Zoom auf den Epo­chen­ver­schlep­per

Schreibheft 105
Schreib­heft 105

Neu­es und Al­tes über und von Gre­gor von Rezz­ori

An­lass­los fin­det sich im neu­en Schreib­heft von Nor­bert Wehr un­ter an­de­rem ein Dos­sier über den 1998 ver­stor­be­nen Gre­gor von Rezz­ori, ku­ra­tiert von Jo­sé Aní­bal Cam­pos und Jan Wilm. Ge­bo­ren wur­de von Rezz­ori 1914 in Czer­no­witz, da­mals Teil der Habs­bur­ger Mon­ar­chie. Nach dem Er­sten Welt­krieg fiel die Bu­ko­wi­na vor­über­ge­hend an Ru­mä­ni­en, spä­ter wur­de sie von Sta­lin ein­ver­leibt. Von Rezz­ori, der fünf Spra­chen flie­ßend be­herrsch­te, pen­del­te zwi­schen Öster­reich und Ru­mä­ni­en, stran­de­te schließ­lich En­de der 1930er Jah­re als de fac­to Staa­ten­lo­ser in Ber­lin und be­gann zu schrei­ben. Zum En­de des Krie­ges ver­ließ er Ber­lin nach Schle­si­en. Von da aus floh er vor den Rus­sen und wur­de mit et­was Glück Mit­ar­bei­ter des NWDR. In den 1950er Jah­ren er­fand er sein fik­ti­ves »Ma­ghre­bi­ni­en«, ein Phan­ta­sie­land mit star­ken Be­zü­gen auf sei­ne ehe­ma­li­ge Hei­mat und, wie es im Schreib­heft heißt, »mit­un­ter pi­kar­esken iro­ni­schen Ele­gi­en auf ein ver­sun­ke­nes Mit­tel­eu­ro­pa«. (Ei­ni­ge Ein­blicke in die­ses Ma­ghre­bi­ni­en lie­fert ein Vor­trag aus 2017 von Ju­rij An­drucho­wytsch ). Wie so oft wur­de Er­folg auch Bür­de. Sei­ne spä­te­re Pro­sa nahm man ins­be­son­de­re im deutsch­spra­chi­gen Raum nicht be­son­ders ernst. Von Rezz­ori wur­den Images ver­passt, Mär­chen­on­kel und Le­be­mann et­wa, spä­ter dann »Grand­sei­gneur«. Mein­te man es gut, nann­te man ihn »Epo­chen­ver­schlep­per«, ei­ne Be­zeich­nung, die er für sich selbst ge­fun­den ha­ben will. Da­mit sei »das ana­chro­ni­sti­sche Über­lap­pen von Wirk­lich­keits­ele­men­ten, die spe­zi­fisch ei­ner ver­gan­ge­nen Epo­che an­ge­hö­ren, in die dar­auf­fol­gen­de« ge­meint, so sei­ne De­fi­ni­ti­on.

Ei­ne Ti­tel­ge­schich­te im Spie­gel in den 1960er Jah­ren fiel we­nig schmei­chel­haft für ihn aus und soll­te das Bild über ihn vie­le Jah­re be­stim­men. Je­der kann­te ihn und er kann­te je­den; ei­ne Art »Ze­lig« des Kul­tur­be­triebs. Seit Mit­te der 1960er Jah­re wohn­te er mit sei­ner drit­ten Frau in ei­nem von ihm suk­zes­si­ve re­no­vier­ten An­we­sen in der Tos­ka­na. Ne­ben Il­lu­strier­ten-Ar­ti­keln (er selbst nann­te es »jour­na­li­sti­sche Pro­sti­tu­ti­on«), Feuil­le­tons und Ro­ma­nen schrieb er auch Film-Dreh­bü­cher und trat als Ge­le­gen­heits­schau­spie­ler auf, ob­wohl er kein Ci­ne­ast war. In Vi­va Ma­ria von Lou­is Mal­le et­wa als Zau­be­rer. Über die Dreh­ar­bei­ten in ei­ner fünf­mo­na­ti­gen Zeit­kap­sel, den Re­gis­seur Lou­is Mal­le, die bei­den Haupt­dar­stel­le­rin­nen Jean­ne Mo­reau und Bri­git­te Bar­dot, die Art und Wei­se, wie ein Film ent­steht und sei­ne Rol­le im In­tri­gen­sta­del hat er ein lau­ni­ges Ta­ge­buch ge­führt, dass zu­nächst aus­schnitt­wei­se in drei ver­schie­de­nen Me­di­en er­schien und dann ge­sam­melt un­ter dem Ti­tel Die To­ten auf ih­re Plät­ze. Li­te­ra­risch wird es im­mer dann, wenn er von der Wei­te Me­xi­kos er­zählt, je­nes Lan­des, das er schon zu Be­ginn zum Bal­kan Ame­ri­kas er­klär­te.

