Jac­cot­tets Grignan

Wie froh war ich in der Käl­te, als auf der Stra­ße zwi­schen Val­re­as und Grignan, ei­ner lan­gen Ge­ra­den durch ei­nen kur­zen Win­ter­nach­mit­tag, ein Wa­gen hielt. Ich wur­de mit­ge­nom­men von zwei Land­ar­bei­tern, die nach mei­nem À Grignan? so­gleich wei­ter­spra­chen, wäh­rend ich im Fond auf dem kal­ten, prall ge­spann­ten, wohl von Acker­er­de stau­bi­gen Kunst­stoff nicht recht wuss­te, wie ich mich ge­gen­über, oder ne­ben, der hin und her rol­len­den Zwie­bel ver­hal­ten soll­te, die im­mer wie­der dicht an mich her­an­kam. Viel­leicht wa­ren mei­ne Be­för­de­rer auch eher selb­stän­di­ge Land­wir­te, zu­min­dest was den ei­nen der bei­den an­ging. Sie un­ter­hiel­ten sich eif­rig über et­was das den Markt von Val­re­as be­traf. Auch von Bie­nen­kä­sten war die Re­de.

Hin­ter ei­nem Hö­hen­zug glitt der obe­re Teil ei­nes iso­liert ste­hen­den Turms vor­bei. Nach ei­ner Wei­le er­blick­te ich zwi­schen den Köp­fen die­ser bei­den so ein­deu­tig hie­si­gen Män­ner die Ort­schaft Grignan. We­der Dorf noch Städt­chen, ei­ne stein­haf­ti­ge Ve­du­te (wenn das Wort­spiel mit leib­haf­tig hier et­was Deut­lich­keit hin­zu­fü­gen kann); die Häu­ser dicht an­ein­an­der ge­drängt auf hal­ber Hö­he ei­nes Hü­gels, be­son­ders aber oben ent­lang, wie an­statt ei­nes Walls. Auf­fäl­lig, all die blan­ken Fen­ster, die aus der Hö­he dort ei­nen schö­nen Blick über die Fel­der bie­ten muss­ten. War es die Zwie­bel an mei­ner Sei­te, die mir ei­ne et­was mär­chen­haf­te Sicht­wei­se na­he­leg­te? Es war mir aber wirk­lich so, als be­kä­me je­ne Fen­ster­front in dem ge­ra­de herr­schen­den Licht selbst et­was Ge­sicht­ar­ti­ges, ja sie er­schien ge­ra­de­zu auf­merk­sam. Als wä­re all dies Glas nicht nur ein­ge­fasst, son­dern auch auf et­was ge­fasst — das sich zwi­schen den Bäu­men und Fel­dern dann na­tür­lich doch nie er­eig­ne­te. Es sei denn das Blin­ken ei­ner Axt, auf­ge­schrie­ben vor Jahr­zehn­ten von Jac­cot­tet, und das nun, in ei­ner an­de­ren Stun­de wohl, durch das Auf­blit­zen ei­nes Wa­gens in der Son­ne er­setzt wur­de.

Jac­cot­tet hat­te mir ein oder zwei Wo­chen vor­her in ei­nem Brief ei­ne al­te, noch in Se­pia­tö­nen ge­hal­te­ne An­sichts­kar­te ge­schickt. Die Ort­schaft, wie ich sie da aus dem fah­ren­den Wa­gen her­aus, lin­ker Hand, lin­ker Stützhand, hat­te hoch­wach­sen se­hen durch die Schei­be, war von ei­nem an­de­ren Zeit­ton, ent­sprach aber noch auf er­staun­li­che Wei­se dem al­ten Fo­to. So ge­nau ich das Se­pia­bild ge­mu­stert hat­te, mit all den Fas­sa­den, deut­li­chen Fen­stern und hier und da viel­leicht ei­ner schma­len, von et­was Ve­ge­ta­ti­on an­ge­zeig­ten Ter­ras­se: nir­gends war ein Pfeil oder Kreuz­chen des Schrei­bers aus­zu­ma­chen ge­we­sen. Nur im Brief gab es den Hin­weis, dass sein Haus sich auf eben die­ser Sei­te be­fän­de, und dass ich »ei­nes die­ser Ta­ge« vor­bei­schau­en kön­ne. Das Zei­chen wo­nach ich ge­sucht hat­te, ein Pfeil auf eins der Dä­cher je­ner Ve­du­te, wä­re üb­ri­gens zu nichts nüt­ze ge­we­sen, denn stracks dort­hin hät­te ich nicht an­ders als durch die Luft ge­lan­gen kön­nen — was aus dem schnell auf sie zu fah­ren­den Wa­gen ja fast ein we­nig der Fall war. Wei­ter­le­sen

