»Ich bin psychisch stabil«, sagt die Schriftstellerin Michelle Steinbeck in einem Interview mit dem Schweizer »Tagesanzeiger«. Ein merkwürdiges Statement, aber es ist fast schon erzwungen, da die Hilde Benjamin der deutschen Literaturkritik, Elke Heidenreich, wieder einmal einen ihrer Aussetzer hatte und im letzten »Literaturclub« der Autorin eine »ernsthafte Störung« attestierte – und dies einzig alleine, weil ihr, Heidenreich, das Buch von Steinbeck (»Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch«) nicht gefällt.
Heidenreich entwickele sich zu einer Hypothek für den »Literaturclub« stellte dann auch Guido Kalberer im »Tagesanzeiger« fest. Die Liste der Heidenreich-Eskapaden sind längst Legion. Aus Gründen, die nicht nachvollziehbar sind, steht und stand die Redaktion zu ihr. Als sie mit Stefan Zweifel aneinandergeriet, weil sie ein falsches Zitat verwendete, musste nicht sie gehen, sondern Zweifel. Die Grandezza, mit der sie neulich diesen Vorgang verdrehte, muss man erst einmal nachmachen.
Allgemein wurde das Statement von Steinbeck als besonnen und richtig bezeichnet. Die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs an sich ist dabei irgendwie unter die Räder gekommen: Müssen demnächst SchriftstellerInnen auf Mutmassungen von sogenannten Kritikern mit ärztlichen Attesten reagieren? Weiter gesponnen: Muss ein Kriminalroman-Autor demnächst prophylaktisch ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, das er/sie nicht selber gemordet hat?
Natürlich stellte man schnell fest, dass Heidenreich Werk und Autorin nicht hinreichend getrennt hatte. Geschenkt. Diese Trennung findet im personalisierten Feuilleton kaum noch statt. Die Lebensläufe der Autoren werden in der Regel so lange abgeklopft, bis sich autobiographische Parallelen aus dem Buch herauslesen lassen. Dann wird oft genug pars pro toto geschlossen. Dieses Verfahren entlastet von »umständlichen« literarischen Analysen.
Daran ist nicht nur die Literaturkritik Schuld. Das Marketing der Verlage setzt vor allem auf die Person des Autors, der Autorin. Bei Neuerscheinungen liefern sich Medien oft genug einen Wettbewerb um Interviews, die dann häufig genug in Banalitäten abrutschen. Jürgen Kaube hat neulich in der FAZ darauf hingewiesen, wie das funktioniert. Er hatte allerdings vergessen zu erwähnen, dass die FAZ (und auch FAS) ähnlich gearbeitet hatten und arbeiten. Mitte der 1980er Jahre prognostizierte Hans-Magnus Enzensberger hellsichtig den Sturz des Literaturkritikers hin zum Zirkulationsagenten.
Die Öffentlichkeit wird konditioniert auf einen Gleichklang zwischen Werk und Autor. Der Fetisch heißt Authentizität. Dass Kritiker hier mitmachen, ist längst Alltag. Im günstigsten Fall steht oder fällt irgendwo noch einmal ein relativierender Satz. Aber dem Sog des Biographismus kann man sich, erst einmal ausgesprochen, kaum mehr entziehen.
Und was, wenn ein Autor seine psychische Störung zum Gegenstand seines Romans macht? Das aktuelle Beispiel ist Thomas Melle, der seine bipolare Störung offensiv autobiographisch in einem Roman verarbeitet hat. Hier hätte Heidenreich eine psychische Störung attestieren können, ohne auf den (eher verhaltenen) Widerspruch der Mitdiskutanten rechnen zu müssen. Spätestens bei einem solchen Buch hätte sich gezeigt, worauf es in der Literaturkritik wirklich ankommt: Melles Person nebst der bipolaren Störung kann und darf bei der Beurteilung des literarischen Textes, den er vorgelegt hat, keine wertende Rolle spielen. Dass diese Trennung in der Praxis schwierig ist, muss sofort eingestanden werden. Aber Literaturkritik ist eben mehr, als in einer launigen Runde zu sitzen und Geschmacksurteile abzugeben. Das kann nämlich inzwischen fast jeder.
Und damit kommt man wieder zum Kernpunkt: Der Ausschnitt, der Heidenreichs Fauxpax zeigt, dokumentiert nämlich die Belustigung des Publikums bei der Anhäufung der negativen Eigenschaften, sie dem Buch zuspricht. Die Wortwahl erinnert an Marcel Reich-Ranicki, der in ähnlicher Vehemenz agitierte; aktuell neigt Maxim Biller im »Literarischen Quartett« ebenfalls dazu, wobei Biller immerhin noch nachträglich versucht, für seine fallbeilhaften Urteile Argumente zu finden. Wer den »Literaturclub« mit Elke Heidenreich sieht, stellt regelmässig solche Publikumsanbiederungen fest. Wenn dann noch Philipp Tingler zusammen mit ihr auftritt, wird dem Affen (vulgo: Publikum) richtig Zucker gegeben. Das Publikum will eine Show. Dabei geht es nicht mehr um die Bücher. Sie sind nur Kulisse. Es geht um die Dynamik der Kommunikation zwischen den Diskutanten. Vermutlich war Frau Heidenreich neulich nur langweilig; es gab wenig bis gar keine Auseinandersetzung. Tingler fehlte. Also musste in die Runde ein bisschen in Schwung gebracht werden.
Meine vor einigen Jahren schon geäußerte Befürchtung, dass aus dem »Literaturclub« ein »Bücherclub« wird, in dem die Literaturkritik kaum mehr Platz hat, sondern nur das Geschmacksurteil dominiert, ist längst eingetreten. Die Diskussionen beschränken sich zumeist auf inhaltliche Angaben, Bemerkungen zum Autor oder kreisen um den Plot. Zu einem Roman von Jonathan Franzen wollte Nicola Steiner die Beziehungen der Personen des Romans mit Playmobilfiguren darstellen.
Die Literarizität eines Buches spielt kaum noch eine Rolle – ästhetische Debatten werden entweder abwürgt oder mit Floskeln abgefertigt. Wer auf Literaturkritik pocht, wird schnell in die elitäre Ecke gestellt. Das Wörtchen »Literatur« im »Literaturclub« dient nur noch als Schmuck. Die Literaturwissenschaftler im Team sind den Infamien und Taktlosigkeiten der Krawallanten leider nicht gewachsen. Nicola Steiner, die Moderatorin, ist weder in der Lage noch willig, vermittelnd einzuschreiten. Vermutlich ist dies aber auch Teil des Konzepts der Sendung.
Das Publikum möchte nämlich – so die These – nicht über Gebühr mit literarischen Fragestellungen belästigt werden. Das feixende Lachen, wenn die negativen Attribute nur so purzeln, legt diesen Schluss nahe. Schon dass man sich der Sendung widmet (durch Besuch oder am Fernseher) gilt als bildungsbürgerliche Leistung. Ansonsten wünscht man Kaufempfehlungen und ein bisschen Unterhaltung. Steiner fragt denn auch häufig am Ende der sogenannten Diskussion: »Lesen?« Im ZDF-»Quartett« bilanziert Weidermann nach Fußball-Art die Pro und Contras. Bei Denis Schecks Bestseller-Prüfungen stellt sich die Frage: Tonne oder Stapel? Die Sendungen könnte man derart auf sechzig Sekunden reduzieren. Daumen hoch oder Daumen runter – inzwischen hat selbst Facebook mehr Ausdruckmöglichkeiten.
Die Literaturkritik werde durch solche Sendungen »korrumpiert« und »der Verluderung preisgegeben«, so Roman Bucheli in einer sehr emphatischen Replik. Bei aller Sympathie für seinen Text muss man ihm widersprechen: Das, was er kritisiert, ist eben keine Literaturkritik, sondern maximal mittelklassiges Possenspiele, indem einige SchmierenkomödiantInnen so etwas wie Literaturkritik simulieren (die ehrlichen Seelen erkennt man daran, dass sie irgendwann resigniert-schweigend und unverstanden in ihrem Stuhl zurückbleiben).
