Bar­ba­ra Ken­ne­weg: Haus für ei­ne Per­son

Barbara Kenneweg: Haus für eine Person

Bar­ba­ra Ken­ne­weg:
Haus für ei­ne Per­son

Sie heißt Ro­sa Lux (der Vor­na­me ist ein Wort­spiel der Mut­ter), ist 32 Jah­re alt und wohnt ir­gend­wo im Osten von Ost­ber­lin in ei­nem klei­nen, 50 Qua­drat­me­ter gro­ßen Haus, dass sie (wie auch im­mer) von ei­nem ehe­ma­li­gen SED- und/oder Sta­si-Men­schen ge­kauft hat. Ih­re Nach­barin ist die 98jährige Wit­we Frau Paul, die in ei­nem 1970er-Jah­re-DDR-Ku­rio­sum wohnt, dass ihr Mann in den 1970er Jah­ren aus Trüm­mern und Bau­stel­len­re­sten zu­sam­men­ge­baut hat­te. Frau Paul be­kam zwi­schen 1931 und 1952 fünf Kin­der und hat eben­so vie­le po­li­ti­sche Sy­ste­me er­lebt. »Und im­mer wa­ren die Na­men, die ihr ge­fie­len, po­li­tisch un­er­wünscht.« Mit Charme und Schalk er­zählt sie da­von, war­um ih­re Kin­der nicht Wil­helm, Iwan und Glenn hei­ßen durf­ten und war­um sie aus Jo­shua Joschi ma­chen muss­te. Und sie er­zählt von den Bomben­angriffen, den Wohn­block­knackern und Vier­pfün­dern.

Ro­sa ist be­ein­druckt von der Ge­las­sen­heit und Le­bens­klug­heit die­ser Frau. We­ni­ger sym­pa­thisch ist ihr Herr Scholl, der an­de­re Nach­bar, et­was jün­ger als Frau Paul, Wit­wer, ein Stei­ne- und Find­lings­samm­ler (mit ei­nem, wie sich spä­ter her­aus­stellt, rüh­ren­dem Ge­heim­nis) und, so Frau Paul, ein da­mals Na­zi-Über­zeug­ter. An­son­sten ist das Vier­tel ver­schla­fen, ein »Fleck­chen Bür­ger­lich­keit«. Ro­sa schwankt ob sie das mö­gen oder has­sen soll. Ihr Va­ter ist seit acht Jah­ren tot und jetzt starb auch noch ih­re Mut­ter. Von ih­rem Freund Olaf hat sie sich ge­trennt, der dar­auf­hin in den Hi­ma­la­ya ge­flüch­tet ist. Jetzt lebt Ro­sa al­lei­ne, fast iso­liert, von ei­nem One-Night-Stand mit ei­nem schreck­li­chen Im­mo­bi­li­en­mak­ler ein­mal ab­ge­se­hen. Wei­ter­le­sen

Ver­hül­lung und Mo­der­ne

Als ich noch in Neu­bau, im sieb­ten Wie­ner Ge­mein­de­be­zirk, in ei­nem für die­se Ge­gend un­ty­pi­schen Haus wohn­te, er­fuhr ich was das Ver­hül­len von Kopf, Ge­sicht und Kör­per, je nach Voll­stän­dig­keit und Blick­win­kel des Be­trach­ters, be­deu­ten kann: Ich war da­mals mit ei­ner jun­gen, tsche­tsche­ni­schen Nach­ba­rin in Kon­takt ge­kom­men, die sich wie ei­ni­ge an­de­re Be­woh­ner des Hau­ses in des­sen Hof bei schö­nem Wet­ter zum Spie­len, Trat­schen und Kaf­fee­trin­ken ein­fan­den. Wei­ter­le­sen

Aus­lö­schung (3)

