Wie froh war ich in der Kälte, als auf der Straße zwischen Valreas und Grignan, einer langen Geraden durch einen kurzen Winternachmittag, ein Wagen hielt. Ich wurde mitgenommen von zwei Landarbeitern, die nach meinem À Grignan? sogleich weitersprachen, während ich im Fond auf dem kalten, prall gespannten, wohl von Ackererde staubigen Kunststoff nicht recht wusste, wie ich mich gegenüber, oder neben, der hin und her rollenden Zwiebel verhalten sollte, die immer wieder dicht an mich herankam. Vielleicht waren meine Beförderer auch eher selbständige Landwirte, zumindest was den einen der beiden anging. Sie unterhielten sich eifrig über etwas das den Markt von Valreas betraf. Auch von Bienenkästen war die Rede.
Hinter einem Höhenzug glitt der obere Teil eines isoliert stehenden Turms vorbei. Nach einer Weile erblickte ich zwischen den Köpfen dieser beiden so eindeutig hiesigen Männer die Ortschaft Grignan. Weder Dorf noch Städtchen, eine steinhaftige Vedute (wenn das Wortspiel mit leibhaftig hier etwas Deutlichkeit hinzufügen kann); die Häuser dicht aneinander gedrängt auf halber Höhe eines Hügels, besonders aber oben entlang, wie anstatt eines Walls. Auffällig, all die blanken Fenster, die aus der Höhe dort einen schönen Blick über die Felder bieten mussten. War es die Zwiebel an meiner Seite, die mir eine etwas märchenhafte Sichtweise nahelegte? Es war mir aber wirklich so, als bekäme jene Fensterfront in dem gerade herrschenden Licht selbst etwas Gesichtartiges, ja sie erschien geradezu aufmerksam. Als wäre all dies Glas nicht nur eingefasst, sondern auch auf etwas gefasst — das sich zwischen den Bäumen und Feldern dann natürlich doch nie ereignete. Es sei denn das Blinken einer Axt, aufgeschrieben vor Jahrzehnten von Jaccottet, und das nun, in einer anderen Stunde wohl, durch das Aufblitzen eines Wagens in der Sonne ersetzt wurde.
Jaccottet hatte mir ein oder zwei Wochen vorher in einem Brief eine alte, noch in Sepiatönen gehaltene Ansichtskarte geschickt. Die Ortschaft, wie ich sie da aus dem fahrenden Wagen heraus, linker Hand, linker Stützhand, hatte hochwachsen sehen durch die Scheibe, war von einem anderen Zeitton, entsprach aber noch auf erstaunliche Weise dem alten Foto. So genau ich das Sepiabild gemustert hatte, mit all den Fassaden, deutlichen Fenstern und hier und da vielleicht einer schmalen, von etwas Vegetation angezeigten Terrasse: nirgends war ein Pfeil oder Kreuzchen des Schreibers auszumachen gewesen. Nur im Brief gab es den Hinweis, dass sein Haus sich auf eben dieser Seite befände, und dass ich »eines dieser Tage« vorbeischauen könne. Das Zeichen wonach ich gesucht hatte, ein Pfeil auf eins der Dächer jener Vedute, wäre übrigens zu nichts nütze gewesen, denn stracks dorthin hätte ich nicht anders als durch die Luft gelangen können — was aus dem schnell auf sie zu fahrenden Wagen ja fast ein wenig der Fall war.
Hinter der Front der äußeren Häuser, auf der besser zugänglichen Seite mit ihren Rampen, kleinen Plätzen, und Gassen, hätte mir wohl mehr als einer sagen können wo sich das Haus der Jaccottes befindet. So aus dem Hintergrund hatte ich die beiden Männer gefragt, ob sie einen Monsieur Jaccottet kennen würden; was ohne jedes Zögern bejaht worden war. Den Kopf an der Scheibe, die Zwiebel rundweg unter meinem linken Schenkel, war mir dann unglücklicherweise eingefallen, während Grignan schnell näherkam, auch noch zu fragen ob sie mir zeigen könnten, wo ungefähr sein Haus wäre. Ich hatte an eine rasche Geste des Fahrers gedacht, seine linke Hand mehr zu dem einen oder anderen Eck, oder eher in die Mitte der Ortschaft deutend. Aber es war nicht zu dem gewünschten Hinweis gekommen. Die beiden hatten auf einmal fast belustigt geklungen: sie würden ja gerade zu den Jaccottets fahren, und ich könne bis zum Haus mitkommen. Da hätte ich nun gleich reagieren, etwas sagen müssen. Aber schon war das schnelle, überaus ortskundige Hinauffahren im Gange, im gewechselten, anders eingelegten Getriebegang. Schon wurde auch recht unbeschwert geparkt und, nach vier fünf Schritten, an einer Haustür geklingelt.