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Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 2

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Ich möch­te der er­sten, heil­los un­voll­stän­di­gen Li­ste der Au­to­ma­ti­sie­run­gen ei­ne ganz an­de­re ge­gen­über­stel­len, die Li­ste der mensch­li­chen Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, so­weit sie nicht von Ma­schi­nen über­nom­men wer­den kön­nen, die al­so die Men­schen im Ver­gleich zur Ma­schi­ne aus­zeich­nen. Frü­her ha­ben Phi­lo­so­phen gern Mensch und Tier ver­gli­chen, um zu Aus­sa­gen über die Spe­zi­fik des er­ste­ren zu ge­lan­gen. Im 21. Jahr­hun­dert scheint es er­gie­bi­ger, den Men­schen mit der in­tel­li­gen­ten Ma­schi­ne zu ver­glei­chen. Und nicht nur er­gie­bi­ger – für mich als al­ten Hu­ma­ni­sten – old school, was will ich ma­chen – geht es vor al­lem dar­um, wel­che Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, et­wa durch die Be­quem­lich­keits­wir­kung des In­ter­nets und vor al­lem des Smart­phones, be­droht sein könn­ten und be­wahrt wer­den soll­ten. Ei­ne Zeit­lang, es ist schon ei­ni­ge Jah­re her, hat­te ich in Kants Kri­ti­ken ge­le­sen, weil ich dach­te, dort wä­ren un­se­re hu­ma­nen Ei­gen­schaf­ten auf­ge­li­stet, aber das hat mich nicht viel wei­ter ge­bracht – viel­leicht hat mir das dau­ern­de kan­ti­sche Ab­lei­ten- und Be­grün­den­müs­sen von Sät­zen den Über­blick ge­trübt. An­de­rer­seits glaubt oh­ne­hin je­der Mensch, we­nig­stens un­ge­fähr zu wis­sen, was ihn als Men­schen denn aus­macht. Ein kürz­lich er­schie­ne­nes Buch, Mensch­lich­keit von Jür­gen Gold­stein, ver­spricht, die Be­son­der­hei­ten zu­sam­men­zu­fas­sen, aber es sag­te mir nicht viel Neu­es: Re­nais­sance, Eras­mus, Mon­tai­gne (den ich halb aus­wen­dig kann), Auf­klä­rung, das al­les hat­te ich im sel­ben Sche­ma schon vor fünf­zig Jah­ren ge­lernt und ei­ni­ger­ma­ßen be­hal­ten. Auch daß Bio­lo­gis­mus und Ras­sis­mus und vor al­lem, wie Hit­ler und die Sei­nen die­se »Dis­zi­pli­nen« in die Tat um­setz­ten, das Ge­gen­teil von Hu­ma­nis­mus be­deu­tet. In­ter­es­sant in Gold­steins Buch sind al­ler­dings die spä­ten Ka­pi­tel über neue­re Be­stre­bun­gen, das Hu­ma­ne zu »über­win­den«. Tech­nik­chau­vi­nis­mus und An­ti- oder Post­hu­ma­nis­mus grei­fen da in­ein­an­der. Aber sonst? Was ist ei­gent­lich das Hu­ma­ne, und wie kann, wie soll es fort­be­stehen? Läßt es sich auf­li­sten? Muß es not­ge­drun­gen hy­brid, tech­no­id wer­den?