— Teil 2

3

Ich ha­be von Kul­tur ge­spro­chen. Ge­nau­er, von kul­tu­rel­len Pro­duk­ten als wirt­schaft­li­chem Ein­satz, Exi­stenz­grund­la­ge welt­weit tä­ti­ger Fir­men. Des­halb der Ei­fer und Über­ei­fer, mit dem heu­te Ei­gen­tums­rech­te an letzt­lich im­ma­te­ri­el­len Din­gen wie Fil­me und Pop­songs, Fi­gu­ren und Ti­tel, Slo­gans und De­signs gel­tend ge­macht wer­den. In un­se­ren Köp­fen hallt die Dro­hung, wer ei­nen Film ko­pie­re, wer­de mit fünf Jah­ren Ge­fäng­nis be­straft. Und ein Groß­teil der Kon­su­men­ten-Pro­du­zen­ten, der Nut­zer und Selbst­dar­stel­ler, der Kun­den und Kö­ni­ge macht mit beim Ge­ze­ter, »das ge­hört doch mir« und »ich ha­be da­für be­zahlt« und »ich will das Geld, das mir zu­steht«. Der so­ge­nann­te Neo­li­be­ra­lis­mus ist tief in die Köp­fe und Her­zen ein­ge­drun­gen, um dort Wur­zeln zu schla­gen. Hork­hei­mer und Ador­no ha­ben nicht nur un­ter dem Ein­druck der Mas­sen­be­tö­rung durch den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, son­dern gleich­zei­tig un­ter dem nach­hal­ti­ge­ren Ein­druck von Hol­ly­wood und dem begin­nenden Fern­se­hen ih­re Theo­rie von der Gleich­schal­tung durch die Kul­tur­in­du­strie ent­wickelt. Die Theo­rie wur­de in un­ge­ahn­tem Aus­maß von den nach und nach geschaf­fenen Fak­ten be­stä­tigt. Mo­zart und Beet­ho­ven wür­den von die­ser In­du­strie al­lein zu Wer­be­zwecken ein­ge­setzt, mein­ten die ra­di­ka­len Kri­ti­ker. Sie konn­ten sich ver­mut­lich nicht vor­stel­len, daß man sich ei­nes Ta­ges in der Öf­fent­lich­keit – und teils in pri­va­ten Haus­hal­ten – gar nicht mehr be­we­gen kann, oh­ne von aku­sti­scher Kul­tur, durch­bro­chen von Wer­be­slo­gans, um­fan­gen zu wer­den. Frei­lich nicht von Wer­ken Mo­zarts oder Beet­ho­vens, son­dern von seich­te­ster Pop­mu­sik. Ei­ner Pop­mu­sik, die in den fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jah­ren als Ge­gen­kul­tur an­trat, in­zwi­schen aber na­he­zu rest­los von der mu­sik­in­du­stri­el­len Herr­schafts­kul­tur ge­ka­pert wor­den ist. Der vi­su­el­le Sie­ges­zug des Fern­se­hens und des­sen gei­sti­ge Fol­gen wur­den in den acht­zi­ger Jah­ren von Neil Post­man be­schrie­ben. Fern­seh­sta­tio­nen sind seit­her ins Kraut ge­schos­sen, es gibt kei­ne Se­kun­de am Tag, in der die Bil­der­flut nicht auf den Kon­su­men­ten, den User lau­ern wür­de. Die di­gi­ta­le Ver­net­zung hat die Vor­herr­schaft des Vi­su­el­len nur ver­schärft. In den Zei­ten vor der Ein­füh­rung der Schul­pflicht und der Er­fin­dung des Buch­drucks war die Ge­sell­schaft in ei­nen li­te­ra­ten und ei­nen il­li­te­ra­te Be­völ­ke­rungs­teil ge­spal­ten; die Schrif­tun­kun­di­gen spei­ste man mit Bil­dern ab, um ih­nen die Grund­la­gen der Kul­tur im Scho­ße der christ­lichen Re­li­gi­on zu ver­mit­teln. Heu­te wen­det sich die gro­ße Be­völ­ke­rungs­mehr­heit wie­der den Bil­dern zu, oh­ne Zwang und auch nicht, weil sie gar kei­ne Wahl hät­te, son­dern weil mu­si­ka­lisch un­ter­mal­te Bil­der leich­ter und ra­scher kon­su­mier­bar sind, da sie kein in­tel­lek­tu­el­les En­ga­ge­ment ver­lan­gen. Be­quem­lich­keit über al­les: wie sol­len da Mut und Tä­tig­keits­drang ge­dei­hen? Touch­screens und aku­sti­sche Sen­so­ren wer­den die Spal­tung lang­fri­stig ver­schär­fen, An­alpha­be­tis­mus könn­te ein ech­tes Pro­blem nicht nur an den Rän­dern der Ge­sell­schaft wer­den. War­um le­sen und schrei­ben, wo doch schau­en, hö­ren und be­rüh­ren ge­nügt?