Jub­liäums­tex­te

Am 30. Ju­ni wird der gro­ße Schrift­stel­ler Phil­ip­pe Jac­cot­tet 95 Jah­re alt. Vor fünf Jah­ren ha­be ich für »Glanz und Elend« ei­nen Text ver­fasst, der heu­er leicht an­ge­passt wur­de. Ich ste­he zu je­dem Wort.

Philippe Jaccottet: Sonnenflecken, Schattenflecken

Phil­ip­pe Jac­cot­tet:
Son­nen­flecken,
Schat­ten­flecken

Hier geht es zum Text »Der Dich­ter als Die­ner des Sicht­ba­ren«

Ei­ne Wür­di­gung ei­nes sei­ner Über­set­zer: »Zie­gen am Berg«








* * *

Zum 70. Grün­dungs­jub­liäum des Suhr­kamp-Ver­lags sind zwei Bän­de er­schie­nen.

Zum ei­nen ei­ne Aus­wahl von Es­says des Ver­lags­grün­ders Pe­ter Suhr­kamp. Und zum an­de­ren ei­ne Blü­ten­le­sen von 35 Rei­se­be­rich­ten (aus 1500!) von Sieg­fried Un­seld, dem Nach­fol­ger. Ich hat­te be­schlos­sen, die­se Bü­cher zu le­sen statt mich mit ei­ner Ge­burts­tags­hym­ne ab­zu­quä­len.

Peter Suhrkamp: Über das Verhalten in der Gefahr

Pe­ter Suhr­kamp: Über das Ver­hal­ten in der Ge­fahr

Hier mei­ne Be­mer­kun­gen zu den Es­says von Pe­ter Suhr­kamp.








Siegfried Unseld: Reiseberichte

Sieg­fried Un­seld:
Rei­se­be­rich­te

Und hier über die Rei­se­be­rich­te von Sieg­fried Un­seld.

Der schüch­ter­ne Blick auf die Pen­si­ons­gren­ze

Ein Freund hat­te mir ei­nen Text ge­schickt, den ich über­se­hen hät­te, denn er steckt hin­ter ei­ner so­ge­nann­ten »Be­zahl­schran­ke«. Ich neh­me an, er woll­te mich an­sta­cheln, aber weil er mich ganz gut kennt, leg­te er mir nicht na­he, ei­ne Re­plik zu ver­fas­sen, denn er weiß, dass ich das dann ge­ra­de nicht ma­che. Ich er­in­ner­te mich dun­kel. Am Sonn­tag hat­te der schei­den­de Bach­mann­preis-Ju­ror Hu­bert Win­kels die­sen Text ganz kurz er­wähnt. Es han­delt sich um Ri­chard Käm­mer­lings’ »Zehn Grün­de, war­um Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird«, pu­bli­ziert in der »Welt«.

Zu­nächst ein­mal ist in­ter­es­sant, dass in der Druck­ver­si­on und in der URL die Über­schrift ei­ne leicht an­de­re ist. Dort steht: »Zehn Grün­de, war­um un­se­re Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird.« (Her­vor­he­bung von mir.) Der Un­ter­schied ist nur auf den er­sten Blick mar­gi­nal. Das Pro­no­men »un­se­re« er­hebt ei­nen Be­sitz­an­spruch auf das, was man dort be­han­delt. Gleich­zei­tig nimmt es den Le­ser mit in das ima­gi­nä­re Boot. Es wird ei­ne Ge­mein­schaft be­schwo­ren. Und dann er­hebt es sei­nen Ver­fas­ser (und die Boots­in­sas­sen) als ei­ne Art Rich­ter.