Schöner Kommentar! Endlich lese ich einmal einen stabilen Verriß der Literaturkritik. Ich bin zur Zeit nicht in der Situation soviel zu lesen, wie es mir einmal möglich war. Es gab Zeiten, da kam ich auf drei Bücher in der Woche. Für mich sind Bücher oder Literatur (Über-)Lebensmittel und damals war ich sehr hungrig. Manchmal fand ich in den Medien Literaturkritiken zu Büchern, die ich gerade in Arbeit hatte. Ich bin kein Literaturwissenschaftler und mit den allermeisten Kritiken konnte ich fast nichts anfangen, weil meine Wahrnehmung der gelesenen Bücher fast immer komplett anders war. Auch ich unterlag (und unterliege noch immer) den Drang, die Werke mit der Biographie des/der Schreibenden abzugleichen. Oft hat es mir dabei geholfen einen besseren Zugang zu finden, aber oft auch nicht. Irgendwann war ich aber auch in der Lage, das Werk als Werk anzunehmen ohne immer dem Zwang zu unterliegen, mich erst über den Autor ausführlich zu informieren. Ich gebe allerdings zu, bis heute gelingt mir dies aber nicht immer mit Autoren, von denen mir bekannt ist, dass sie eine vollkommen andere politische Sicht auf bestimmte Dinge haben, als ich. Da sträubt sich etwas in mir, für deren Bücher Geld auszugeben. Aber auch diesen persönlichen Makel kann ich mittlerweile akzeptieren, weil: Ich bin ja kein Literaturkritiker und ich muß nicht den sinnlosen Versuch unternehmen, ein Buch »objektiv« zu beurteilen. Ich halte dies für schlicht nicht möglich und von daher jeden Versuch für sinnlos! Im besten Fall handelt es sich um eine fundierte Darstellung des Werkes, die aber auch nie komplett wertfrei sein kann.
Ich lese daher subjektiv bewertend mit dem Ziel eines persönlichen Gewinns von Erkenntnis, einer intelligenten Unterhaltung und einer Nachhaltigkeit durch Anregungen oder Ideen des Autors, mit denen ich mich später auseinandersetzen kann. Ich finde/fand »meine« Bücher bis heute fast immer nur durch stundenlanges stöbern in Buchhandlungen, ganz selten durch etwas anderem.
Ich glaube von daher wird deutlich, was ich generell von Literaturkritik halte. Die meisten sogenannten Literaturkritiker frönen ihren narzistischen Neigungen und und nutzen ihre Chance, ein Buch zu besprechen eher zum Abstecken ihrer persönlichen Spielwiese und um die Meinungshoheit (gerne verknüpft mit lukrativen Nebenverdienst!) zu gewinnen, die dann meist auch noch sehr aggressiv und in der Regel eher unsachlich verteidigt wird.
Frau Heidenreich mit Hilde Benjamin zu vergleichen ist vielleicht etwas hart, aber ich verstehe Ihre Intention. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie damit Recht haben, wenn sie sinngemäß schreiben, dass die jämmerliche Struktur oder Konzeption von »TV-Literaturkritik« vom Publikum so gewünscht wird. Was ist denn die Alternative?
Maxim Biller mit seiner unerträglichen Arroganz bereitet mir Übelkeit und eine fast immer hilflos wirkende und wenig literarisch argumentierende Frau Westermann irritiert mich sehr und ich frage mich fast jedes Mal, warum ich mir so einen Mist anschaue. Wahrscheinlich ist es bei mir der immer noch vorhandene Wunsch, anregende oder sachliche Informationen zu bekommen, mit denen ich mich auch noch einpaar Tage nach so einer Sendung auseinander setzen kann.
Wir leben in einem medialen Zeitalter des Castingshows-Denken, d.h. alles oder jeder wird unter einer vermeintlichen und »geheuchelten« Teilnahme des Publikums bewertet (»Like« oder »Dislike«) bewertet, tritt in einem konstruierten »Wettbewerb« gegeneinander an und wer oder was am Ende gewinnt, wird als »richtig« oder neuer »Trend« verkauft. Es gibt ja kaum noch etwas anderes als solches Formate und dies führt zwangsweise zu einer manipulierten Verblödung des Publikums.
Als im ehemaligen »Ostblock« die Medien noch streng reguliert wurden, konnte man sicher sein, dass sehr viele Menschen z.B. klassische Musik liebten und hörten und auch einiges fundiertes dazu sagen konnten. Das ist Manipulation anders herum, überwiegend Geschichte und vorbei. Was ich damit sagen will, ist, dass ich sicher bin, wenn die Medien dem Publikum mehr (Alternativen) zutrauen würden, käme dies auch bei vielen Menschen an, die jetzt noch keine andere Wahl haben, weil sie fast nichts anderes kennen.
Darum lese ich z.B. »Begleitschreiben«, weil ich hier von Zeit zu Zeit ansprechende Anregungen finde, die es sonst nicht gibt.
Noch einmal, schöner Text von Ihnen! Vielen Dank dafür!
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Einer Sache muss ich widersprechen: Die Zeiten der guten Dotierungen ist (bis auf wenige Ausnahmen) vorbei. Die meisten Kritiker sind sogenannte »feste Freie« und werden fast zu Moderationen oder ähnlichen Veranstaltungen gezwungen. Bei Raddatz kann man nachlesen, dass das mal anders war.
Ich habe eigentlich keinen Verriss über die Literaturkritik schreiben, sondern die Simulation von Literaturkritik herausstellen wollen. Die meisten Kritiker üben nämlich ihr Handwerk nur noch sehr selten aus; inzwischen dürften sie vielleicht auch verlernt haben. Aber es gibt durchaus noch mich befruchtende Literaturkritik.
Ja, ich habe Ihre Intention schon verstanden. Aber aus eigener Erfahrung im Umgang mit selbstverfassten Texten ist mir bekannt, dass ausser der beabsichtigten Aussage sich auch manchmal – also eher unbeabsichtigt – noch andere, der ursprünglichen Idee ergänzende »Neben»aspekte mit »einschleichen«.
Auch für mich gibt es manchmal noch befruchtende Literaturkritik. Diese sind meistens die, in denen der Kritiker seine Wahrnehmung/Interpretation usw. versucht an Hand des Textes zu belegen. So kann ich dann für mich selbst entscheiden, ob ich mich der Kritik/Besprechung anschließen kann oder eine andere Ansicht dazu habe.
Dies ist aber nun mal z.B. in TV-Sendungen, in denen z.B. in 30 Minuten 4–6 Bücher besprochen werden oder in 20 – 40 Zeilen in irgeneinem Printmedium so gut wie kaum möglich.
Für mich sind solche Formate platt und überflüssig, denn meistens taugen sie noch nicht einmal zum neugierig machen.
Dies ist nun einmal der Zustand der Welt; man kann es dabei belassen und sich zurückziehen, man kann darüber zum Reaktionär oder Revolutionär werden, bedauerlich ist nur, wenn das Halbgare für gar gehalten wird, die Äpfel für Birnen und das Wasser für Wein. — Dann nämlich könnte nach einiger Zeit die Angelegenheit selbst und das Gespräch darüber zu zerfallen beginnen, was allerdings wieder nur diejenigen kümmert, die es vorher auch schon gekümmert hat. — Mit Steinbecks Feststellung »Wenn Heidenreich mein Buch gut gefunden hätte, hätte ich wirklich ein Problem gehabt!« ist der Dame Ehre genug getan, der logische Schluss lautet, dass man auf solche Vermittler in Zukunft verzichten sollte, Ignoranz ist was sie fürchten und erst eine parallele Welt der Kritik, die auf die tradierten Strukturen verzichten kann, wird sie zu einem Kurswechsel zwingen, auf den dann allerdings keiner mehr Wert legen wird.
@chargesheimer
...meistens taugen sie noch nicht einmal zum neugierig machen.
So ist es. Und das ist – in Anbetracht des Aufwands, der da getrieben wird – traurig.
@metepsilonema
Die Frage ist, ob man vom Reaktionär zum Revolutionär wird oder ob es nicht gerade umgekehrt wird.
Natürlich kann man auf solche Vermittler in Zukunft verzichten (ich versuche das schon und bin drei Literaturclubs »im Rückstand«). Aber die Wirkung dieser Possenspiele, die sich dann auch in der Literatur selber zeigen, kann man manchmal nicht ignorieren. Steinbecks Aussage zu Heidenreich, die Du zitierst, ist ja nicht mehr als Trotz. Hätte E. H. das Buch nämlich gelobt, wäre es der Verlag gewesen, der einen oder zwei Sätze davon zu Werbezwecken verwendet hätte.