Ei­ne Ord­nung wer­de ich wohl nie in mei­ne Ah­nun­gen brin­gen kön­nen, da­zu be­darf es ei­nes sy­ste­ma­ti­sche­ren Gei­stes. Es wird bis auf wei­te­res bei ei­nem Brain­stor­ming blei­ben, das sich viel­leicht suk­zes­si­ve aus­wei­ten läßt. Fen­ster auf, Sturm im Kopf, die Blät­ter ra­scheln. Mehr als ein sol­ches Blät­ter­ra­scheln brin­ge ich nicht zu­stan­de. Kei­ne Hier­ar­chien. Man könn­te das An­ge­weh­te we­nig­stens al­pha­be­tisch ord­nen. Aber wo­zu?

Wir sind die Un­be­re­chen­ba­ren. Die­se Aus­sa­ge soll­te schon mal nicht am An­fang ste­hen son­dern am En­de, ei­ne Art Re­sü­mee. Un­se­re »Ap­pli­ka­tio­nen« – was auf deutsch nichts an­de­res heißt als: un­se­re An­wen­dun­gen (von Tech­no­lo­gie) – le­sen uns, be­rech­nen uns, rech­nen uns aus, sa­gen uns vor­her. Die Tech­no­lo­gie­kon­zer­ne stel­len uns, na­tür­lich nicht oh­ne Pro­fit­in­ter­es­se, Ko­pi­lo­ten, Ge­sprächs­part­ner, Die­ner, Freun­de, Seel­sor­ger zur Sei­te, das al­les in ei­ner Per­son, Ein­sam­keit ist aus der Welt ge­schafft, je­der­mann und je­de­frau geht in ste­ter Be­glei­tung durchs Le­ben, wie man in je­dem be­lie­bi­gen öf­fent­li­chen Raum be­ob­ach­ten kann.

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Fré­dé­ric Schwil­den: Gu­te Men­schen

Frédéric Schwilden: Gute Menschen
Fré­dé­ric Schwil­den:
Gu­te Men­schen

Fré­dé­ric Schwil­den ist Re­por­ter und Ko­lum­nist bei der Welt. Auf X po­stet er un­ter @totalreporter. Manch­mal sieht man ihn dort, wenn er un­ter­wegs ist, im Zug, in atem­be­rau­bend bun­ten Sak­kos. Vor ei­ni­gen Wo­chen er­schien ei­ne groß­ar­ti­ge In­ter­ven­ti­on zu De­pres­sio­nen und dem Brief von Wolf­gang Grupp nach des­sen Sui­zid-Ver­such. Da­vor las ich sei­ne Be­suchs­be­rich­te bei Rai­ner Lang­hans und Uwe Tell­kamp. Schwil­den ist neu­gie­rig und über­lässt dem Le­ser das Ur­tei­len; ein Re­por­ter im alt­mo­di­schen Sinn. Jetzt legt er mit Gu­te Men­schen sei­nen zwei­ten Ro­man vor.

Er han­delt von Jan und Jen­ni­fer. Bei­de sind 1988 ge­bo­ren, ver­hei­ra­tet und le­ben in Mün­chen. Sie ist Part­ne­rin ei­ner Kar­tell­rechts­kanz­lei (da­her der Ehe­ver­trag), er Gym­na­si­al­leh­rer. Gu­te Men­schen be­ginnt mit dem Aus­zug von Jen­ni­fer aus der ge­mein­sa­men Woh­nung. Es ist der 18. De­zem­ber 2023. Jan ist bei der Groß­mutter in Kre­feld. Jen­ni­fers Ha­be füllt ein V‑Klas­se-Ta­xi zur Hälf­te. Sie hat ih­re Kanz­lei­an­tei­le ver­kauft, hin­zu kommt ein Er­be. 1,5 Mil­lio­nen Eu­ro hat sie auf dem Kon­to. Sie lässt sich zu ih­rer neu­en 144 m² gro­ßen Woh­nung fah­ren. Der La Chai­se von Ea­mes wird ge­lie­fert; mehr als 8.000 Eu­ro. Die an­de­ren Mö­bel kom­men in den näch­sten Ta­gen. Sie hat Jan ei­nen Brief ge­schrie­ben und in den Brief­ka­sten ge­wor­fen. Sie be­en­det die Ehe. Man stritt über Geld. Geld, das man hat­te. Man stritt dar­über, wie man es aus­gibt. »Ich will raus« schreibt sie. Will sei­ne Freun­din blei­ben. Die ehe­li­che Woh­nung über­lässt sie ihm.