Die »zehn Grün­de« ent­pup­pen sich bei nä­he­rer Lek­tü­re als ei­ne Zu­sam­men­stel­lung hin­läng­lich be­kann­ter Krit­te­lei­en, leicht ge­würzt mit dys­to­pi­schem Un­ter­ton, ei­ner Pri­se Ver­gan­gen­heits­ver­klä­rung und ei­nem kräf­ti­gen Schuss Co­ro­na-Wür­ze.

Der er­ste der Grün­de, war­um »un­se­re« Li­te­ra­tur im­mer be­deu­tungs­lo­ser wird ist, laut Käm­mer­lings, die »Buch­mes­se oh­ne Ver­la­ge«. Die­se wür­den die Frank­fur­ter Buch­mes­se im Herbst »im Stich las­sen«. »Buch­hal­ter­köp­fe« hät­ten die Macht über­nom­men. Dass es im Be­trieb ei­ne gro­ße An­zahl Men­schen gibt, die sich auch ei­ni­ge Mo­na­te nach ei­ner viel­leicht halb­wegs über­stan­de­nen Pan­de­mie nicht zehn Stun­den täg­lich in schlecht­durch­lüf­te­ten Mes­se­hal­len auf­hal­ten wol­len, kommt dem Au­tor nicht in den Sinn.

Es wird noch läp­pi­scher, wenn er dann vom »Schwei­gen der Au­toren« spricht. Nein, er meint nicht die fast un­zähl­ba­ren »Co­ro­na-Ta­ge­bü­cher«, die das Netz in den letz­ten Mo­na­ten über­schwemmt ha­ben. Er meint »Of­fe­ne Brie­fe« von Au­toren, bei­spiels­wei­se ge­gen das Schlie­ßen von Buch­hand­lun­gen, ge­gen Ama­zons Ver­sand­prio­ri­tä­ten­li­nie und die Ab­sa­ge der Leip­zi­ger Buch­mes­se. Nun, wer je­mals in Leip­zig war und nicht nur an Ver­lags­stän­den für ein Stünd­chen sei­ne Schnitt­chen und Wein ge­nos­sen hat, kann nur froh sein, dass die­se Mes­se aus­ge­fal­len ist. Egal, Käm­mer­lings be­schwört Frisch, Pe­ter Weiss und den »jun­gen Wal­ser«, die in ähn­li­cher Si­tua­ti­on si­cher­lich da­mals ei­nen »Marsch auf den Bon­ner Kanz­ler­bun­ga­low an­ge­führt hät­ten.« Wei­ter­le­sen

Lud­wig Fels: Mond­be­ben

Ludwig Fels: Mondbeben

Lud­wig Fels: Mond­be­ben

Ein Auf­bruch in ein neu­es Le­ben. He­len und Olav Ost­ran­der, viel­leicht ir­gend­wo in den 30ern oder 40ern. Er, frü­her In­kasso­ein­trei­ber im Mi­lieu, der He­len einst vor ih­rem Ehe­mann be­schütz­te, in dem er die­sen kran­ken­haus­reif schlug. Das war un­ver­hält­nis­mä­ßig und gab an­dert­halb Jah­re Ge­fäng­nis. Aber da schwo­ren sich die bei­den schon Treue, hei­ra­te­ten und als er aus dem Knast kam, muss­te He­len noch mal kurz weg. Sie kam zu­rück mit dem un­ver­hoff­ten Er­be des On­kels. Es muss viel Geld sein. Sie sa­hen im In­ter­net in ei­nem fer­nen, war­men, fik­ti­ven Land (Ka­ri­bik? Afri­ka?) ein Haus auf ei­ner vor­ge­la­ger­ten In­sel. Nein, es ist mehr als ein Haus, ein Traum­haus. Der neue An­fang. »Geld war das Ma­te­ri­al, mit dem sich die Exi­stenz pan­zern ließ, war fast schon ei­ne Dro­ge ge­gen den Tod.«