Im­ma­nu­el Kant hat­te in sei­ner Schrift zur Be­ant­wor­tung der Fra­ge »Was ist Auf­klä­rung?« den selb­stän­di­gen Ge­brauch des ei­ge­nen Ver­stan­des als Vor­aus­set­zung für Mün­dig­keit und da­mit letzt­lich für De­mo­kra­tie dar­ge­stellt und an die Schrift­kul­tur ge­bun­den. Ver­kümmert die zwi­schen dem 18. und 20. Jahr­hun­dert ge­fe­stig­te Schrift­kul­tur, ver­küm­mern Mün­dig­keit und De­mo­kra­tie. Un­mün­dig­keit, schlich­ter ge­sagt: Dumm­heit, ist mit ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ver­fas­sung, wie Kant und die Auf­klä­rer sie an­streb­ten, nicht ver­ein­bar. Die Kul­tur­in­du­strie för­dert je­doch die Un­mün­dig­keit, in­dem sie nicht den Ver­stand, son­dern aus­schließ­lich Emo­tio­nen, Sin­ne und Trie­be an­spricht. Je stär­ker ge­wis­se Trie­be in­vol­viert wer­den, de­sto bes­ser für das Ge­schäft. Der pop­kul­tu­rel­le Kon­sum­ka­pi­ta­lis­mus heu­ti­ger Ta­ge er­zeugt und för­dert Süch­te nicht nur in Spiel­hal­len und in der Splat­ter-Ab­tei­lung der har­ten Dro­gen, son­dern an al­len Fron­ten, be­son­ders im Netz. So sieht das vor­läu­fi­ge End­sta­di­um der um­fas­sen­den »Kul­tu­ra­li­sie­rung« aus, die der Ent­wick­lung von ei­nem auf Pro­duk­ti­on und Ar­beit, Maß und Ver­nunft, so­zia­ler Dis­zi­plin und per­sön­li­cher Selbst­be­herr­schung ori­en­tier­ten Ka­pi­ta­lis­mus zu ei­nem kon­su­mi­sti­schen und hedonis­tischen, hy­per­ak­ti­ven und zu­gleich an­ge­paß­ten, au­gen­blicksver­haf­te­ten, ge­schichts­lo­sen Per­sön­lich­keits­mo­dell im Rah­men der post­mo­der­nen Wirt­schafts­form ent­spricht und dient. Wei­ter­le­sen

Pe­ter Hand­ke und Ja­kob Böh­me

Es sind in neue­rer Zeit nicht eben vie­le Au­toren, aus de­ren Schrif­ten her­vor­geht, daß Ja­cob Böh­me für sie ein­mal ir­gend von Be­deu­tung ge­we­sen ist, und von den­je­ni­gen der Ge­gen­wart gilt das am au­gen­schein­lich­sten ge­wiß für Pe­ter Hand­ke. Da­bei han­delt es sich in sei­nen Er­zäh­lun­gen und Auf­zeich­nun­gen meist um eher knapp ge­hal­te­ne as­so­zia­ti­ve Be­zug­nah­men – mit­un­ter, wie in der Mo­ra­wi­schen Nacht, bleibt es bei ei­ner ein­zi­gen im Text.1 Auf gleich ei­ne gan­ze Rei­he von sol­chen Hin­wei­sen stößt man da­ge­gen in sei­ner Samm­lung von No­ti­zen aus den Jah­ren 2007–2015, die 2016 un­ter dem Ti­tel Vor der Baum­schat­ten­wand nachts2 von ihm ver­öf­fent­licht wur­den. Daß ich mich im fol­gen­den spe­zi­ell auf sie ein we­nig ge­nau­er ein­las­sen möch­te, be­darf, mit Blick auf den Rah­men, in dem die­ser Text zu ste­hen kommt, si­cher kei­ner be­son­de­ren Er­klä­rung; an­ge­sichts der Viel­fäl­tig­keit der von Hand­ke no­tier­ten Ge­dan­ken und Be­ob­ach­tun­gen er­scheint ei­ne Be­schrän­kung im Stoff oh­ne­hin un­um­gäng­lich. Ein we­nig mehr vom Gan­zen als nur der ge­wähl­te schma­le Aus­schnitt wird sich auch auf die­se Wei­se aber den­noch be­leuch­ten las­sen.