Unmöglich nun, wie vorgesehen, erst anzurufen und zu fragen, ob mein Besuch am nächsten oder übernächsten Tag recht wäre. Mein Plan war gewesen, erst am folgenden Tag vorzusprechen, nach einem Anruf (das Mindeste an Höflichkeit) mittels des Fernsprechers, der, wie ich von einer früheren Erkundung Grignans wusste, an der Wand des Gastraums jenes Hotels hing, wo ich die Nacht verbringen wollte.— Und nun das. Drei Männer, eine wahre Ansammlung, vor Jaccottets Haustür. Eine ganze Weile tat sich erst einmal nichts.
Der Fahrer hatte zwei besonders große saftiggrüne Kopfsalate hervorgeholt, mitten im Winter ein kleines Wunder, gewirkt vielleicht in einem Glashaus oder unter durchsichtiger Plane. Der nun herausgekommenen, sie sehr freundlich begrüßenden Frau wurden die wohl bestellten Exemplare überreicht, und nun schloss sich in der engen Gasse vor der offenen Haustür, Winter oder nicht, ein längeres Gespräch an zwischen den dreien, bei dem verschiedenes Gemüse mit den in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten sowohl der Beschaffung als auch der jeweiligen Eigenheiten des Geschmacks minutiös erörtert wurde, während ich, daneben stehend, ganz in Vergessenheit geriet. Da zeigte sich also einmal die schlichte Wahrheit dieses Ausdrucks »In Vergessenheit geraten«. Sonst war er mir immer auf interessante Weise doppeldeutig vorkam, je nach dem welches Wort man betonte. Ich legte die Betonung gern auf das letzte Wort: »in Vergessenheit geraten«; dachte dabei in völlig ungerechtfertigtem Stolz an meine verschiedenen Produkte: von einer Art, »die gerade, ja, überhaupt nur, fernab, im Vergessensein, gedeihen könnte«. Wie man sich täuschen kann…
Ein erstaunlich langes Gespräch war das, vor der Haustür dort in Grignan. Ganz am Schluss erst, schon im Gehen, fiel einem der beiden Männer ein, dass sie jemand hergebracht hatten. »Ah oui, il y a un Monsieur ici…« Anne-Marie Jaccottet, denn sie war es, der jene besonders schönen, frischgrünen Salatköpfe gebracht worden waren, rief nun ins Haus zurück, da sei ein Monsieur… Ort... Und eine Stimme von unten im Haus war ohne Verzug zu hören. Worte von unten herauf. Noch bevor ihr Sinn klar wurde, machten sie etwas Raumhaftes deutlich: die in den Hang gebaute, eigentümlich senkrechte Hausstruktur. Ihr gemäß konnte, was sich in Gassenhöhe befand — also die Diele oder das anschließende Zimmer — gar nicht als Parterre bezeichnet werden, da man erst nach vielen Stufen den schmalen Terrassen-Grund ganz unten erreichte. Die Stimme kam wohl nicht von dort, sondern aus einem Raum in der Mitte des vertikalen Gehäuses, dieses inneren Turms. So wie ich sie hörte, wurde sie nicht etwa dumpf durch das heraufdurchquerte Hausvolumen, sondern blieb eher hell, dabei aber eigentümlich rau, »angeraut«.