(Die Emanzipation des Autors, der Autorin, von der Possenspiel-Kritik darf nicht erst dann beginnen, wenn das Urteil gesprochen ist. Es müsste vorher geschehen. Das ist schwerer getan als gesagt, weil ja doch alle auf den Multiplikationseffekt hoffen – der jetzt mit dieser extremen Volte auch eingetreten ist.)
Ja natürlich, Trotz: Steinbeck ist, wenn ich die zwei Fotos, die an dem verlinkten Artikel kleben und ihr Alter als Hinweise nehme, eingebunden. Sich gar nicht erst gemein machen und diesen Verzicht auch durchhalten, das wäre schwierig wollte man von Anfang an als Schriftsteller sein Auskommen finden, aber muss man das? Vielleicht liegt in dieser Beschränkung mehr Freiheit und Selbstbestimmung als zunächst zu vermuten wäre? Ansonsten fände der Leser halt etwas schwieriger zu seinen Büchern. — Na, und?
Die Sendung ist, wenn ich die paar Minuten, die ich mir angesehen habe, als leicht widerlegbaren Maßstab nehme, ganz klug konzipiert: Ein Elefant im Porzellanladen und zwei andere, die bedachter agieren, mitunter sogar aus dem Buch zitieren. Ich habe durchaus Bemühen herausgehört, aber die ca. zehn Minuten sind für ein Buch etwas kurz. (Und es ist, wie so oft schwieriger und aufwändiger als man denkt etwas Substanzielles zu einem Buch zu sagen oder schreiben.)
Mittlerweile muss man den Reaktionär wohl als Revolutionär begreifen oder letzteren mit ersterem zusammen denken.
Reich-Ranicki beendete früher scheinbar langatmige Exkurse zu den Büchern mit der Kinderfrage: »Taugt das Buch nun etwas oder nicht?« Es gibt Leute, die glauben, dass diese Verkürzung immanent für das Fernsehen ist. Tatsächlich ist es irgendwann schwierig und womöglich auch langweilig für den Zuseher (oder Zuhörer) den Diskutanten zu folgen, wenn sie sich über ein Buch austauschen, von dem sie zu 99% keine Ahnung haben (weil es gerade erst erschienen ist). Die Feinheiten des Plots, die der ein oder die andere da herausfinden, bleiben nicht nachvollziehbar. Eigentlich müsste man die Liste der Bücher, die man bespricht, drei, vier Wochen vorher publizieren (was ja mindestens teilweise geschieht). Andererseits erlebe ich es, dass mir, wenn ich das Buch kenne, die Disputationen nachträglich oft sehr eindimensional vorkommen.
@ Gregor Keuschnig, Chargesheimer – aber auch Metepsilonema
Elke Heidenreich als deutsche Wildsau in der klinisch reinen Schweizer Mitten?
Reinhard Baumgart, Guido Kalberer, Hermann Kinder, Alfred Leopold, Sigmund Freud und Gregor Keuschnig; Tom Wolfe, Dorothee Elmiger, das Appenzell und das Toggenburg; die Schweiz und die USA sowie, Achtung, kein Witz: – Habermas, Rilke, und schon wieder – - Elke Heidenreich
Oha Chargesheimer – der Kölner Chargesheimer – - oder wie?
Unter Krahnenbäumen, doller Bildband!
Heidenreich (auch Köln – Zufälle gibt’s!) hat gesagt, wenn das kritisierte Prosabändchen von Michelle Steinbeck k e i n e (!) Fiktion wäre, müßte man fragen, ob die Autorin noch richtig tickt, so verstehe ich die Sache bisher. Dann hat sie nochwas gesagt: Das kurze Buch von Michelle Steinbeck sei überkonstruiert und sein emotionaler Gehalt sei durch schiefe Bilder, forcierte Konstruktion und klischeehaften Einsatz allzu bekannter Versatzstücke des Horror-Genres ein Pseudogehalt, mit dem die Autorin nicht ergreife, sondern nerve.
Alain Claude Sulzer und Nicola Steiner ging es mit diesem Buch ziemlich gleich. Sulzer sprach eine kleine Wahrheit sehr gelassen aus: Man muss – außer als Literaturkritiker, keine Bücher lesen, die einem bereits wegen ihrer formalen (= handwerklichen) Mängel auf die Nerven gehen.
Das ist schon mal ein Befund: Drei gegen Thomas Strässle, der außer, dass er für eine junge und unbekannte Autorin wirbt, ebenfalls wenig Überzeugendes über das Buch zu sagen wusste. Vielleicht, weil es nicht viel Überzeugendes dazu zu sagen gibt? Kann sein.
Aus der ganzen Sache wg. heidenreichischem Überschwang eine Angelegenheit von – halten zu Gnaden, beispielhaft schlechter Nazi- und, weil’s grad so herrlich gruselig ist: Die grad noch mit: – Stalin- und Pol Pot-usw. ‑Vergangenheitsbewältigung zu machen, mit Elke Heidenreich als deutsche Wildsau im anheimelnden schweizerischen Salon, wie es nun Guido Kalberer im Tagi versucht, hat keinen Sinn.
Heidenreich vorzuwerfen, sie möge nun mal n u r Bücher, die sozusagen mit dem »Brigitte«-Geist kompatibel seien, hat auch keinen Sinn. Zu lang schon macht sie, was sie macht, und zu viele höchst verstörende Bücher hat sie bereits auf ihre na, klar: laute und schrille und nachdrückliche Art gelobt. Zum Teil überaus grausame und höchst verstörende Romane mit größtem Nachdruck gelobt – und, ja, auch das: Mit verkauft (s. u. v. Lovenberg). – - -
– - – Was aus ihrer flapsigen und hie und da ein wenig übergriffigen (das schon) Steinbeck-Kritik herauszuhören ist, ist: Man soll sozusagen mit dem Schrecklichen kein Schindluder treiben. – Diese Reserve ist aber gerade durch eine existentielle Ernsthaftigkeit gekennzeichnet, für die Heidenreich in aberdutzenden anderer Fälle auch öffentlich eingestanden ist.
Genau diesen Punkt, der sozusagen frivolen, kalkulierten, aber ä s t h e t i s c h fehlgeschlagenen Nutzung entsprechender gesellschaftlicher Aufmerksamkeitsbereitschaft (manchmal auch: Sensationsgier), hat auch Nicola Steiner gemacht – und gesagt, dass sie das Buch deshalb für misslungen hält: Und das ist nachvollziehbar, und alles andere als skandalös. Sie hat insofern Heidenreichs ästhetische Vorbehalte 1:1 nachgesprochen und obendrein präzisiert, wie in der nämlichen Sendung Alain-Claude Sulzer Heidenreich vorgesprochen hatte. Nebenbei: Nicola Steiner ist auch deswegen eine hervorragende Besetzung auf diesem Leitungsstuhl, weil sie so uneitel ist, wie auch dieses Beispiel zeigt.
Nun ein wenig grundsätzlicher
Die Idee, dass es nur 1) Bücher ohne AutorInnen und damit 2) ohne interferierende Biographien gäbe, oder geben sollte, ist besonders in der zweiten Ausprägung dieser Idee ein wenig ab von der sozialen Wirklichkeit.
Diese Idee – egal ob 1) oder 2) – also folgendermassen: Man müsse Bücher prinzipiell ohne ihre VerfasserInnen sehen, ist eine gegen den Augenschein aufgebotene Hypothese. Man kann solche Hypothesen aufstellen – aber wozu?
Bleibt noch das Dreigestirn Reich-Ranicki, Elke Heidenreich, Felicitas von Lovenberg.
Ich bin nun begeisterter Franzen-Leser – nicht zuletzt wegen der Ernst-Mayr-Schiene, auf der die Vögel und die Menschen irgendwie in Beziehung zueinander gesetzt werden.
Ich habe gut verstanden, dass man so ein Werk wie das Franzens nicht aus dem Stand
auseinandernehmen und sozusagen endgültig wieder zusammensetzen kann. Deshalb war ich erstmal mit allen einverstanden, die den Büchern Franzens Aufmerksamkeit verschafft haben; nicht zuletz die Pferdenärrin von Lovenberg. Es gibt auch bei Franzen in der Gestalt der Jessica in Freedom eine enorme Pferdenärrin, und sie wird bei ihrem Ausflug von NYC nach Patagonien zu ihren Lieblingsrössern geschildert. Phantastisch und ein wenig grausam mit anzusehen, wie ihr Begleiter Joey angesichts der Pferde an Präsenz verliert. Von Lovenberg hat nicht viel daraus gemacht. Mergwürdsch. Aber vielleicht ging es ihr einfach wie Jessica: Und auch sie war, beim Lesen, im perfekten Pferderausch.