So be­ginnt »Mond­be­ben« von Lud­wig Fels. Fast ein biss­chen wie die­se Do­ku-So­aps über Aus­wan­de­rer, die ihr Glück in fer­nen Län­dern su­chen. Aber es wird dann doch eher ein Da­vid-Lynch-Film. He­len und Olav sind ein biss­chen wie Lu­la und Sail­or – und doch ganz an­ders. Ihr schnip­pi­scher Dia­log­stil ver­birgt nur ober­fläch­lich die Sehn­sucht, es ge­schafft und den rich­ti­gen ge­fun­den zu ha­ben. Der Rest des Le­bens soll sorg­los wer­den. Und so sind die ge­gen­sei­ti­gen Be­schwö­run­gen des Glücks be­son­ders am An­fang in­fla­tio­när, im­mer wie­der Ver­si­che­run­gen »wie schön dies ge­hei­me Glück war«, näm­lich »zum Ver­rückt­wer­den schön«, denn »bald wür­den die Ster­ne ih­re Lie­der sin­gen«.

Und den­noch schwingt von An­fang an so ein un­heil­vol­les Ge­fühl mit. Sor­ge, dass es nicht so wird. Si­cher, Olav trinkt ein biss­chen zu viel, sei­ne Hän­de zit­tern bis­wei­len. Die Hit­ze ist fast un­er­träg­lich und es ist das Land mit den welt­weit größ­ten Rat­ten. Als er im Ho­tel-Re­sort »Ro­se­milk«, in dem die bei­den bis zum Be­zug des Hau­ses un­ter­ge­bracht sind, der Pro­sti­tu­ier­ten As­sump­ta, die von ei­nem Gast ge­schla­gen wird, hilft, be­kommt der schö­ne Schein er­ste Ris­se. Der Ver­tre­ter der Im­mo­bi­li­en­fir­ma (der Mr Mo­ses heißt – über­haupt: die­se Na­men!), ist Olav un­sym­pa­thisch und er lässt es ihm auch an­mer­ken. He­len ist ru­hi­ger, möch­te ih­ren Frie­den. Omi­nös die In­struk­tio­nen zum Geld­trans­fer; der ih­nen vor­ge­stell­te »No­tar« wirkt halb­sei­den. He­len zahlt trotz­dem. Und das Dra­ma be­ginnt. Wei­ter­le­sen

Thor­sten Car­sten­sen (Hg.): Die täg­li­che Schrift

Thor­sten Car­sten­sen (Hg.): Die täg­li­che Schrift

Thor­sten Car­sten­sen: Ro­ma­ni­sches Er­zäh­len

»Nach Eu­ro­pa zu­rück­ge­kehrt, brauch­te ich die täg­li­che Schrift und las vie­les neu.« Den er­sten Satz aus Pe­ter Hand­kes Die Leh­re der Sain­te-Vic­toire hat Thor­sten Car­sten­sen als Grund­la­ge für den Ti­tel sei­nes Sam­mel­ban­des »Die täg­li­che Schrift« über »Pe­ter Hand­ke als Le­ser« ge­nom­men. Der Band er­schien im Herbst 2019 – ei­gent­lich ge­nau zur rich­ti­gen Zeit: Hand­ke hat­te den Li­te­ra­tur­no­bel­preis zu­ge­spro­chen be­kom­men. Aber das hy­per­ven­ti­lie­ren­de Feuil­le­ton hat­te nur Au­gen und Oh­ren für Hand­kes Ju­go­sla­wi­en-Tex­te. Statt sie zu le­sen wur­den sie zer­trüm­mert und der­art neu zu­sam­men­ge­setzt, dass das Fall­beil­ur­teil im (fal­schen) Zi­tat sei­ne Be­stä­ti­gung er­hielt. Für Hand­kes poe­to­lo­gi­sches Schaf­fen in­ter­es­sier­te sich nie­mand. Man war aus­rei­chend mit De­nun­zia­tio­nen be­schäf­tigt.