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Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 1

Si­sy­phos stirbt nicht, er kehrt im­mer wie­der zu­rück. Und wir keh­ren zu ihm zu­rück. »Oh­ne sein sinn­lo­ses Dra­ma wä­re das Le­ben sinn­los«, be­haup­te­te der me­xi­ka­ni­sche Dich­ter Jo­sé Emi­lio Pach­e­co einst. In­mit­ten all der Hy­pes, die über un­se­re Dis­plays rau­schen, mel­det sich das al­te Ge­fühl des Ab­sur­den zu­rück.

Si­sy­phos im Ma­schi­nen­raum ist kein Ro­man, auch als Es­say wür­de ich das Buch nicht be­zeich­nen. Die Ver­fas­se­rin, Mar­ti­na Heß­ler, ist Pro­fes­so­rin für Tech­nik­ge­schich­te, und sie stellt kei­ne li­te­ra­ri­schen An­sprü­che. Den­noch be­zieht sie sich am En­de ih­res Buchs, und auch am An­fang, auf Al­bert Ca­mus, und zwar auf des­sen Vor­stel­lung ei­nes glück­li­chen Si­sy­phos, der die Ab­sur­di­tät sei­nes Tuns – ei­nen Stein auf ei­nen Berg­gip­fel rol­len – ak­zep­tiert, mit sei­nem Schick­sal al­so ein­ver­stan­den ist. Heß­ler meint, Si­sy­phos könn­te den Stein doch ein­fach mal lie­gen las­sen. Das heißt, im zeit­ge­nös­si­schen Kon­text, die Tech­no­lo­gien nicht im­mer wei­ter­trei­ben, Un­zu­läng­lich­kei­ten ak­zep­tie­ren, so­wohl auf­sei­ten der Ma­schi­nen als auch auf­sei­ten der Men­schen.

Heß­ler fo­kus­siert stark auf Feh­ler­haf­tig­keit. Das ge­hört nun mal zu aka­de­mi­schen Stu­di­en, man muß sein For­schungs­feld ge­nau ein­gren­zen, De­fi­ni­tio­nen lie­fern, mög­lichst er­schöp­fen­de Dar­stel­lun­gen des Ge­gen­stands. Daß Tech­ni­ken und Tech­no­lo­gien ih­re ei­ge­ne Ent­wick­lungs­lo­gik ha­ben, un­ab­hän­gig von Feh­lern und Re­pa­ra­tu­ren, weiß sie wohl, macht es aber kaum gel­tend. Of­fen ge­stan­den, mir scheint die Fi­gur des Si­sy­phos für die Tech­nik­ge­schich­te und letzt­lich für al­le an­de­ren Ge­schich­ten nicht recht pas­send; sie scheint auch nicht pas­send für die Le­bens­not­wen­dig­keit ka­pi­ta­li­sti­scher Ge­sell­schafts­sy­ste­me, Pro­fi­te zu ma­xi­mie­ren. Oh­ne Stei­ge­rung gibt es hier (an­geb­lich) kei­ne wirt­schaft­li­che Exi­stenz. Da­her die Schwie­rig­keit, bei schrump­fen­der und al­tern­der Be­völ­ke­rung wie et­wa in Ja­pan das Sy­stem lang­sam zu­rück­zu­fah­ren, oh­ne es als Gan­zes ins Tru­deln zu brin­gen.

Die Au­torin zeigt sich skep­tisch ge­gen­über der Idee ei­nes kon­ti­nu­ier­li­chen Fort­schritts, und wer wür­de sol­che Skep­sis heu­te, am En­de des er­sten Vier­tels des 21. Jahr­hun­derts und rück­blickend auf das zwan­zig­ste, nicht tei­len. Aber die Men­schen als Ak­teu­re und Op­fer der Ge­schich­te, die sie gleich­zei­tig »ma­chen«, rol­len nicht im­mer den­sel­ben Stein auf im­mer den­sel­ben Berg. Sie än­dern ih­re Werk­zeu­ge und än­dern da­mit auch ih­re Um­welt, nicht zwangs­läu­fig zum Bes­se­ren, oft auch zum Schlech­te­ren; sie schaf­fen groß­ar­ti­ge Din­ge und rich­ten un­ge­heu­res Leid an – von bei­dem singt das 20. Jahr­hun­dert ein Lied, das im 21. lei­der nicht ver­klun­gen ist. Viel­leicht ist es bes­ser, auf über­lie­fer­te Sinn­stif­tungs­quel­len zu ver­zich­ten und ein­fach so wei­ter­zu­ma­chen, oh­ne Sinn und Zweck, dem Le­bens­trieb fol­gend.