Bei Tom Wolfe ist es der Super-Bauunternehmer Charlie Croker in Ein ganzer Kerl, der von der Großstadt aus aufs Land zu den Zuchtpferden fliegt, die er sich da hält.
Ich finde das sind interessante Dinge, und überhaupt keine oberflächlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Büchern, und ich kann annehmen, ich bin mit dieser Ansicht nicht allein.
Dann ist es aber nochmal eine andere Sache, derlei sozusagen öffentlich verhandelt zu sehen. Das geht, wo es substantiell sein soll, langsam und folgt chaotischen Mustern (cf. Enzensbergers Aufsatz Vom Blätterteig der Zeit in Zickzack). Demnach wäre es kein Wunder, wenn die o. a. Parallele zwischen Unschuld und Ein ganzer Kerl einerseits niemand berührte, – und andererseits vielleicht fruchtbares Neuland erschlösse.
Elke Heidenreich hat zu diesem Prozess, soweit er mich interessiert, immer wieder beigetragen, wenn auch im Falle des wiederum eminenten Franzen-Romans Unschuld nicht mehr: Sie sagte, das Buch gehe über ihre Hutschnur. Ok. In meinen Augen: Vollkommen ok.
Safranski in der gleichen Sache redete ebenfalls im TV in der routinierten Art alter Hasen gekonnt an dem Buch vorbei. Das war schon weniger ok, weil er faktisch falsche Dinge über das Buch sagte. Und zu allem Überfluss: nach dem Motto, wenn schon Mist, dann aber richtig: Sich in hämischer und triumphalistischer Manier über das Buch äusserte.
Am unglaublichsten und verfehltesten sprach die CH-Litwisslerin Christine Lötscher vom dekonstruktivistischen Ufer. Ihr Beitrag war, würde man einfach formale Kriterien der Literaturkritik zu Rate ziehen, am differenziertesten und mithin im Sinne Kaubes und Keuschnigs am höchststehenden. Perfider Weise sprach aber Lötscher zugleich am allerweitesten am Text vorbei. Klar ausgedrückt hat sie: Ich will das Buch nicht mögen, es ist ein schreckliches Buch, am liebsten wäre mir, ich hätte es nicht gelesen (kann sein, ich spitze jetzt ein wenig zu).
Das hinwiederum, so funktioniert Fernsehen, war für viele Zuschauer doch wieder eine Nachricht, weil sie sich entweder sagten: So wie die tickt, ticke ich auch, also lasse ich die Finger davon, oder: Das ist eine überaus verkopfte Frau, wenn die das Buch nicht leiden kann, dann vielleicht, weil es gerade nicht so überaus verkopft ist – und bingo: Gehen sie in den Laden und fangen an zu lesen und – to be ctd. ....
Das sind schon komplexe Konstellationen, die die theoretische Auffassungsgabe derer, die sich überhaupt für derlei interessieren, ganz schön in Anspruch nehmen, hie und da sogar überfordern. Obwohl in Sachen Roman zunächst einmal jede lesekundige Person mitreden kann. Schon. Aber nur bis zum Punkt X – und auf einmal verlieren viele den Faden.
Indessen weilen wir im Kernbereich der Erörterung von Literatur. Das Merkmal solcher Debatten ist, dass sie, um eine einschlägige Idee zu bemühen – : – - Dass der Interpretation literarischer Werke geltende Debatten strukturell und ihrem eigenen Wesen nach vage sind. Sie benötigen, anders als die Erörterung nomologischer Fragen, viel Zeit (eine hermeneutische Erfahrungstatsache) und: kultivierte, artikulierte, spielerische Subjektivität.
Das aber markiert einen Unterschied ums Ganze.
Wenn wir hier von Literaturkritik reden. Es gibt eine Münchner Schule derselben, zu deren virtuosen Vertretern ich Reinhard Baumgart und Peter Hamm rechne. Außerdem gibt es in der SZ Christopher Schmidt. Vielleicht hängt der auch da mit drin. Er ist jedenfalls oft auffallend gut. Seibt ist mal so mal so. Steinfeld eher so.
Nun: Baumgart hat diese Sache mit dem erkenntnistheoretischen Status der Literaturkritik als Teil des humanistischen Selbstverständigungsdiskurses – und das heißt ausdrücklich: Nicht als Teil des empirisch-analytischen Diskurses (so wurde das damals – auch von Baumgart – - mit Bezug auf das in diesem Fall einwandfrei einschlägige Buch Erkenntnis und Interesse – - aufgefasst) – oh: Wo bin ich jetzt: Baumgart hat dies haarscharf gesehen. Ungefähr so scharf wie Chargesheimer sein Köln (also: Chargesheimer jetze, nicht »Chargesheimer«). Und er (also Baumgart), hat entsprechend differenziert geurteilt.
Heidenreich hat derlei nicht zur Hand, eh kloa, aber sie macht im Hinblick auf Habermas’ Kriterium erstaunlich wenig Fehler.
Sie hat, wenn ich die Aufregung um den neuesten Fall richtig verstehe, erneut k e i n e n Fehler in dieser Hinsicht gemacht, zuallermindest keinen groben Fehler oder gar : Einen sozusagen präfaschistischen oder protostalinistischen Fehler osä. Um die Sache richtig chaotisch zu machen, machen aber etliche derer, die sie kritisieren, selbst erhebliche Fehler – unter anderem auf der Ebene der theoretischen Distinktion, die mir unverzichtbar erscheint: Indem sie verkennen, dass der theoretische Rekurs auf die Biographie, die Motivation, das Kalkül eines Autors / einer Autorin per se kein Kunstfehler ist, weil es das Privileg der Fiktion ist, u. a. mit Biografien, Dispositionen, Absichten (=Kalkülen) usw. – und insbesondere mit dem Bereich z w i s c h e n tatsächlicher Biografie und fiktionalem Text – zu spielen. Dichtung und Wahrheit allüberall.
Das ist spannend, das kann hoch ekelhaft und hoch gelungen sein, das kann an der Oberfläche total bieder und doch gelungen sein usw. usf. – das und derlei sind die Hauptmerkmale der (nicht mehr...) schönen Künste und über all das soll die Kritik befinden.
Hermann Kinder hat unter dem Bann des legendären Poetik und Hermeneutik-Bandes über Die nicht mehr schönen Künste dieses literarische Wirkfeld ausgesponnen (u. a. Der Mensch, ich Arsch) und: In einem Walser-Huldigungstext die zentrale Problematik buchstäblich vor der Haustür eines Schriftstellers fortgesponnen. Dort erscheinen reale Konstanzer (= Poetik und Hermeneutik-gestählte) Literaturwissenschaftler, die den lieben langen Tag von der Eigenständigkeit des literarischen Werkes reden, um dann, im realen Nußdorfer Angesicht eines zeitgenössischen Meisters dieses Spiels und dessen Ehefrau, eben doch wieder Fiktion und biographische Tatsachen durcheinanderzuwürfeln. Aller jahrein- jahraus fleissig geübten diesbezüglichen stählenden professionellen Askese zum Bossen.
Dass biographisches und Fiktion auf manchmal unentwirrbare Weise ineinanderspielen ist im übrigen nichts besonderes. Daher trifft es auch Kritiker. Das ist das persönliche Risiko an ihrem Beruf, dass sie plötzlich als Einäugige unter Sehenden öffentlich sichtbar werden. Dies könnte im Falle Heidenreich / Steinbeck durchaus mitspielen. Denn Heidenreich war, genau wie das Kind im Koffer bei Steinbeck, ein bei ihrer leiblichen Mutter nicht willkommenes Kind. Sie wuchs bei einer Pflegefamilie auf.
Damit könnte die Wut zu tun haben, mit der sie auf das Buch reagierte. – Und somit ist nicht ausgeschlossen, dass ein biographischer Knoten (D. Laing) einer Kritikerin einem von ihr mit guten formalen Gründen abgelehnten Buch – durch den hohen Gefühlsaufwand, mittels dessen sie die Ablehnung vortrug, erhebliche mediale Aufmerksamkeit verschaffte, obwohl die Kritikerin das überhaupt nicht wollte. Die Welt stickt voller Merkwürdigkeiten mit Goethe zu reden – und nein, stickt ist kein Vatippa.