Die ins­ge­samt meh­re­re tau­send »Zei­chen und An­flü­ge«, wie es im Un­ter­ti­tel heißt, um­fas­sen­de Samm­lung von Kurz­tex­ten ist nach der Chro­no­lo­gie ih­rer Ent­ste­hung oder Nie­der­schrift an­ge­ord­net. Ein Groß­teil von ih­nen läßt sich da­bei un­ter zwei­er­lei Ru­bri­ken ein­ord­nen, zum ei­nen: Die um­ge­ben­de Na­tur im Wech­sel der Jah­res­zei­ten, und zum an­dern: Ge­dan­ken zu Ge­le­se­nem (oder Ver­wei­se auf Ge­le­se­nes), wo­durch sich im Ver­lauf des Buchs ein recht ge­nau­es Bild er­gibt (oder viel­leicht auch nur zu er­ge­ben scheint) über die Lek­tü­re­fol­ge in den Jah­ren zwi­schen 2007 und 2015. So fin­den sich über län­ge­re Zeit Ver­wei­se auf, Zi­ta­te aus den Ta­ge­bü­chern von John Chee­ver, spä­ter be­geg­net im­mer wie­der der Na­me Paul Ni­zon, noch spä­ter (u. a.) die »Brü­der Ka­ra­ma­sow«. Ge­gen En­de sind es dann vor al­lem die Zeug­nis­se zum Le­ben Goe­thes, die Hand­ke in ih­ren Bann zie­hen; als er, im Fe­bru­ar 2015 wohl, bei des­sen Tod an­ge­kom­men ist (»›Er such­te die gött­li­che Ru­he in sich her­zu­stel­len‹ [(Rie­mer von G., nach des­sen Ster­ben])« (334), be­ginnt er (»›Ich ha­be euch gar zu lieb, sie­he, ich schrei­be bei Nacht für euch‹ [G. an sei­ne Schwe­ster, 1765 […]]« wie­der »von vor­ne« (336) mit ihm. Und aus die­ser Lek­tü­re der Brie­fe und an­de­ren Le­bens­zeug­nis­se ist im üb­ri­gen auch die dem Buch vor­an­ge­stell­te Wid­mung ge­nom­men: der »Kop­pen­fel­si­sche[] Scheu­nen­gie­bel« stammt, wie man auf ei­ner der letz­ten Sei­ten er­fährt, aus ei­nem Brief an Zel­ter aus dem Jahr 1816 (411).

Ei­ne ei­ge­ne Ab­tei­lung in­ner­halb der Auf­zeich­nun­gen zu Li­te­ra­ri­schem bil­den die Kom­men­ta­re zu und Zi­tie­run­gen von Au­toren, die für ge­wöhn­lich dem Be­reich der My­stik zu­ge­rech­net wer­den. Das gilt, be­sieht man sich die Häu­fig­keit der Nen­nun­gen, im be­son­de­ren Ma­ße für sol­che des mus­li­misch-ara­bi­schen Raums: Ibn ʿA­ra­bī, Al-Gh­aza­li und Al-Min­hadj (u.a. 26, 48, 83f., 94); aus dem Be­reich der christ­li­chen My­stik wer­den je ein­mal Mecht­hild von Mag­de­burg (152) und Ju­an de la Cruz (255) von Hand­ke zi­tiert, und, als ein My­sti­ker der be­son­de­ren Art, weil ei­ner aus un­se­rer Zeit, und er wie­der gleich mehr­mals, der »My­sti­ker Carl­fried­rich Claus« (288), »der Zeich­ner, der Ma­ler« (295), wäh­rend in Op­po­si­ti­on zu ih­nen al­len Goe­the er­scheint, »ent­schlos­se­ner An­ti-My­sti­ker – aber im ›Gro­ßen Krieg‹ zu­gleich ge­gen sich sel­ber?« (343). Wei­ter­le­sen


  1. "Wenn überhaupt etwas, konnte er nur das werden, ausüben und immer weiterüben, was sein Ureigenes oder, frei nach Jakob Böhme, sein Urstand war, oder, mit wieder anderen Worten, sein schönes und schreckliches Problem." (Peter Handke: Die morawische Nacht. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 541. 