Fast na­tur­ge­mäß sind li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ar­bei­ten über das Œu­vre von Pe­ter Hand­ke bis­wei­len sper­rig, ih­re Lek­tü­re ist müh­sam, die Be­schäf­ti­gung ver­langt bis­wei­len auch vom Le­ser Kennt­nis der Pri­mär­tex­te. Thor­sten Car­sten­sen hat­te al­ler­dings 2013 mit sei­nem um­fang­rei­chen Band über Ro­ma­ni­sches Er­zäh­len ge­zeigt, dass man ver­ständ­lich und an­re­gend zu­gleich über Hand­ke re­fe­rie­ren kann. Sei­ne The­se ging da­hin, dass die ro­ma­ni­sche Bau­kunst des Mit­tel­al­ters als Vor­bild für Hand­kes Spät­werk an­ge­se­hen wer­den kann. Den gän­gi­gen Be­zeich­nun­gen der Werk­pha­sen wi­der­sprach Car­sten­sen sanft, aber be­stimmt: die sprach­kri­ti­sche Pha­se sei nie ganz ab­ge­schlos­sen ge­we­sen, son­dern ha­be sich nur »im Zei­chen der fran­zö­si­schen De­kon­struk­ti­on« ge­wan­delt. Den ho­hen Ton um die Lang­sa­me-Heim­kehr-Te­tra­lo­gie ha­be Hand­ke spä­ter zu Gun­sten ei­nes ge­las­se­ne­ren Er­zäh­lens ver­än­dert, oh­ne al­ler­dings von sei­nen Am­bi­tio­nen des »epi­schen Er­zäh­lens« ab­zu­las­sen, wel­ches »phä­no­me­no­lo­gi­sche Wahr­neh­mung, ge­schichts­phi­lo­so­phi­sche Re­fle­xi­on und äs­the­ti­sche Selbst­ver­ge­wis­se­rung zu ei­nem Ge­fü­ge ar­ran­giert«. Mit der Mo­ra­wi­schen Nacht kom­me auch im­mer mehr Selbst­iro­nie und ‑par­odie in Hand­kes Werk. Die »ro­ma­ni­sche Pha­se« Hand­kes ver­or­tet Car­sten­sen ab En­de der 1980er Jah­re, mit dem Er­schei­nen der drei Ver­su­che. Ob man die­ser Ein­schät­zung nun zu­stimmt oder nicht: wer über das Spät­werk Hand­kes ei­nen pro­fun­den Über­blick er­hal­ten möch­te, soll­te die knapp 30 Sei­ten der Ein­lei­tung von Ro­ma­ni­sches Er­zäh­len le­sen. Min­de­stens die­se.

[...]

Der »Hand­ke-Ka­non« zeigt ei­ne gro­ße äs­the­ti­sche Band­brei­te. Wie kann je­mand der Ger­hard Mei­er schätzt gleich­zei­tig Wolf­gang Welt gou­tie­ren? War­um hört man von Hand­ke eher Zu­rück­hal­ten­des von der Li­te­ra­tur Knaus­gårds, der doch ähn­lich wie Welt ein chro­no­lo­gi­sches und prak­tisch un­ge­schütz­tes Er­zäh­len prak­ti­ziert? Wel­che Kri­te­ri­en legt ein Vielleser wie Pe­ter Hand­ke bei der Lek­tü­re und »För­de­rung« von Au­toren an?