Von Lovenberg hat nun zweierlei gemacht. Sie hat – in ihrer neuen Rolle als Verlegerin – gesagt: Reich-Ranicki und Heidenreich haben in einer Liga gespielt, was den Einfluss auf die Buchverkäufe in Deutschland angeht. Wenn nicht anders, dann macht sie sich endgültig von der FAZ-Fron los mit dieser Aussage, weil sie Reich-Ranicki und Heidenreich in einem Atemzug nennt, was in der FAZ zuzeiten die reine Unbotmäßigkeit dargestellt hätte, die sie solange sie dort abhängig beschäftigte war, nicht aussprach, vielleicht, weil sie klug ist. Jetzt kann sie das und macht es auch. Aber auch das ist nur eine Marginalie.
Heidenreich und Reich-Ranicki als Großbuchverkäufer gibt es in Deutschland nicht mehr. Und NachfolgerInnen sind keine in Erscheinung getreten. Soweit die supersympathische und hochgeerdete und sicher nicht doofe aber literaturtheoretisch evendöll (Alfred Leopold) entwicklungsfähige Felicitas von Lovenberg.
Ich würde fortfahren: In der Schweiz geht das mit den Medien und den Buchverkäufen in hohem Maße gut – aber mehr als Kollektiv-Veranstaltung, was eigentlich viel besser ist als mit dem deutschen Starsystem. Wenn ich höre, was die einheimischen schweizerischen Autorinnen für Verkaufszahlen und Anerkennungen und Gratifikationen zusammenbringen – auch eher sperrige Leute wie Lukas Hartmann, oder sag ich jetzt noch absichtlich: Ludwig Hohl dereinst, oder vollsperrige wie die Appenzellerin Dorothee Elmiger und der Toggenburger Peter Weber, und der freilich gar nicht sperrige Alex Capus oder Peter Bichsel gar, dann sage ich: Die Schweiz ist noch immer ein Land, in dem der literarisch-öffentliche Diskurs blendend funktioniert.
Die winzige Deutschschweiz kann sich, was diesen Punkt angeht, mit den USA messen. Mir würde in den USA fürchte ich in vielen Gegenden langweilig werden vor geistiger Ödnis. Aber in der Schweiz glaubich nicht.
Nicht zuletzt dank solcher fleißigen Leute wie Martin Ebel im Tage-Anzeiger und Stefan Zweifel und der Nicola Steiner beim Fernseh’ (Henscheid). Ich lasse auch Juri Steiner gelten, obwohl er manchmal schon sensationelle Momente hat. Zuletzt im August im Gespräch mit Greil Marcus. Holla, die Waldfee. Aber wurscht! Und dann die vielen Radiosendungen, die man für voll nehmen kann, und die NZZ und eine ganze Reihe weiterer Regionalzeitungen und little mags (das Sankt Galler SAITEN) und Literaturhäuser usw.
Ich nenne nochmal die beiden einschlägigen Habermas-Referenzen in Erkenntnis und Interesse -
1) Baumgart hielt insbesondere das Psychoanalysekapitel für überragend: Selbstreflexion als Wissenschaft – Freuds psychoanaltische Sinnkritik sowie: Das szientistische Selbstmissverständnis der Metapsychologie. Zur Logik allgemeiner Interpretation
2) Außerdem nenne ich ausdrücklich diese These, die die gesamte hochmögende abendländische hermeneutische Tradition bündelt – und wissenschaftheoretisch einordnet: »(...) der Interpret bewegt sich, indem er in seiner Muttersprache sozialisiert und zum Interpretieren überhaupt angeleitet worden ist, nicht unter transzendentalen Regeln, sondern auf der Ebene transzendentaler Zusammenhänge selber. (...) Theorie und Wissenschaft treten hier n i c h t (dk) wie in den empirisch – analytischen Wissenschaften auseinander.«
1 & 2) zusammengelesen ergeben die folgenden Schlüsse: Werke für sich zu lesen – ohne biographische Kontaminationen sozusagen, ist eine mögliche, aber nicht unbedingt gebotene Variante der Literaturkritik.
Literaturkritik soll nicht entkoppelt sein von Personen- und Weltdeutung. Das macht sie so spannend wie angreifbar. Wer meint, diese Eigenschaften der kritischen Tätigkeit durch mehr Objektivität im Sinne der Naturwissenschaften verbessern zu sollen, depotenziert die Kritik, anstatt sie produktiver zu machen. Es darf ruhig ums Großeganze gehen, wo von Literatur die Rede ist.
Ob das die Zuhörer überzeugt, hängt an einer Myriade von Randbedingungen, deren wichtigste mir persönlich die ist: Argumentiert die Kritikerin a u c h im Hinblick auf den in Rede stehenden Text und seine Beschaffenheit: – - Kompetent, stringent, luzide, witzig, neugierig, zugewandt usw. – und begreift sie, dass der Text allein – - simpel gesagt: Nicht funktioniert. Die Bühne des fiktionalen Spiels ist in aller Regel: – Die ganze Welt u n d ihre ProtagonistInnen! Ausnahmen – beispielsweise ästhetizistischer Art, sind möglich, – bestätigen aber – ihrer hinfälligen***(Rilke) Natur wegen handkehrum die einfache Regel, die ich hier aufstellen will:
Die Bühne des fiktionalen Spiels ist »an sich« (Alfred Leopold) die ganze Welt mitsamt allen Köpfen und Seelen darin, einschließlich aller einschlägigen Tathandlungen, Traditionen, Träume, Ideen, Gefühle überhaupt und Vergangenheiten und Zukünfte sonder Zahl.
Und da wird einem freilich hie und da schwindlig werden. Doch selbst das kann schön und richtig sein.
Ausklang mit Rainer Maria Rilke:
*** Vielleicht würde das kleine Kirchlein finster und hinfällig werden, wenn es von diesen Rivalen erführe.
(Erzählungen)
Aus »Ein Morgen«, 1899
(...) Vielleicht würde das kleine Kirchlein finster und hinfällig werden, wenn es von diesem Rivalen erführe. Aber es gibt eine Stunde vor Tag, da ist es wie die einzige Kirche auf der Welt. Und keine von den Frauen wird darin zu ihrer Nachbarin etwas von der neuen Kirche sagen. Sie sind ja überhaupt ganz still, als ob keine von der anderen wüßte. Und auch der alte Priester weiß nicht, ob Leute da sind, oder nicht. Er liest das Evangelium und denkt nur manchmal dazwischen, wenn er die Steinkälte in den Füßen fühlt: »Gestern war doch ein Teppich da ...« Aber das sind an fünfzig Jahre her, daß ein Teppich über den Stufen lag.
Ich bin nicht mehr nach Chiarano gegangen aus Furcht, diese kleine Kirche nicht wiederzufinden.
@Dieter Kief
Aufgeschreckt aus der Kracht-Lektüre dieser opulente Kommentar (und plötzlich weiss man, warum man diesen Blog noch betreibt). Aber gleich eine gewisse Verstörung: Was wollen Sie mit Ihrem mehrfachen »keinen Sinn« eigentlich sagen? Dass Einwände überflüssig sind (dann muss ich die Leistung, mehr als 2500 Wörter als Kommentar darauf zu schreiben, noch höher einschätzen)? Was hat Reinhard Baumgart (2003 verstorben) mit EHs Phrasendrescherei zu tun? Muss man Habermas bemühen, wenn man Dieter Bohlens Castingshow analysieren will (letztlich macht EH nichts anderes als Bohlen). Das kann man natürlich, aber mit welchem Gewinn? Genau darauf zielt am Ende auch mein Text: Man soll Sendungen wie »Literaturclub« und »Literarisches Quartett« aus dem literaturkritischen Dunstkreis entfernen, neue Namen finden (am besten personalisieren: »Heidenreich« und »Weidermann und Biller«) und sie zum Genre der »Talkshows« subsumieren. »Anne Will« oder »hart aber fair« sind ja auch keine Parlamentsdebatten, sondern Surrogate der Politik – zugegeben mit Potential (was ich aber nicht mag, aber das ist meine Sache).
Zur Sache:
So das Zitat (falsche Zitate in die Welt setzen sollten wir als Privileg von EH belassen). Was bedeutet denn »ernst gemeint« in einem Roman? Die Kongruenz zwischen Autorin und Geschriebenem? Das wäre Authentizität, oder, besser: Dokumentation. Das hätte wenig bis nichts mit literarischer Fiktion zu tun (wobei natürlich auch eine Dokumentation literarisch sein kann).