  2. Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015 - Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2016, im weiteren Verlauf des Textes Zitate ohne Sigle, nur mit Seitenzahl 

Aus­lö­schung (2)

— Teil 1

2

Kid­za­nia ist ein vor­sint­flut­li­cher Spiel­kon­ti­nent, er­rich­tet und be­trie­ben mit den Mit­teln mo­dern­ster Tech­nik und Kom­mu­ni­ka­ti­on. Die Kin­der ge­hen dort hin, um spie­lend zu ar­bei­ten, al­so die Tä­tig­kei­ten der Er­wach­se­nen zu imi­tie­ren, dar­un­ter sol­che, für die in der Er­wach­se­nen­wirk­lich­keit gar kein Per­so­nal mehr be­nö­tigt wird. Die mei­sten be­glei­ten­den El­tern oder Groß­el­tern tun ih­re Pflicht, in­dem sie di­gi­ta­le Re­pro­duk­ti­ons­tech­ni­ken – Ka­me­ras, Han­dys – zum Ein­satz brin­gen und die Klei­nen bei ih­ren Tä­tig­kei­ten photo­graphieren und fil­men, was in der Re­gel ein Selbst­zweck ist, in­so­fern die Über­fül­le der ge­spei­cher­ten Bil­der in der Zu­kunft die­ser Fa­mi­li­en in vir­tu­el­len Ab­stell­kam­mern ver­stau­ben wird (um ei­ne vor­sint­flut­li­che Me­ta­pher zu ge­brau­chen). Das Ab­lich­ten selbst ist ein Ri­tu­al, ei­ne Art Spiel, das die Ge­pflo­gen­hei­ten in ei­ner tech­ni­sier­ten Kon­sum­welt be­dient. An­de­re An­ge­hö­ri­ge sit­zen in ei­ner Ecke der Kin­der­stadt auf ei­ner Ru­he­bank für Er­wach­se­ne und be­schäf­ti­gen sich mit ih­ren Smart­phones. Ein paar Mi­nu­ten lang ha­be ich ei­nem Va­ter über die Schul­ter ge­schaut, der ei­nes die­ser bun­ten Spie­le spiel­te, wo man be­weg­li­che ab­strak­te For­men ord­nen und Hin­der­nis­sen aus­wei­chen muß. Wäh­rend sein Sohn mit größ­tem Ei­fer die Rol­le ei­nes Po­li­zi­sten aus­füll­te, lüm­mel­te der Va­ter da und gab sich der Be­schäf­ti­gung hin, die ver­mut­lich ei­nen Groß­teil sei­ner Frei­zeit zu Hau­se, im Zug im Au­to oder in der Mit­tags­pau­se aus­füllt. Der Sohn wird die­sen Grad der In­fan­ti­li­sie­rung erst im Er­wach­se­nen­al­ter er­rei­chen. Einst­wei­len hängt er in sei­nem ern­sten Spiel der Il­lu­si­on nach, in der Welt der Vä­ter wür­den ver­nünf­ti­ge und be­deut­sa­me Din­ge ge­schehen, zu der je­des wert­vol­le Ge­sell­schafts­mit­glied sei­nen Bei­trag zu lei­sten ha­be.

Ich selbst spie­le kei­ne sol­chen Games. Al­ler­dings be­steht ein Teil mei­ner Un­ter­hal­tung dar­in, spiel­ver­ses­se­ne Er­wach­se­ne zu or­ten, sie zu be­ob­ach­ten und mich in­ner­lich über die­se Art von Kul­tur zu er­re­gen. Ich su­che nicht nach Po­ke­mons, son­dern ver­fol­ge Po­ke­mon-go-Spie­ler. Ei­ner, auf ei­nem Bahn­steig in Osa­ka, tat es ver­steckt, hin­ter dem Rücken sei­ner et­wa vier­jäh­ri­gen Toch­ter. So las­se ich mich selbst, er­klär­ter Geg­ner der In­fan­ti­li­sie­rung, in mei­nem täg­li­chen Ver­hal­ten von der tech­no­lo­gi­schen Ver­spielt­heit be­herr­schen. Wahr­schein­lich wä­re es bes­ser, klein bei­zu­ge­ben, mir ein Smart­phone oder Ta­blet zu kau­fen und mich ir­gend­wel­chen die­ser Spie­le hin­zu­ge­ben. Kri­ti­sche be­ob­ach­ten oder ein­fach mit­tun, das macht letzt­lich gar kei­nen Un­ter­schied. Au­ßer viel­leicht den, daß man nur mit ei­nem Mi­ni­mum an Di­stanz zu dem, was vor sich geht und Sa­che ist, dar­über schrei­ben kann. Dar­an hal­te ich im­mer noch fest. Der näch­ste Schritt, die näch­ste Fra­ge wä­re: Wo­zu über­haupt schrei­ben? Wenn man doch schau­en, be­rüh­ren und klicken kann. Wei­ter­le­sen

