Pe­ter Hand­ke: Mein Tag im an­de­ren Land

Im letz­ten Ka­pi­tel sei­ner im Som­mer 2020 neu über­ar­bei­te­ten Han­d­ke-Bio­­­gra­­phie »Mei­ster der Däm­me­rung« hat­te Mal­te Her­wig viel­leicht et­was in­dis­kret aus dem Werk­statt­käst­chen des Schrift­stel­lers ge­plau­dert. Pe­ter Hand­ke wol­le »noch« ei­ne »Dä­mo­nen­ge­schich­te« schrei­ben, so schreibt Her­wig. Wo­mög­lich in An­leh­nung an Ge­schich­te des Be­ses­se­nen von Ge­ra­sa aus dem Mar­­kus-Evan­­ge­­li­um (5,1–20), der von Je­sus von sei­nen Dä­mo­nen be­freit ...

Wei­ter­le­sen ...

Kom­mu­ni­ka­ti­on: ge­stört

Der Dra­ma­turg und Au­tor Bernd Ste­ge­mann wid­met sich in sei­nem neue­sten Buch »Die Öf­fent­lich­keit und ih­re Fein­de« mit al­ler ge­bo­te­nen Aus­führ­lich­keit dem ak­tu­el­len Sta­tus quo des­sen, was man Kom­mu­ni­ka­ti­ons- oder auch Dis­kurs­ge­sell­schaft nennt und be­schreibt, wie Ent­wick­lun­gen aus den USA auch in Deutsch­land im­mer mehr Fuß fas­sen. Die glei­che The­ma­tik be­han­delt »Ge­ne­ra­ti­on be­lei­digt«, ein viel be­ach­te­tes Buch der fran­zö­si­schen Jour­na­li­stin Ca­ro­li­ne Fou­rest, die sich ein­deu­tig als Ak­ti­vi­stin u. a. für LGBTQ-Rech­te stark macht und aus ei­ner fe­mi­ni­sti­schen Po­si­ti­on her­aus ar­gu­men­tiert. Ste­ge­mann be­gnügt sich nicht mit ei­ner Zu­stands­be­schrei­bung, son­dern führt aus, wie dies den Um­gang mit den tat­säch­li­chen, exi­sten­ti­el­len Pro­ble­men des An­thro­po­zäns (Kli­ma­wan­del, Um­welt­ver­schmut­zung, so­zia­le Un­gleich­heit, Mi­gra­ti­ons­strö­me) nicht nur hemmt, son­dern ver­un­mög­licht. Sein Buch steht im Zen­trum die­ser Be­spre­chung.

Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Bernd Ste­ge­mann: Die Öf­fent­lich­keit und ih­re Fein­de

Zu­nächst un­ter­schei­det er zwi­schen den gän­gi­gen Kon­zep­ten der spät­mo­der­nen Ge­sell­schafts­be­schrei­bung: »Auf der ei­nen Sei­te gibt es die Sy­stem­theo­rie, die er­klärt, dass je­des Sy­stem ei­nen blin­den Fleck braucht, um funk­tio­nie­ren zu kön­nen, und die zu­gleich re­flek­tiert, dass Fort­schritt nur da­durch mög­lich ist, dass al­le Sy­ste­me wech­sel­wei­se ih­re blin­den Flecken kri­ti­sie­ren. Auf der an­de­ren Sei­te ste­hen die My­then­er­fin­der und Fun­da­men­ta­li­sten, die ih­ren ei­ge­nen blin­den Fleck ver­leug­nen und je­den Hin­weis dar­auf als An­griff auf ih­re Iden­ti­tät zu­rück­wei­sen.«