Das Buch mag ja »entsetzlich« und »grauenhaft« sein, aber warum ist es dann auch, so EH, »unehrlich« und »verlogen«. Hier liegt der Anspruch begründet, die Realität in Form des tatsächlichen Lebenslaufs der Autorin abzubilden. Denn ein Buch kann gar nicht »unehrlich« sein – das kann nur der Autor, die Autorin. Dieser Vorwurf ist immer implizit auf den Verfasser. Aber: War Kafka unehrlich? Oder Robert Walser? Bret Easton Ellis?
Warum ist es denn wichtig, dass Steinbeck im Heim aufgewachsen ist? Warum schreibt man dann nicht, wo EH aufgewachsen ist, die berühmte Pflegefamilie, dass sie die Universität abgebrochen hat. Was würde dies über ihre Literatur, ihr sogenanntes Kritikertum aussagen? – Meine Antwort kennen Sie: Nichts! Und warum sich EH erregt, soll sie eben sagen und nicht ihre talibanesken Attribute zu Lasten der Autorin abfeuern. (Vielleicht ist das Buch ja wirklich schlecht und vielleicht ist die Positionierung auf der Longlist zum Buchpreis ein Fehler, aber man darf, ja: muss mehr als ein Geschmacksurteil erwarten. Und noch etwas Ketzerisches: Wäre Steinbecks Buch bei Hanser oder Kein & Aber erschienen, hätte sie gemässigter gesprochen; so kommt das Buch aus einem Verlag, mit dem sie keinerlei »Verbindungen« hat.)
Strässle ist Literaturwissenschaftler, dieser Dampfwalze Heidenreich kann er nichts entgegensetzen. Sie redet ja einfach weiter, wenn man ihre Invektive kritisieren will. Und alle akzeptieren das; niemand steht auf und geht (was das richtige gewesen wäre)-
Danke für den Witz (ich habe schallend gelacht), EH eine »existentielle Ernsthaftigkeit« zu attestieren. Dabei ist ihre Ästhetik nie über den Brigitte-Status hinausgekommen. Es macht für mich »keinen Sinn« das zu leugnen, schönzurechnen. Natürlich hat sie auch Sternstunden gehabt; eher Sternminuten. Aber sie war sich mit Reich-Ranicki fast immer in der Rhetorik einig: Was sie nicht verstand, was ihren Horizont überschritt, hat sie nie versucht, zu verstehen oder mindestens gelten zu lassen. Sie hat kein Selbstbewusstsein, sondern Hybris. Dafür brauchte sie auch nicht zu lesen: Walser und Grass schrieben »Altherrenliteratur« sagte sie und später dann gestand sie, dass sie die Bücher gar nicht gelesen hatte. Ihr Geschimpfe auf Lewitscharoff – bis diese enthüllt, dass EH bei ihr nachgefragt hatte für eine Katzen-Anthologie (!) etwas zu schreiben (SL lehnte ab).
2008 hatte Christof Siemes eine schöne Glosse auf die »heilige Johanna der Hochkultur«, ihre »Prominentenshow« (»Lesen!«) geschrieben. Und ihr »Trompetenton«, der mit einem veritablen Anti-Intellektualismus korrespondiert (der immer nur für andere gilt und galt, aber nie für sich selber). Sie sprach mit Promis wie Mario Adorf, Iris Berben oder Joachim Król – bitte das Buch schön in die Kamera halten. »Dauerwerbesendung« hätte die Einblendung heissen müssen und das hat diese Fehlbesetzung Nicola Steiner scheinbar verinnerlicht, wenn sie am Ende die Frage »Lesen?« stellt – wie gesagt: in 60 Sekunden wäre man damit dann durch; 1 Stunde 14 Minuten Lebenszeit gewonnen. (Steiner hat immer wieder Sulzers Rede ergänzt, ihm Wörter aus dem Mund genommen; so spricht man mit einem Kind, aber nicht mit in einer Literatursendung, aber es ist schon klar: es gibt keine Zeit für Wortfindungen, alles muss im Heidenreich’schen Stakkato herauspurzeln.)
Natürlich ist die Biographie eines Autors nicht ausblendbar, obwohl man bei Wettbewerben genau dies beabsichtigt, wenn es dort manchmal heißt, die Manuskripte seien ohne Namenszug abzugeben. Schon klar, was das bedeuten soll. Ich glaube aber, dass jemand der das Feuilleton liest, den Biographismus nicht überlesen kann. Besonders interessant wird es, wenn die Identität eines Autors diffus bleibt, wie jetzt bei Elena Ferrante. Oder sich jemand verkrümelt (Pynchon). Das macht das Werk der Kritiker scheinbar schwerer und im Zweifel (Ferrante) wird einfach genau das noch mal zusätzlich thematisiert. Wie verwirrt eine Jurorin des Bachmannpreises einst war, als Andreas Maier dort las und auf ein Video verzichtete – sie hatte keinerlei biographischen Ansatzpunkt (sie hatte das öffentlich eingestanden). Es wird nicht nur hingesehen auf die Biographie, sondern sie wird sofort mit dem Text abgeglichen. Das führt zu voreiligen Schlüssen, schon bevor die erste Seite aufgeschlagen wurde. Neu ist das Phänomen nicht; man denke an Karl May und B. Traven (okay, eher Trivialliteratur, aber Frau Lötscher negiert ja diesen Ausdruck). (Demnächst in diesem Theater eine Besprechung über ein Buch, das einen dritten Weg neu skizzieren möchte, daher also hierüber erst einmal nichts mehr.)
Noch kurz ein zweites Problem: Es interessiert mich überhaupt nicht, ob eine Nicola Steiner ein Buch für »misslungen« oder »gelungen« hält. Es interessiert mich nur, wie eine Leserin, die Nicola Steiner heißt, zu diesem Urteil kommt (oft spielen dabei übrigens – weitere Gemeinsamkeit mit EH – gesinnungsästhetische Faktoren eine gewichtige Rolle). Dieses »Wie« entscheidet am Ende, ob man dann der Kritikerin à la longue »vertraut« oder ob einem ein Gefühl der Gleichgültigkeit befällt. Die Krise der Kritik hat auch damit zu tun, dass man bei den Protagonisten diese ehrliche, ästhetische Auseinandersetzung nicht mehr findet. Jeder Volldepp kann sagen, ob das Buch »gut« ist oder »schlecht«, aber Kritik bedeutet auch, von der eigenen Sicht abstrahieren zu können. Sicherlich ist die Literaturkritik keine positivistische Wissenschaft; das wäre schön und schrecklich zugleich. Das bedeutet aber nicht, sie zum reinen subjektiven Narzissmus zu erklären, Wenn sein »Empfinden« zum ausschließlichen Kriterium erhebt, wird es nur noch Stammtisch. Da habe ich dann oft (früher) in der Volkshochschule anregender diskutiert.
@ Gregor Keuschnig No. 9 @ metepsilonema No. 4 u No. 6
Nochmal wg. Wirkung des Gesprächs über, und der Kritik von Literatur in sämtlichen heutigen Medien – zugegebenermaßen: Langsam sonder Zahl!
McLuhan war sicher ein nur ganz begrenzt zurechnugnsfähiger Kopf – aber er hat – wie so oft bei freaks, etwas kommen sehen – - tatsächlich etwas kommen sehen – - – und Tom Wolfe hat’s als einer der ersten kapiert.
Habermas ist da natürlich auch einschlägig, wenngleich er oft nur noch wenige zusätzliche Differenzierungen bringt, und dafür einen manchmal schon grotesk anmutenden Aufwand treibt. Andererseits sind die Dinge, die der dann schreibt, oft sehr dicht und gelegentlich auch oberkompakt – wie das von mir aufgeführte Zitat aus Erkenntnis und Interesse über die Hermeneutik. Dem wurden Sie leider nicht gerecht, um nun mit der Tür ins Haus zu fallen: Weil das, was da steht, auf die systematische Notwendigkeit von Selbstreflexion hinausläuft, die ich – von allen an diesem Literaturgespräch beteiligten meine – - mit Habermas sozusagen als Verstärker – - abfordern zu sollen.