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Hin­rich von Haa­ren: Wild­nis

Hinrich von Haaren: Wildnis
Hin­rich von Haa­ren:
Wild­nis

Zu­nächst ist man ver­wirrt. Ein ge­wis­ser Schult er­wacht im Kran­ken­haus aus dem Ko­ma und ist zor­nig. Er will nie­mand ge­be­ten ha­ben, ihn ins Roy­al Lon­don Hos­pi­tal in Whitecha­pel ein­zu­lie­fern und phan­ta­siert, er sei bis ge­ra­de zum zwei­ten Mal tot ge­we­sen, das er­ste Mal 1943, als Sechs­jäh­ri­ger, in der Nacht vom 27. auf den 28. Ju­li, in Ham­burg, Stadt­teil Ham­mer­brook, am Grü­nen Deich. Wer ein we­nig Ge­schichts­kennt­nis­se hat, weiß, was in die­ser Nacht in Ham­burg ge­schah. Es wird spä­ter als der Ham­bur­ger Feu­er­sturm be­zeich­net wer­den. Gott­fried Schult und sei­ne Mut­ter über­le­ben; der Va­ter war be­reits 1941 in Russ­land ge­fal­len.

Der 61jährige, in Lon­don le­ben­de, deut­sche Au­tor Hin­rich von Haa­ren bleibt in sei­nem Ro­man Wild­nis bei die­sem Gott­fried Schult, nennt ihn stets nur »Schult«, was be­wusst ei­ne Di­stanz er­zeugt. Die Mut­ter woll­te, dass Schult nach der Schu­le ei­ne Bank­leh­re macht, aber der schrieb sich zum Stu­di­um für Ge­schich­te ein. Es war nach­träg­li­che Op­po­si­ti­on zu sei­nem Na­zi-Leh­rer auf der Schu­le, der das »Drit­te Reich« schlicht über­gan­gen hat­te. Schult woll­te es ge­nau­er wis­sen. Nach dem Stu­di­um be­warb er sich auf ei­ne Do­zen­ten­stel­le in Eng­land, wur­de zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung an­ge­nom­men und aus Gott­fried wur­de Ge­off. Zwan­zig Jah­re nach dem Feu­er­sturm war er al­so nun in Cam­bridge, wenn es auch nur das nicht so be­rühm­te »Dow­ning Col­lege« war.

Der aka­de­mi­sche Be­trieb er­zeug­te bei Schult ein Phleg­ma; er fand sich früh da­mit ab, kei­ne Kar­rie­re ma­chen zu kön­nen. Zu Be­ginn lern­te er die Non­kon­for­mi­sten Tom und Liz ken­nen, die sel­ber kaum Am­bi­tio­nen he­gen. Ei­ne der we­ni­gen Freund­schaf­ten, die Schult ein­ging, denn er war kon­takt­scheu. Um dem Uni-Be­trieb zu ent­flie­hen, mie­te­te er sich ei­ne klei­ne Woh­nung am Ar­nold Cir­cus, ei­nem der äl­te­sten Stadt­vier­tel Lon­dons; da­mals, 1964 beim Ein­zug, an­zie­hend schä­big. Hier konn­te er sei­ne Ho­mo­se­xua­li­tät ab­seits von Cam­bridge aus­le­ben, be­such­te ab und zu das »Ge­or­ge and Dra­gon«, ei­ne eher ver­gam­mel­te Knei­pe mit ei­ner herz­li­chen Wir­tin. Und hier fand er die Stri­cher, die er be­zahl­te und da­bei froh war, kei­ne wei­te­ren Ver­pflich­tun­gen zu ha­ben. Die hy­po­chon­dri­sche Mut­ter in Ham­burg wird zwei Mal im Jahr be­sucht; man hat­te sich we­nig zu sa­gen. Den Weih­nachts­be­such brach Schult im­mer am 23.12. ab. Nur ein­mal, wäh­rend ei­nes Kur­auf­ent­halts, leb­te das Ver­hält­nis der bei­den für kur­ze Zeit auf.