Noch ein­mal über Fuß­ball

Ge­ra­de hat­te man sich mit den Hof­fen­heim-Bu­ben ar­ran­giert, da stür­men die Brau­se-Bul­len von Leip­zig durch die Fuß­ball­li­gen und er­drei­sten sich ei­nen bis­he­ri­gen zwei­ten Platz in der Bun­des­li­ga. Der Fuß­ball droht, so die gän­gi­ge Mei­nung un­ter de­nen, die sich »Fans« nen­nen, sei­ne Un­schuld zu ver­lie­ren. In Dort­mund konn­te man neu­lich se­hen, wie das Fuß­ball­volk da­zu steht: RB Leip­zig wird in ei­ner Mi­schung aus Co­me­dy und Trum­pis­mus für al­le Un­ge­mach des Fuß­balls ver­ant­wort­lich ge­macht. Das ist wirk­lich lu­stig, wenn es nicht so ernst ge­meint wä­re. Aus­ge­rech­net von de­nen, die of­fen­sicht­lich ver­ges­sen ha­ben, das Bo­rus­sia Dort­mund zu­letzt 100 Mil­lio­nen Eu­ro Trans­fer Ein- und Aus­ga­ben tä­tig­te und dass es ihr hei­li­ger BVB war, der als er­ster (und bis­her ein­zi­ger) Ver­ein in Deutsch­land die Profiabteilung(en) in ei­ne Ak­ti­en­ge­sell­schaft um­wan­del­te. ich weiß nicht, ob es Dumm­heit oder ein­fach nur Nai­vi­tät ist, die den Span im Au­ge des an­de­ren sieht, aber den ei­ge­nen Bal­ken wahr­zu­neh­men nicht be­reit ist.

Der Fuß­ball war und ist auch oh­ne Hof­fen­heim und Leip­zig längst durch­kom­mer­zia­li­siert bis hin zur Per­ver­si­on. Die Fuß­ball­ver­bän­de tun ihr üb­ri­ges da­zu. Da­mit ist nicht nur der Grö­ßen­wahn­sinn kor­rup­ter Or­ga­ni­sa­tio­nen wie UEFA und FIFA ge­meint. Der DFB ist sel­ber zur Pro­fit­ma­schi­ne ge­wor­den und ein En­de ist nicht ab­zu­se­hen. Ge­ra­de wird an der Ver­än­de­rung des DFB-Po­kals ge­schraubt, da­mit man noch mehr Ein­nah­men ge­ne­rie­ren kann und ver­meint­lich un­at­trak­ti­ve Spie­le für die »Gro­ßen« mi­ni­miert wer­den.

Ich kom­me aus Mön­chen­glad­bach und ha­be die Hoch­zeit die­ses Fuß­ball­ver­eins er­lebt. Mön­chen­glad­bach war tief­ste Pro­vinz; kein Mensch kann­te die­sen Ort und es gab auch we­nig Ver­an­las­sung da­zu. Bis es die Bo­rus­sia schaff­te. Das Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­ti­al war groß; vie­le Spie­ler ka­men tat­säch­lich da­mals aus der Re­gi­on. Bei der Mei­ster­fei­er fuhr der Bus an un­se­rem Haus vor­über. Es wa­ren die Bos­se der Bo­rus­sia und von Bay­ern Mün­chen, die dann an­de­re We­ge gin­gen. Mön­chen­glad­bach war ge­zwun­gen, Spie­ler zu ver­kau­fen. Aber man kauf­te auch ein. Plötz­lich kam zum Bei­spiel ein dä­ni­scher Spie­ler nach Mön­chen­glad­bach, den wir be­staunt ha­ben wie ein Wun­der­werk. Nach ein paar To­ren lieb­ten wir ihn. Wei­ter­le­sen

Aus­lö­schung (1)