Niemand soll sich hinstellen und etwas ex cathedra dekretieren und anehmen, es habe im Literatur-Diskurs bestand. Hat es nicht, solange es sich der Selbstreflexion verweigert. Hat es auch dann nicht, wenn ein ausgewiesener Experte wie Sie sich über mindere Gegenstände beugt. Dass man, wie Sie richtig schreiben, von der eignen Sicht abstrahieren können soll – ich meine zu verstehen, was sie da meinen, – diese selbstkritische Einstellung ist unverzichtbarer Teil des Spiels, bis dahin sind wir vollkommen einer Meinung. Was ich fürchte ist, dass Sie implizit die Hoffnung mitlaufen haben bei Ihrer Schlußbemerkung, dass der Kritiker im Gegensatz zum Fernsehdiskutanten von diesem Imperativ verschont sei.
Falls es das n i c h t ist, auf was sie hinauswollten, bliebe noch die Deflationierung der Gesprächskultur durch die Massengesellschaft – durch die Masse, durch die Massenmedien – - das ist das gleiche Problem auf einer sozusagen technischen Ebene. Es ist das alte Leiden der Elite an der Moderne selber. Ein edles Leiden, gar keine Frage. Aber eines, das uns aufgegeben ist, wie mir scheint.
Außerdem ist es sozusagen porös: Das können Sie ja selbst sehen an dem, was hier auf Ihrem blog geschieht. Odr itte?!
Ja, der Stammtisch – der Literaturstammtisch und die VHS – sehr gute Orte! – : »Sowohl als auch« – - muss hier die Parole lauten. Das Gespräch suchen – ins Gespräch kommen – (auch) über Literatur allüberall.
Also ich halt nochmal fest: Die Ur-Tugend der Literaturkritik, dass man am Text entlang argumentiert, wurde im Literturclub ja erfüllt in Sachen Steinbeck – meine zugegebenermassen etwas detaillierten entsprechenden Ausführungen greifen Sie ja nicht an. Heißt: Sie stimmen implizit meinen entsprechenden detaillierten Feststellungen, Beschreibungen, Behauptungen zu.
Ihre Idee, man sollte die Fernsehformate einfach anders benennen – ist ja längst erfüllt: Es heißt gar nicht Literaturkritik-Club – es heißt Literaturclub!
Und es heißt nicht Kritisierenswert, sondern »lesenswert« und – naja, soviel weiter geht es gar nicht mehr – ah doch: Quartett – - literarisches Quartett, n i c h t kritisches Quartett.
Kommt mir fast so vor, als rennten Sie nun, lieber Herr Keuschnig, offenen Türen ein.
Und sofort fragt man sich: Warum denn bloss? Was hat er denn? Er wird doch nicht von den ganzen Durcheinader über Literatur und Medien irgendwie verunsichert und gar sauer darüber sein?
Ich bin oben etwas lang geraten – aber das ist die Natur von Rekonstruktionen: Sie sind immer ein wenig weniger knackig als das Leben selbst (=das Gespräch, oder das gesendete Gespräch – cum grano salis).
Und dann die Wirkung. Das ist für die, die die mühselige Arbeit auf sich nehmen, zu schreiben, ja auch noch ein Aspekt: Wie ist die Wirkung?
Von Lovenberg hat sich nicht nur was gedacht, als sie sprach, wie sie sprach, sondern sie hat auch Erfahrung. Ihre Aussage, dass Heidenreich als Buchverkäuferin zusammen mit Rein-Ranicki einsam ragte, greifen sie auch nicht auf – also stimmen Sie der zu?
Jedenfalls gefällt mir an von Lovenberg diese Direktheit und Offenheit, obwohl sie sonst ja auch ganz schön zu wünschen übrig ließ – sie ist auch eine von denen, die oft mehr als subkomplex über ein bestimmtes Buch schrieben. Mein Beispiel weiter oben mit Franzen ist hier einschlägig: Sie hält beide Bücher einfach für Fmiliengeschichten. Was sie freilich a u c h sind. Welt ist komplex, Welt der Literatur – s t r u k t u r e l l – komplexer.
Aber auch da sagte ich: Lass’ von Lovenberg nur machen, ich registriere die Defizite und suche dann halt anderswo – gelegentlich im eigenen Kopf.
Insgesamt ist die kritische Tätigkeit eine der anspruchsvollsten, die es gibt, wie ich meine. Weil es im Grunde um alles geht.
Dass man mit dem Nazi- und Totalitarismus-Hammer gleich mit auf Heidenreich einschlägt ist unsinnig, soviel Konsens würde ich auch von Ihnen erwarten.
Obwohl: Sie kamen – von mir gedrängt, zugegeben – aber trotzdem, auch mit Heidenreichischen Biographiana. Hm! Studium abgebrochen, usw. – wusst ich gar nicht, jetze, aber man lernt eben nie aus! Offenbar kennen sie die Dame etwas näher – auch das kann schwierig sein, ist klar.
Naja, und dass man Worte nicht einfach so nehmen kann, wie sie gesagt werden, sondern einen Zusammenhang stiften muss, immer auf’s Neue – auch das ist ja hermeneutischer Standard. Ich bleibe dabei: Heidenreich zielte darauf zu sagen, »wenn das ernst gemeint sein soll, was im Text steht, dann« – und da ist nun gar nix dabei. Das heißt einfach, die Autorin Steinbeck verhandelt mental schräge Dinge.
Übrigens: Nochmal wg. Wirkung: Mein bereits ausgeführter Gedanke, dass Heidenreich dem Buch nutzte: Der Tagi, nachdem er sich wieder beruhigt hatte und das Nazi-Banner gegen Heidenreich nun nicht mehr fliegen lässt (es wurde aber auch Zeit – denn das hatte gar keinen guten Sinn, und das habe ich in der Tat auch gemeint...und, gebich zu: Hier auch geschrieben, bereits...) – - also der Tagi sagt jetzt – in einem weiteren Interview mit Steinbeck wg. – - Heidenreich (cf. Stichwort Wirkung... s. o. Lovenberg usw. ...):
»Sind Sie froh um diese Debatte? Sie bringt Ihnen und Ihrem Buch doch mehr Publicity als ein fades Lob?«
Und die Frau Steinbeck antwortet:
»Ja, bestimmt. Ich habe nicht erwartet, dass mein Buch ein grosses Publikum findet. Aber eine solche Diskussion kann helfen, es bekannter zu machen. Das freut mich, zumal ich sehe, dass es doch einige Menschen anspricht.«
Wenn Frau Steinbeck jetzt noch ein Problem hat mit dem Buch, dann eventuell wg. zu v i e l Aufmerksamkeit. Und ja: Auch das kann ein Problem sein: Das Leiden auf dieser Welt – es höret nimmer auf. (Jesus Sirach // cf. »Ottfried« Honecker: Der Sozialismus in seinem Lauf /Verliert im Leben nicht den Schnauf – - – : – - – und so weiter...: – - – In den marginalia des großen abendländischen Abhubs brennt immer weiter Licht (auch tagsüber (seufz, und dabei wird es ohnehin immer wärmer).
Ende gut – alles auf Anfang!
Ausgerechnet Selbstreflexion bei EH festzustellen oder einzufordern ist in etwa so, als solle ein Metzger auf vegane Küche umstellen. Die Frau ist dazu nicht fähig – und, dass ist das entscheidende: nicht willig. Ihr Trotz macht sie zur Tugend, was man schon am Duktus sieht: Sie lässt sich nicht unterbrechen, redet einfach weiter (wie Biller, aber der ist noch zugängig) und unterbricht ihrerseits – als sei sie die Moderatorin – nach Belieben. Wobei das Unterbrechen nicht per se schlecht oder falsch ist, aber es geschieht immer dann, wenn die Komplexität ins »Spiel« kommt, denn das mag sie nicht, weil sie dann enttarnt wird als populistische Demagogin.