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Franz-Ste­fan Ga­dy: Die Rück­kehr des Krie­ges

Franz-Stefan Gady: Die Rückkehr des Krieges
Franz-Ste­fan Ga­dy: Die Rück­kehr des Krie­ges

Spä­te­stens seit dem 24. Fe­bru­ar 2022, dem Be­ginn des Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne, ist der Krieg, ob man will oder nicht, wie­der un­mit­tel­bar in Eu­ro­pa prä­sent. Ver­ges­sen die vie­len Stell­ver­tre­ter- und Re­gio­nal­krie­ge, die seit Jahr­zehn­ten und auch nach dem ver­meint­li­chen »En­de der Ge­schich­te« auf der Welt tob(t)en. Die so­ge­nann­te Frie­dens­di­vi­den­de ist auf­ge­braucht. Rück­wir­kend be­trach­tet be­gann das al­les schon viel frü­her. Man woll­te je­doch un­ter an­de­rem aus öko­no­mi­schen Grün­den die Zei­chen der Zeit nicht er­ken­nen und ver­fiel in ei­nen geo­po­li­ti­schen Dorn­rös­chen­schlaf. Und im­mer noch ist vie­len der Weck­ruf der­art un­an­ge­nehm, dass sie dar­auf be­stehen, wei­ter schla­fen zu dür­fen. Es sind je­ne, die mit ih­ren au­ßen­po­li­ti­schen Ein­schät­zun­gen seit je stets falsch ge­le­gen ha­ben.

Zeit al­so für ein auf­klä­ren­des, ver­sach­li­chen­des Werk über das, was wir Krieg nen­nen. Der öster­rei­chisch-ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­ana­lyst Franz-Ste­fan Ga­dy hat dies mit Die Rück­kehr des Krie­ges ver­sucht. Sei­ne The­se geht da­hin, dass Krie­ge in Mit­tel­eu­ro­pa und da­mit auch im deutsch­spra­chi­gen Raum wahr­schein­li­cher ge­wor­den sind. Zi­tiert wird un­ter an­de­rem der ame­ri­ka­ni­sche Hi­sto­ri­ker und Di­plo­mat Phil­ip Ze­li­kow, der die Wahr­schein­lich­keit auf 20 bis 30 Pro­zent für ei­nen welt­wei­ten Krieg »in den kom­men­den Jah­ren« an­gibt. Der mi­li­tä­ri­sche He­ge­mon USA, der bis­her als Ga­rant eu­ro­päi­scher Si­cher­heit galt, wird, könn­te durch ei­nen dro­hen­den Kon­flikt mit Chi­na um Tai­wan im In­do­pa­zi­fik be­an­sprucht wer­den wäh­rend gleich­zei­tig Russ­land in ge­ziel­ten klei­nen (oder gro­ßen) Ope­ra­tio­nen NA­TO-Ge­biet im Bal­ti­kum an­greift. Eu­ro­pa muss al­so im ei­ge­nen In­ter­es­se mi­li­tä­ri­sche Ab­hän­gig­kei­ten von den USA mi­ni­mie­ren und auf kon­ven­tio­nel­lem Ge­biet ab­schrecken kön­nen.