1

Das Prin­zip des Main­streams, der an­schwel­len­den, Zu­flüs­se sich ein­ver­lei­ben­den und im­mer wei­ter an­schwel­len­den Strö­me, ent­spricht der vi­ra­len Aus­brei­tung von In­hal­ten im In­ter­net, ist aber nicht nur dort vor­zu­fin­den, son­dern auch an­ders­wo, in wirk­li­chen Wel­ten, zum Bei­spiel hier, in die­ser ana­lo­gen Si­mu­la­ti­ons­welt na­mens Kid­za­nia, gegen­über vom Ko­shien-Base­ball­sta­di­on im Her­zen der In­du­strie­zo­ne zwi­schen Osa­ka und Ko­be. Kin­der kom­men in Be­glei­tung ih­rer El­tern oder Groß­el­tern hier­her und ar­bei­ten, ge­nau­er: sie »ar­bei­ten« – die An­füh­rungs­zei­chen sol­len auf den Spiel­cha­rak­ter ver­wei­sen, denn die Kin­der ar­bei­ten nicht »echt«, es han­delt sich nicht um ei­nen Ort der Aus­beu­tung schwa­cher, schutz­lo­ser Ar­beits­kraft, son­dern um spie­le­ri­sche Nach­ah­mung mit Hil­fe von rea­li­sti­schen At­trap­pen bzw. Rea­li­täts­bruch­stücken (Aus­stat­tung, Ge­rä­te, klei­ne Ma­schi­nen).

Am frü­hen Mor­gen ei­nes schul­frei­en Fei­er­tags strö­men Hun­der­te, Tau­sen­de Kin­der in Be­glei­tung von Er­wach­se­nen her­bei. Die si­mu­lier­te Stadt mit ih­ren Geh­stei­gen und Stra­ßen, Plät­zen und Ge­schäf­ten und Re­stau­rants (ech­te ne­ben si­mu­lier­ten) füllt sich bis zu ei­ner Men­schen­dich­te wie zu den Stoß­zei­ten in Um­eda, wo meh­re­re Bahn­hö­fe auf­ein­an­der­tref­fen. Die Kin­der be­tä­ti­gen sich, die Er­wach­se­nen sind Zu­schau­er oder blei­ben am Rand, spie­len oder schla­fen. Das al­les kann nur durch star­ke fi­nan­zi­el­le In­ve­sti­ti­on funk­tio­nie­ren, In­ve­sti­ti­on in Ma­te­ri­al, aber auch in Per­so­nal, das den Kin­dern an al­len Ecken und En­den zur Sei­te steht und ziem­lich ri­gi­de Zeit­plä­ne durch­setzt, denn je­des Kind will sich an so ei­nem Spiel­tag in mög­lichst vie­len Be­ru­fen be­tä­ti­gen. Mei­ne Toch­ter zum Bei­spiel war Flug­be­glei­te­rin und Rechts­an­wäl­tin, Klei­der- und Brillenver­käuferin, Mo­del und Jour­na­li­stin und Ra­dio­ma­che­rin. Sie war nicht Ärz­tin, Feuerwehr­frau, Zucker­bäcke­rin... Noch nicht, wir kom­men wie­der. Ein Mäd­chen, mit dem sich mei­ne Toch­ter an­freun­de­te, war schon 59 Mal hier. Wei­ter­le­sen

FDR

»Das ame­ri­ka­ni­sche Au­ßen­mi­ni­ste­ri­um ver­kün­de­te, man be­fürch­te, dass eu­ro­päi­sche Im­mi­gran­ten dem Land ge­fähr­lich wer­den könn­ten. Es war der 17. Ju­ni 1941. Falls sie An­ge­hö­ri­ge zu­rück­ge­las­sen hät­ten, mut­maß­te das Sta­te De­part­ment, könn­ten die Na­zis sie zwin­gen, Ame­ri­ka aus­zu­spio­nie­ren, in­dem sie ih­ren Fa­mi­li­en Fol­ter an­droh­ten. Die Ver­einigten Staa­ten wür­den da­her kei­ne Vi­sa mehr an Flücht­lin­ge aus­ge­ben, die Familien­angehörige im be­setz­ten Eu­ro­pa hät­ten. Die­se Ent­schei­dung galt für Deutsch­land, die Nie­der­lan­de, Bel­gi­en, Nor­we­gen, Frank­reich, Po­len und die Bal­kan­län­der.«

(Ni­chol­son Bak­er: »Men­schen­rauch«, Ro­wohlt-Ver­lag, 1. Auf­la­ge 2009, S. 383)