­ge­mein wur­de das State­ment von Stein­beck als be­son­nen und rich­tig be­zeich­net. Die Un­ge­heu­er­lich­keit die­ses Vor­gangs an sich ist da­bei ir­gend­wie un­ter die Rä­der ge­kommen: Müs­sen dem­nächst Schrift­stel­le­rIn­nen auf Mut­ma­ssun­gen von so­ge­nann­ten Kri­ti­kern mit ärzt­li­chen At­te­sten re­agie­ren? Wei­ter ge­spon­nen: Muss ein Kri­mi­nal­ro­man-Au­tor dem­nächst pro­phy­lak­tisch ein po­li­zei­li­ches Füh­rungs­zeug­nis vor­le­gen, das er/sie nicht sel­ber ge­mor­det hat? Wei­ter­le­sen