Die beiden Salat-und-Fremden-Bringer hatten sich verabschiedet, auch von mir mit einem leichten Heben der Hand. Ich wurde über die Treppe in einen überraschend großen Raum geführt, mit hohen Fenstern, Bildern an den Wänden, mitten im Winter sehr viel Licht. Jaccottet war die Freundlichkeit selbst und bereitete gleich einen café, so gut, dass er sich nicht anders schreiben und aussprechen lässt. Den subtilen Geschmack habe ich wohl auch deshalb nicht vergessen, weil er das konzentrierte Gegenteil, die willkommene Gegensubstanz jenes grünen Salats war, an dem mich die bloße Situation zur Schnecke gemacht hatte.
Von unserm Gespräch habe ich keine Aufzeichnungen. Es ist mir auch kaum etwas in Erinnerung geblieben, wahrscheinlich weil ich selbst, wie immer, zuviel gesprochen hatte. Was mir jedoch ganz gegenwärtig blieb, ist ein Aquarell von Anne-Marie Jaccottet. Es stellte Feigen dar, lauter blaue, herausgerollt aus einem auf dem Tisch umgelegten länglich-eckigen Korb aus dünnstem Spanholz, wie er einem früher nicht selten, voller Feigen, ohne nochmaliges Abwiegen, vom Marktstand weg überlassen wurde. So wie der den Korb überspannende Henkel-Bogen dargestellt war, erinnerte er mich an die Monats-Firmamente jenes Stundenbuchs, das man unter dem Namen Les Très Riches Heures du Duc de Berry kennt. Ähnlich ist vielleicht an vielen — eigentlich allen — Seiten von Jaccottets Prosa-Büchern und Gedichtbänden ein nachtblaues Gewölbe mitzudenken: skizziert daran, immer wieder, Sternbilder in ihrem Aufgang und Vorüber, solche die dem Dichter nahe sind; jedem seiner Leser werden hier mehrere einfallen.
Nach der kurz zuvor durchrollten Strecke vor Grignan war mir von jenem Stundenbuch voller Lapislazuli-Blaus besonders die Februar-Seite eingefallen Auf dieser Winter-Darstellung sieht man einen Mann mit seinem Esel an einem verschneiten Abhang, wie sie mühsam vorankommen auf der langen steilen Geraden, die an dem Hang hoch zu einem abgelegenen Dorf führt. Bei einem Gehöft, sieht man eine Reihe schneebedeckter Bienenkörbe; und ganz am Rand, einen festgefügten Turm, wie er dicht neben einem solchen balkigen, scheunenartigen Gebäude eigentlich nichts zu suchen hat. Im Bildteil darüber sitzt unter ineinander gespannten, geschachtelten, vertieften Sternenbögen eine männliche Gestalt auf einem von geflügelten Pferden gezogenen Wagen und balanciert dabei, ohne lenken zu müssen, die Sonne, die — ich erfinde nichts — einer mächtige Zwiebel gleicht.
Bei meinen freundlichen Gesprächspartnern in dem winterhellen Innenraum von soviel Schönem umgeben wie ich dort war, ließ mich wohl mein Sinn für die vergehende Zeit ein wenig im Stich. Im Nachhinein schien mir, ich hätte davon etwas zuviel in Anspruch genommen. Und dann wollte ich ja selbst noch zeichnen »vor Grignan«. Ich kam auch noch dazu, zwei knappe Stunden lang in der kalten Landschaft unten, wo jedoch kein Schnee mehr lag. Vom Skizzieren eines trocken raschelnden Maisfelds aufblickend, sah ich einen Schneerest am Berg Lance, wie er einmal wunderbar, ganz ohne Blei, von Jaccottet »herübergeholt« worden war:
…cette neige, hermine enfuie.
Ein flüchtendes, gleich verschwundenes Hermelin. Als ich mich ein letztes Mal umwandte im Gelände und durch einen kahlen Baumwipfel zurückblickte war das Wieselwesen drauf und dran, die Cheshiresche Fast-Unsichtbarkeit zu erlangen. Nur sein Brustfleck schien noch eine Weile in der Schwebe. Und dann sah ich nur noch — so wahr Grignan, Valreas, Truinas, Beauregard in einem schönen, südlichen Cheshire liegen — sein langgeschwungenes, geschlossen bleibendes, spöttisches Lächeln.
© Sander Ort