Neo­li­be­ra­lis­mus und In­di­vi­dua­lis­mus

Wie konn­te es so­weit kom­men? Ste­ge­mann cha­rak­te­ri­siert die Post­mo­der­ne als »Er­zäh­lung ei­nes ra­di­ka­len In­di­vi­dua­lis­mus«. Da­mit war, spä­te­stens nach dem Zu­sam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus 1989/90, der Weg frei für das, was er »Neo­li­be­ra­lis­mus« nennt. Er ver­wen­det den Be­griff nicht in sei­ner ur­sprüng­li­chen Be­deu­tung, dem ordo-li­be­ra­len Wirt­schafts­sy­stem à la Wal­ter Eucken. Neo­li­be­ra­lis­mus ist für ihn Syn­onym für den ent­fes­sel­ten, gren­zen­lo­sen, glo­ba­li­sier­ten Ka­pi­ta­lis­mus, der un­ter­schwel­lig die Prio­ri­tä­ten in Ge­sell­schaft und Po­li­tik be­stimmt. Er wird zur Ur­quel­le ei­ner sich im­mer wei­ter spal­ten­den Ge­sell­schaft, de­ren Fol­gen bis hin­ein in die öf­fent­li­che Dis­kur­se spür­bar sind.

Wei­ter­le­sen ...

Die Kunst des Auf­ge­bens V

(← IV)

Noch ein Nach­spiel

Es war im­mer noch früh, und so be­schloß ich, in Mit­a­ki aus­zu­stei­gen. Seit lan­gem will ich mir die­sen, wie ich oft sa­gen hör­te, spi­ri­tu­el­len Ort an­se­hen. Ich war schon ein­mal hier ge­we­sen, oder doch in der Nä­he, mit mei­ner Toch­ter, als sie klein war. Der Na­me Mit­a­ki be­deu­tet »drei Was­ser­fäl­le«. Schon da­mals hat­te ich mir ge­sagt, ich möch­te doch zu gern wis­sen, ob es sich um ei­nen drei­tei­li­gen Was­ser­fall han­delt oder wirk­lich um drei von­ein­an­der ge­trenn­te, ver­schie­de­ne. Der Auf­stieg bis zur hei­li­gen Zo­ne ist et­was müh­sam, nicht so sehr we­gen der Steil­heit des Ge­län­des als we­gen des Asphalts und den sich gar so hin­zie­hen­den Kur­ven. Die Be­su­cher kom­men im Au­to hier­her, ei­ni­ge we­ni­ge auch im Li­ni­en­bus. Es gibt da wie­der ein­mal ei­ne Ga­be­lung, links geht es zum Wald­spiel­platz und zum Na­tur­mu­se­um für Kin­der, rechts zum Tem­pe lare­al. Yo­ko­hat­te sich na­tur­ge­mäß für das Spiel ent­schie­den, ge­gen bud­dhi­sti­sche Be­schau­lich­keit, und sie war so oft die lan­ge, dem Ge­län­de sich an­schmie­gen­de blaue Rut­sche hin­un­ter­ge­glit­ten und hat­te sämt­li­che Ge­schick­lich­keits­par­cours, Klet­ter­wän­de und Hän­ge­brücken aus­pro­biert, bis sie völ­lig er­schöpft und es Zeit zur Heim­rei­se war.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

Wei­ter­le­sen ...

Pa­trick Mo­dia­no: Un­sicht­ba­re Tin­te

Be­reits 1978, im Prix-Gon­­court-prä­­mier­ten Ro­man »Rue des Bou­ti­ques Ob­scu­res« (1979 Deutsch von Ger­hard Hel­ler: »Die Gas­se der dunk­len Lä­den«), kommt bei Pa­trick Mo­dia­no die De­tek­tei Hut­te vor. Und nun, im neue­stem auf deutsch er­schie­ne­nen Buch »Un­sicht­ba­re Tin­te« (Über­set­zung Eli­sa­beth Edl), er­in­nert sich ein Ich-Er­­zäh­­ler mit dem Na­men Jean Ey­ben an sei­ne kur­ze Tä­tig­keit bei die­ser ...

Wei­ter­le­sen ...