Ob­wohl Thor­sten Car­sten­sen in sei­ner Ein­lei­tung auf das »Ne­ben­ein­an­der von Pop-Kul­tur und Welt­li­te­ra­tur« bei Hand­ke zu spre­chen kommt, wer­den die­se Fra­gen im vor­lie­gen­den Band nur am Rand be­spro­chen. Tat­säch­lich geht es mehr um die Ein­flüs­se an­de­rer Au­toren und die in­ter­tex­tu­el­le Ver­ar­bei­tung des Ge­le­se­nen im Werk des Dich­ters. Schon in der Ein­lei­tung kommt Car­sten­sen auf den Ein­fluss Goe­thes zu spre­chen und be­grün­det, war­um sich der Öster­rei­cher durch­aus in des­sen Tra­di­ti­on ver­or­tet (und dies, ob­wohl in sei­nem Post-No­bel­preis­aus­spruch »Ich[…] kom­me von Tol­stoi, ich kom­me von Ho­mer, ich kom­me von Cer­van­tes« über­ra­schen­der­wei­se Goe­the nicht vor­kommt). Hand­kes »Ge­stus der Be­schwö­rung« ins­be­son­de­re seit den 1980er Jah­ren folgt der Idee, den (er­zähl­ten) Raum, der bei Goe­the noch vor­han­den war, aber in­zwi­schen – man darf an­neh­men durch die Mo­der­ne oder das, was Hand­ke da­für hält – ver­schüt­tet ist, für sich wie­der neu zu (er)schaffen. Hier wä­ren Hof­mannst­hals Brie­fe des Zu­rück­ge­kehr­ten wo­mög­lich er­wäh­nens­wert – ein Text, der Hand­ke mehr ge­prägt ha­ben dürf­te als der be­kann­te­re Chan­dos-Brief.

Den gan­zen Bei­trag » ‘...und las vie­les neu’ « hier bei Glanz und Elend le­sen

Mi­chel De­guy zum 90.

Mi­chel De­guy, am 25. Mai 1930 in Pa­ris ge­bo­ren, Dich­ter und Phi­lo­soph, Grün­der der Zeit­schrift Po&sie, ist ei­ner der be­deu­tend­sten fran­zö­si­schen Ly­ri­ker der Ge­gen­wart. Kürz­lich er­hielt er für sein Ge­samt­werk den Prix Gon­court de la poé­sie.

Leo­pold Fe­der­mair über­setz­te ei­ne Aus­wahl von Ge­dich­ten, er­schie­nen 2008 un­ter dem Ti­tel Ge­ge­bend bei Fo­lio in Bo­zen.




Mi­chel De­guy

Es ist nicht das­sel­be

Es ist nicht das­sel­be
Tür oder Tor
Trenn­wand oder Schutz­wall
Al­ko­ven oder Gar­ten
Lücke oder Zin­ne
Zim­mer oder Ter­ras­se

Däda­lus ein­mal baust du
um die Er­de zu pla­nie­ren
ein an­der­mal ein Nest zur Blei­be
Es ist nicht das­sel­be
das In­nen des Au­ßens
oder des In­nens

Aus dem Band „N’était le co­eur“ (2011). Über­setzt von Leo­pold Fe­der­mair.

Hier das Ori­gi­nal:


Mi­chel De­guy: Ce n’est pas la mê­me cho­se – © Mi­chel De­guy – Zeich­nung © Alain Le­stié

Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung von Mi­chel De­guy. © Ge­dicht Mi­chel De­guy – © Zeich­nung Alain Le­stié – © Über­set­zung Leo­pold Fe­der­mair