Natürlich schadet im Gut/Böse‑, Richtig/Falsch-Rhythmus des Fernsehens so etwas wie Zweifel oder Selbstreflexion, wenn es am Ende heissen muss »Lesen?« oder »1:0« oder »0:1«. Schon der Gedanke, dass EHs Invektive eben deshalb auch dem Buch nutze, ist literaturästhetisch pervers (ökomisch natürlich richtig). Natürlich hat auch Reich-Ranicks Zerreissen auf dem Spiegfel-Titel von »Ein weites Feld« dem Buch von Grass »genutzt«, sofern man kommerziellen Erfolg als Nutzen bezeichnet. Da ist man dann bei Enzensbergers Zirkulationsagenten (Verschreiber gerade von mir: Zirkuslationsagent) und man glaubt die Anekdote ja schon hundertmal gehört zu haben, in der ein Verleger den Rezensenten bittet: »Wenn Sie das Buch schon nicht loben können, dann verreissen Sie es doch bitte!«
Wäre also die Unterstellung der Störung der Autorin durch den Verkauf des Buches sozusagen legitimiert? Denke an Kracht, der, als »Imperium« erschien, von Diez als Neurechter quantifiziert wurde (weil er in einem anderen Verlag einen Briefwechsel mit einer scheinbar zwielichtigen Figur publiziert hatte). Macht nix, Hauptsache es hilft? Um die Anekdote weiterzuspinnen: »Kein Lob? Nicht einmal ein Verriss? Dann doch wenigstens eine Unterstellung, eine kleine Denunziation?«
Konsense kann man nicht einfordern. Wenn jemand von einem ihm missliebigen, von mir aus auch misslungenen (ich kann es nicht beurteilen) Buch auf den psychischen Zustand des Verfassers zielt, dann ist das ein in totalitären Systemen üblicher Weg der Denunziation, des Mundtot-Machens. Mein Stichwort ist dann meist die sogenannte chinesische Kulturrevolution. Was natürlich voraussetzt, dass das Gegenüber einigermaßen weiss, was das ist (daher verwenden manche Zeilenknechte wohl griffigere Metaphern; das alte Lied).
Was denn nun: Geht es um Alles oder sind das nur »Marginalia«? EH ist eine Marginalia – da haben Sie recht, aber sie steht ja exemplarisch für ein Teil ihrer Zunft und die mediale Verhackstückung von Literatur. In zwanzig Jahren wird kaum noch jemand EH kennen, aber 90% so »kritisieren«. Es geht nämlich wirklich um Alles – und das immer. Nur: Das wissen die meisten nicht.
Verzeihen Sie – aber von Lovenberg hat angefangen. Und ihre Feststellung ist berechtigt, wie mir scheint.
Buchverkäufe sind in der ganzen luftigen Debatte ein faktischer Anker, und deshalb nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, wie ich finde.
Die spezifische Funktionsweise des Fernsehens ist näher am Gefühl als ein Text – und in der Kommunikation sind Gefühle sehr wichtig – -
Ich sehe die Chinesische Kulturrevolution weit und breit nicht, weil ich EH nicht da verorte, sondern bei den Couragierten – wenn auch nicht bei den analytisch Orientierten.
Was – glauben Sie, – bewog mich, der ich weder verwandt noch verschwägert mit Frau Heidenreich bin, das alles hier hinzuschreiben?
Darf ich: Dass es tatsächlich sinnvoll ist, sich genau anzusehen, wann die Gefühlsmaschine Fernsehen – oder Gespräch, Biertisch usw. funktionert und wann nicht.
Ich halte das für eine produktive Fragestellung. Ich meine, es habe Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Wegen mir kann man gerne damit anfangen, mal verschiedene Namen für die verschiedene Äusserungsarten in Sachen Literatur zu suchen, warum nicht.
Man soll den Unterschied ruhig markieren – aber insbesondere beackern: schauen,was geht wo?
Metepsilomena hat das auch beobachtet: Ich meine, wenn man genau hinschaut, und die Protagonisten solch überdurchschnittlich gebildete Leute wie beim Literaturclub sind, dass die eine erhebliche Informationsdichte zusammenbringen. Ich hab metepsilomenas beitrag auch so verstanden – dass er in diese Richtung ziele.
Texte über Bücher lese ich dann gerne, wenn sie dicht sind.
Ich wage eine Hypothese: Insbesondere im Falle von sich widerstreitenden Ansichten ist das Fernsehen nur mäßig gut – weil die Gefühle eben das Denken erschweren.
Aber nicht nur. Die Denk-Texte sind in der Tat ein anspruchsvolles Genre, und ich weiß nur wenige Protagonisten in der deutschen Medienszene, die das hinbringen.
Macht aber nichts, gute Texte kann es wahrscheinlich gar nicht wie Sand am Meer geben – oder wir können sie nicht in beliebiger Menge lesen.
Imperium war ein wie ich fand sehr gutes Buch – weit überdurchschnittlich. Diez hatte was am Wickel wg. des Briefbandes – die Sottisen über Theo van Gogh waren unterirdisch. Da hatte Diez recht. Was er aber überhaupt nicht richtig bearbeitete war die Frage, welches rechte Gedankengut ok ist, und wann es angezeigt ist, dagegen mit massiven Mittel im Diskurs oder gar mit administrativen und polizeilichen Mitteln usw. vorzugehen. Jetzt geht er erstmal 1 Jahr studieren. Das ist eine gute Idee. Er hat so Berge von fragwürdigen Artikeln verfasst, dass ich mich immer wieder fragte, wann die das beim Spiegel(-online) endliche merken; irgendwann hat’s einer gemerkt – und wenn er es selbst war. Wer ist wurscht.
Weil Sie das Radio erwähnen: Im Schweizer Radio im 2. Progrmm gibt es 52 beste Bücher – eine einstündige Sendung – und oft so gut! (so guet – sagen die CH-ler.)
Meist ist ein Autor im Studio und eine exzellent vorbereitete Redakteurin oder ein Redakteur. Das gibt oftmals Sendungen, wo man das Gefühl hat: Jetzt weiß ich aber sehr genau über dieses Buch bescheid.
So sind wir mit einem unserer Neffen in CH Auto gefahren, die Sendung kam, und als sie um war – es ging um Lukas Hartmanns neuen Roman – sagte er : Den Namen müsse er sich jetzt aufschreiben, das Buch ist interessant! Ich war vor allem deswegen überrascht, weil er sonst kaum liest! Das haben einfach die beiden Leute am Mikro geschafft – aber auch Hartmann mit seinem Roman.
Der gut ist: Auf beiden Seiten – nicht zuletzt deswegen, weil er anti-paranoisch ist in seiner Anlage – und weil er Figuren hat, die viel Zeitgeist verkörpern – aber nicht nur solchen von einer Sorte. Ein Kunststück!
Von Lovenberg habe ich nie ernst genommen. Sie hat u. a. Charlotte Roche in der FAZ ganz schön hoch gehypt. Ansonsten: eher sowas hier...
Mein Problem ist, dass Heidenreich als Literaturkritikerin satisfaktionsfähig sein soll. Das war sie nie und ist sie nicht und wird sie nicht sein. Das Fernsehformat des »Literaturclub« hat mit »Literatur« nichts zu tun; Leute wie Strässle oder Sulzer oder auch Lötscher und – in Grenzen – Safranski und Hildegard E. keller dienen nur als Camouflage für eine verlotterte Pseudo-Kritiksendung. Da spielen sehr viele andere Dinge eine wichtigere Rolle: Emotion, Unterhaltungswert, Lächerlichmachung, antiintellektuelle Affekte. Das hat EH von Reich-Ranicki gelernt, der Zeit seines Lebens gegen Literaturwissenschaftler und Universitätsprofessoren wetterte – aber die Ehrendoktorwürden dann doch gerne annahm.
Diez ist auch so eine Krawallschachtel. Ihn interessiert Literatur nicht die Bohne. Natürlich kann man in Briefwechseln oder sonstigen Kassibern politische Zwei- oder Dreideutigkeiten entdecken. Aber ein bisschen mehr Futter als Ressentiment darf es doch wohl sein. Das Elend ist, dass solche Leute überhaupt eine derartige Diskursmacht haben. Es ist mit Diez und Heidenreich ähnlich wie mit dem Terrorismus: Man sollte es ignorieren, um es nicht stärker zu machen.
Ohne diese Radiosendung zu kennen glaube ich Ihnen blind. Das Radio hat Möglichkeiten, die das Fernsehen nicht hat. Das hängt damit zusammen, dass sich beimRadio wirklich nur diejenigen versammeln, die ein Interesse haben oder sich dieses Interesse beim Hören bildet. Das Hören fordert ja die Sinne viel mehr als das Schauen beim TV. Daher »funktioniert« (mea culpa) Kultur im Radio eher als im Fernsehen.
Darf ich einen immer noch populären Künstler (auch ein Dichter) zitieren?
=
Leicht kommt man an das Bildermalen
Doch schwer an Leut’, die’s bezahlen
Statt ihrer ist, als ein Ersatz
Der Kritikus sofort am Platz.