Die Kunst des Auf­ge­bens IV

(← III)

Nach­spiel

Da ich mit Dai­ko­ku nun ein­mal ver­traut, wenn nicht so­gar ver­trau­lich ge­wor­den war, konn­te ich nicht um­hin, den Schrein auf­zu­su­chen, der sei­nen Na­men trug. Er war mir auf der Land­kar­te auf­ge­fal­len, lag noch in un­se­rer Re­gi­on, aber ziem­lich weit weg von mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung. Ich konn­te ihn nur mit der Ei­sen­bahn er­rei­chen, stieg am Haupt­bahn­hof von Hi­ro­shi­ma in ei­nen Wag­gon der mir recht ver­trau­ten Ka­be-Li­nie um.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens IV – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens IV – © Leo­pold Fe­der­mair

Der Ort selbst hieß Bai­rin, al­so Pflau­men­hain; noch ein Grund für mich, hin­zu­fah­ren. Ich stieg an ei­nem wah­ren Pro­vinz­bahn­hof aus, kaum mehr als ei­ne Hal­te­stel­le, mit We­gerl ne­ben dem ein­zi­gen Ge­leis, das der Bahn­steig für ein paar Me­ter in zwei ga­bel­te. Da­bei wur­de der Raum jen­seits des Ge­lei­ses, stadt­sei­tig, von ei­nem weit­läu­fi­gen Ein­kaufs­zen­trum mit den üb­li­chen fen­ster­lo­sen Kä­sten und Ku­ben ein­ge­nom­men, wäh­rend ge­gen­über die be­wal­de­ten Ber­ge als­bald steil an­stie­gen. Auf der Kar­te hat­te ich er­kannt, daß ich ein Stück­weit ge­gen die Fahrt­rich­tung zu ge­hen hat­te, und war über­rascht, als der Schrein, bes­ser: das Schrein­chen schon nach we­ni­gen Schrit­ten vor mir auf­tauch­te. Be­drängt von ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus, zwei da­vor ge­park­ten Au­tos und lau­ter Ra­dio­mu­sik, schien es sich dünn zu ma­chen wie je­mand, der den Bauch ein­zieht – ein Ein­druck, den die vie­len klei­nen, an Obe­lis­ken er­in­nern­den Schrift­säul­chen, die ihn um­frie­de­ten, noch ver­stärk­te. Ich ging ein‑, zwei­mal um ihn her­um. Von Dai­ko­ku kei­ne Spur, über­haupt kei­ne ein­zi­ge Sta­tue, nur die üb­li­che Lee­re im Ta­ber­na­kel. Der Kra­nich im Gie­bel­feld, die Flü­gel über Wel­len oder Wol­ken aus­ge­brei­tet, war die ein­zi­ge Ver­bin­dung zu mei­ner Be­geg­nung mit der lu­sti­gen Gott­heit in Ogu­ra. Im­mer­hin!

Wei­ter­le­sen ...

Chri­sti­an Kracht: Eu­ro­trash

Ich ge­ste­he, dass ich nach der Pres­se­mit­tei­lung des Ver­lags vom De­zem­ber letz­ten Jah­res, in der an­ge­kün­digt wur­de, dass Chri­sti­an Kracht mit »Eu­ro­trash« ei­ne Fort­set­zung von »Fa­ser­land« ge­schrie­ben ha­be und die ei­ni­ge Feuil­­le­­ton-Re­­dak­teu­­re prak­tisch eins-zu-eins über­nom­men hat­ten, »Fa­ser­land« noch ein­mal le­sen muss­te. Ich hat­te von der Lek­tü­re nichts mehr be­hal­ten, was, wie vie­le glau­ben, an mir ...

Wei­ter­le­sen ...

Die Kunst des Auf­ge­bens III

(← II)

Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

Wei­ter­le­sen ...

Mar­tin Mo­se­bach: Krass

Der neue Ro­man von Mar­tin Mo­se­bach trägt den Ti­tel »Krass«. Ist der be­hut­sa­me Sprach­ar­tist jetzt in den Ju­gend­jar­gon ab­ge­drif­tet? Nein, man braucht sich kei­ne Sor­gen zu ma­chen: »Krass« ist der Na­me sei­nes Prot­ago­ni­sten, der Haupt­fi­gur des Ro­mans (erst spä­ter fragt man sich, ob er wirk­lich die Haupt­fi­gur ist, aber ge­mach). Wie­der so ei­ne Mosebach’sche Na­mens­schöp­fung, ...

Wei­ter­le­sen ...