Ga­dy be­schäf­tigt sich zu­nächst mit dem »Zeit­al­ter der Fehl­ein­schät­zun­gen«, das ir­gend­wann in den 1990er Jah­ren be­gann. Suk­zes­si­ve ver­ab­schie­de­ten sich die (West-)Europäer bei­spiels­wei­se von der Mög­lich­keit im Ver­tei­di­gungs­fall ei­ne »hoch in­ten­si­ve Land­kriegs­füh­rung« füh­ren zu kön­nen. Mit dem Fo­kus auf neue Tech­no­lo­gien ver­nach­läs­sig­te man als ver­al­tet be­trach­te­te Mi­li­tär­tech­ni­ken und die Pro­duk­ti­on aus­rei­chen­der Mu­ni­ti­on. Die Ver­tei­di­gungs­haus­hal­te wur­den zu­sam­men­ge­stri­chen. Man kon­zen­trier­te sich auf die Pla­nung re­gio­nal und zeit­lich be­grenz­ter Aus­lands­ein­sät­ze. Ei­ne mi­li­tä­ri­sche Ab­schreckung schien un­nö­tig zu sein. Der sich be­reits in der Nach­rü­stungs­de­bat­te Mit­te der 1980er Jah­re ab­zeich­nen­de Pa­zi­fis­mus fei­er­te mit dem Fall der Mau­er in ei­nem »post­he­roi­schen Welt­bild als iden­ti­täts­stif­ten­des Ide­al« sei­nen Durch­bruch.

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Pa­trick Mo­dia­no: Die Tän­ze­rin

Patrick Modiano: Die Tänzerin
Pa­trick Mo­dia­no:
Die Tän­ze­rin

Un­längst fei­er­te der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Pa­trick Mo­dia­no sei­nen 80. Ge­burts­tag. Seit Mit­te der 1970er Jah­ren wer­den sei­ne Bü­cher in Deutsch­land pu­bli­ziert – in meh­re­ren Ver­la­gen und von ei­ni­gen Über­set­zern, un­ter an­de­rem auch Pe­ter Hand­ke, der zeit­wei­se die Mo­dia­no-Bü­cher nach Suhr­kamp brach­te, be­vor sie bei Han­ser und Über­set­ze­rin Eli­sa­beth Edl ei­ne Heim­statt be­kom­men ha­ben. Mit den Jahr­zehn­ten sind sei­ne Ro­ma­ne zu klei­nen, luf­tig-duf­ti­gen Er­zäh­lun­gen ge­wor­den, die um Er­in­ne­rung, Zä­su­ren und ge­schei­ter­te (oder ge­lun­ge­ne) Le­bens­ent­wür­fe krei­sen. Auch im neu­en Ro­man Die Tän­ze­rin (wie ge­habt über­setzt von Eli­sa­beth Edl) spielt die Er­in­ne­rung und de­ren Un­zu­ver­läs­sig­keit ei­ne wich­ti­ge, ei­gent­lich die ent­schei­den­de Rol­le. Zeit und Bil­der ver­wi­schen, aber ge­ra­de hier­in scheint der Reiz zu lie­gen, der we­ni­ger dar­in be­steht, sich prä­zi­se zu er­in­nern, son­dern trotz oder ge­ra­de mit den bruch­stück­haf­ten Bil­dern so et­was wie ei­ne »ewi­ge Ge­gen­wart« zu er­zeu­gen, wie es fast eu­pho­risch am En­de des Bu­ches heißt.

Es be­ginnt mit ei­nem Mann, den der Ich-Er­zäh­ler zwi­schen all den Touristen-»Horden« in Pa­ris zu ent­decken glaubt: sei­nen ehe­ma­li­gen Ver­mie­ter von vor 50 (oder mehr) Jah­ren. Lei­der kann sich der der­art an­ge­spro­che­ne Mann we­der an ihn noch an die vor­ge­brach­ten Er­eig­nis­se er­in­nern, gibt ihm aber ei­nen Zet­tel mit Te­le­fon­num­mern und Adres­se.

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Au­ré­li­an Bel­lan­ger: Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken

Li­stig, die­ses Be­kennt­nis zur »kon­tra­fak­ti­schen Ge­schichts­schrei­bung«, die der fran­zö­si­sche Au­tor Au­ré­li­an Bel­lan­ger sei­nem als Ro­man de­kla­rier­ten Buch Die letz­ten Ta­ge der Lin­ken vor­weg schickt. Soll­te man »ei­ni­ge rea­le Per­so­nen« trotz­dem wie­der­fin­den, muss man sich »da­mit zu­frie­den­ge­ben, sie als Prot­ago­ni­sten ei­ner Par­al­lel­ge­schich­te zu be­trach­ten.« Es ist na­tür­lich ge­ra­de die­se Di­stan­zie­rung, die neu­gie­rig macht. Ent­spre­chend sorg­te das ...

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