Ernst Lo­thar: Das Wun­der des Über­le­bens

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens

Ernst Lo­thar:
Das Wun­der des Über­le­bens

Als Ernst Lo­thar sei­ne Au­to­bio­gra­phie »Das Wun­der des Über­le­bens« pu­bli­zier­te, war er 70 Jah­re alt. 1890 als Lo­thar Ernst Mül­ler in Brünn ge­bo­ren (der Va­ter war Rechts­an­walt, die Mut­ter »hat­te sich das La­chen früh­zei­tig ab­ge­wöhnt«), sie­del­te die Fa­mi­lie (es gab noch zwei äl­te­re Brü­der, Ro­bert, der früh ver­starb und der 1882 ge­bo­re­ne Hanns, der spä­ter als Hans Mül­ler-Ei­ni­gen als Ly­ri­ker und Dra­ma­ti­ker re­üs­sier­te) 1904 nach Wien. Lo­thar stu­dier­te Ju­ra und Ger­ma­ni­stik und pro­mo­vier­te 1914 zum Dr. jur. Aus sei­nen Rei­se­plä­nen nach En­de des Stu­di­ums wur­de nichts. Der Krieg brach aus. Im­mer­hin: Lo­thar wur­de (war­um auch im­mer) für kriegs­un­fä­hig er­klärt und zu ei­nem Staats­an­walt als Ge­hil­fe nach Wels ver­setzt. Er hei­ra­te­te 1914 und die Töch­ter Aga­the (*1915) und Jo­han­na (*1918, ge­nannt »Han­si«) kom­plet­tier­ten die Fa­mi­lie. Lo­thar hat­te be­reits wäh­rend des Stu­di­ums mit dem Schrei­ben an­ge­fan­gen; erst Ge­dich­te, dann Ro­ma­ne. Aus sei­ner Schrift­stel­ler­tä­tig­keit re­sul­tiert die Än­de­rung des Na­mens.

Wenn man die im Zsol­nay-Ver­lag er­schie­ne­ne Neu­auf­la­ge der »Er­in­ne­run­gen« Ernst Lo­thars (so der Un­ter­ti­tel des Bu­ches) ge­le­sen hat, er­kennt man drei Mo­men­te, die sein Le­ben nicht nur ge­prägt, son­dern exi­sten­ti­ell er­schüt­tert ha­ben. Da ist zu­nächst der Zu­sam­men­bruch der Do­nau­mon­ar­chie Öster­reich-Un­garn 1918. Aus 53 Mil­lio­nen wer­den plötz­lich nur mehr 7 Mil­lio­nen, die sich Öster­rei­cher nen­nen (durf­ten). Die »Macht und Herr­lich­keit oh­ne Bei­spiel« der »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Eu­ro­pa« – so eu­pho­risch wird er im Rück­blick – ist zer­stört. Jetzt kann der Le­ser die Epi­so­de zu Be­ginn, die er­ste Kind­heits­er­in­ne­rung, bes­ser ein­ord­nen. Sie be­steht dar­in, dass Lo­thar ei­ne De­mon­stra­ti­on von Tsche­chen in sei­ner Ge­burts­stadt Brünn re­ka­pi­tu­liert, die für ei­ne Se­zes­si­on von Öster­reich-Un­garn ein­tre­ten. Jetzt ist es ein­ge­tre­ten: Sei­ne Hei­mat be­steht nur mehr als ein Tor­so. Er emp­fin­det es nichts we­ni­ger als ei­ne Ver­stüm­me­lung sei­nes Le­bens.

Als »sein« Land zu­sam­men­bricht, ist man im Buch auf Sei­te 30; noch wei­te­re 330 Sei­ten fol­gen. Und wer die­se Art von »hy­ste­ri­scher Lie­be«, wel­che »die Gren­zen des nor­ma­len Pa­trio­tis­mus« streift (so Da­ni­el Kehl­mann im Nach­wort) vor­ei­lig als Na­tio­na­lis­mus oder gar Chau­vi­nis­mus ab­tut, wird mit der wei­te­ren Lek­tü­re Schwie­rig­kei­ten ha­ben. Lo­thars Idea­li­sie­rung der k.u.k.-Monarchie ist nicht pri­mär po­li­tisch zu ver­ste­hen. Er macht sich kei­ne Mü­he, die po­li­ti­schen Im­pli­ka­tio­nen Öster­reich-Un­garns, die Struk­tu­ren der Min­der­hei­ten in dem Staats­ge­bil­de oder gar die Ur­sa­chen des Krie­ges zu ana­ly­sie­ren. Statt­des­sen sucht er nach dem Krieg Sig­mund Freud auf, um sich er­klä­ren zu las­sen, wie er den Ver­lust sei­ner Hei­mat über­win­den kön­ne. Die Ant­wort Freuds in der Be­schrei­bung die­ses Ge­sprächs ist ei­ner der Hö­he­punk­te des Bu­ches. Wei­ter­le­sen

An­drzej Sta­si­uk: Bes­ki­den-Chro­nik

Andrzej Stasiuk: Beskiden-Chronik

An­drzej Sta­si­uk:
Bes­ki­den-Chro­nik

End­lich wie­der ein neu­es Buch von An­drzej Sta­si­uk. »Bes­ki­den-Chro­nik« heißt es, 2018 in Po­len erst­mals er­schie­nen. Sta­si­uk wohnt ja ir­gend­wo in den Bes­ki­den, an der pol­nisch-slo­wa­ki­schen Gren­ze, in ei­nem Haus oh­ne Fern­se­hen (aber mit WLAN), ei­nem Holz­ofen und ei­ni­gen Scha­fen. Ver­sam­melt sind 76 Feuil­le­tons auf fast 300 Sei­ten, »Nach­rich­ten aus Po­len und der Welt«, so der Un­ter­ti­tel, die Sta­si­uk in den 2010er-Jah­ren für die pol­ni­sche Wo­chen­zeit­schrift »Ty­god­nik Pow­s­zech­ny« ge­schrie­ben hat. Über­setzt wur­den sie wie­der ein­mal von der fa­bel­haf­ten Re­na­te Schmid­gall.

Es sind zu­meist »4000-Zeichen«-Texte, drei­ein­halb, vier Sei­ten; nur we­ni­ge sind län­ger (die aus­führ­lich­ste hat 14 Sei­ten). Sta­si­uk bleibt sich auch hier treu: Er schreibt von »mei­nem Land« (ge­meint ist Po­len – be­zie­hungs­wei­se, wenn er dann ge­ra­de da ist, Ka­sach­stan oder die Mon­go­lei), be­ob­ach­tet die Vö­gel, die in klir­ren­der Käl­te an sei­nem Haus über­win­tern (und bin­nen vier Wo­chen 10 kg Son­nen­blu­men­ker­ne und ei­ni­ge Schei­ben Speck kon­su­miert ha­ben), är­gert sich, in sei­ner Ju­gend se­ri­ös nur an­dert­halb Mo­na­te Rus­sisch ge­lernt zu ha­ben, er­zählt von den Ge­rü­chen der un­ter­schied­li­chen Holz­ar­ten, die in sei­nem Ofen ver­bren­nen, er­in­nert sich an ei­nen or­tho­do­xen Trau­er­got­tes­dienst, be­sucht Fried­hö­fe, spricht dort Grab­ge­be­te (be­we­gend sei­ne Epi­ta­phe wie bei­spiels­wei­se auf sei­nen Freund Ma­ri­usz Kar­gal), ent­deckt Kauf­häu­ser mit »lu­zi­fe­ri­schen« Lich­ter­ket­ten als Zu­fluchts­or­te für die Al­ten, die sich zwar nichts kau­fen kön­nen, aber ei­nen Platz ha­ben, be­rich­tet von ei­ner Le­sung, in der die Zu­schau­er per­ma­nent wech­sel­ten (er fand das nicht so schlecht), re­det mit sei­nen Scha­fen oder setzt ei­nen »last call« zu ei­nem von ihm auf­ge­ga­bel­ten slo­wa­ki­schen Jagd­hund, den er auf­ge­pep­pelt hat. Sta­si­uk lobt »die Er­eig­nis­lo­sig­keit der Ta­ges­zeit« ist je­doch auch fas­zi­niert von »großflächige[m] Nichts« in der Step­pe. Er ist be­gei­stert vom »Wun­der des Ok­to­bers«. Und er preist den Früh­ling, der end­lich die­se »lan­gen Fe­bru­ar­ta­ge« mit Näch­ten von mi­nus 20 Grad ab­löst.

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Den gan­zen Bei­trag »Elo­gen an den Au­gen­blick« hier bei Glanz und Elend le­sen