Ul­ri­ke Ed­schmid: Le­vys Te­sta­ment

Ulrike Edschmid: Levys Testament

Ul­ri­ke Ed­schmid:
Le­vys Te­sta­ment

Win­ter 1972. Die Ich-Er­zäh­le­rin aus Ul­ri­ke Ed­schmids Ro­man »Le­vys Te­sta­ment« macht sich zu­sam­men mit ei­ni­gen an­de­ren Stu­den­ten der Ber­li­ner Film­aka­de­mie auf nach Lon­don zu der Grup­pe »Ci­ne­ma Ac­tion«, die un­ter an­de­rem mit Fil­men über den Pa­ri­ser Mai 1968 auf­ge­fal­len war. So­fort ist man in der Lon­do­ner An­ar­chi­sten­sze­ne, bei der »An­gry Bri­ga­de«, die mit ih­ren An­schlä­gen (» ‘Wir grei­fen Be­sitz an, nicht Men­schen‘«) für Fu­ro­re sor­gen. Acht Ak­ti­vi­sten sind seit 1971 im Ge­fäng­nis, man nennt sie die »Sto­ke Ne­wing­ton Eight«. Jetzt ste­hen sie vor Ge­richt. An Kü­chen­ti­schen wer­den So­li­da­ri­ät­s­adres­sen ver­fasst. »Trau­er, Ohn­macht und Pro­test«. Der Pro­zess wird be­sucht. Und hier lernt die Er­zäh­le­rin ih­ren »Eng­län­der« ken­nen.

Sie be­wun­dern die Ver­lo­ren­heit der An­ge­klag­ten aber auch de­ren Elo­quenz, die sich »nicht aus Ideo­lo­gien« speist, son­dern aus den An­lie­gen sel­ber. Sie sind ge­stän­dig, aber nicht reu­mü­tig, er­klä­ren ih­re Mo­ti­va­ti­on. Ih­nen sei klar, dass sie mir ih­ren An­schlä­gen nicht die Welt ver­än­dern könn­ten. Weil da­mals in Groß­bri­tan­ni­en al­ler­dings Ge­walt ge­gen Sa­chen auf der glei­chen (oder so­gar ei­ner hö­he­ren Stu­fe) stand wie Ge­walt ge­gen Per­so­nen, ha­ben vier von ih­nen kei­ne Chan­ce. Sie er­hal­ten zehn Jah­re Ge­fäng­nis. Die an­de­ren kom­men frei.

Die Er­zäh­le­rin und der Eng­län­der wer­den ein Paar. Er ist der Sohn jü­di­scher El­tern. Die Mut­ter No­rah, klag­te zeit ih­res Le­bens um ih­re ver­lo­re­ne Ju­gend, als sie als äl­te­ste Toch­ter für die Ge­schwi­ster sor­gen muss. Sie ver­kauft ir­gend­wann Schu­he. Ih­rem Sohn sagt sie rau­nend, dass er nie da­zu­ge­hö­ren wird. Auch die gu­ten Schul­no­ten und spä­ter der Uni-Ab­schluss wür­den dar­an nichts än­dern. Aber war­um? Der Va­ter, »Gin­ger Joe«, han­del­te mit bil­li­gen Klei­dern. Als er da­mit schei­tert, fährt er Ta­xi. In den 1970ern le­ben sie in ei­ner So­zi­al­bau­woh­nung. Wenn ir­gend­wie mög­lich, be­su­chen Va­ter und Sohn die Heim­spie­le des Fuß­ball­ver­eins Tot­ten­ham Hot­spurs. Der Eng­län­der wird die­sen Ver­ein für im­mer lie­ben. Hin­zu kom­men dann die Rol­ling Stones. Und ein biss­chen Bob Dy­lan. Aber, und das sagt er ihm kurz vor sei­nem Tod, vor al­lem sei­nen Va­ter. Es ist die er­grei­fend­ste Stel­le im Buch.

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Nach­ge­tra­gen

»Wenn je­mand ei­ne Rei­se tut, so kann er was er­zäh­len…«, so lau­tet ein Volks­lied von Mat­thi­as Clau­di­us. Mi­cha­el Mar­tens kann auch et­was er­zäh­len, wenn er kei­ne Rei­se »tut«.

Und so »be­rich­tet« er al­so von Pe­ter Hand­kes Rei­sen nach Ser­bi­en und zur Re­pu­bli­ka Srps­ka im Mai 2021. Der Nicht-Oh­ren-und-Au­gen­zeu­ge Mar­tens weiß er­staun­li­cher­wei­se al­les. Gleich zu Be­ginn wird deut­lich, dass Hand­ke nicht ein­fach nur ei­ne Rei­se un­ter­nom­men hat, son­dern ei­ne »Ju­bel­tour­nee«. Und dass er die Or­den in Ban­ja Lu­ka, die er be­kam, mit dem Wor­ten »Dies ist ein gro­ßer Au­gen­blick für mich« kom­men­tiert hat­te. Er weiß mit wem sich Hand­ke ei­nig war, was man be­spro­chen hat, dass er ein Fuß­ball­tri­kot von Par­tizan Bel­grad »stolz« ge­tra­gen hat (so wie einst das von »Ro­ter Stern Bel­grad«? – bit­te, Herr Mar­tens, ich bren­ne auf die Ant­wort). Wenn Hand­ke von »Volk« re­de, so er­in­ne­re dies an den »Höcke-Flü­gel« der AfD. Was er nicht weiß, ist wie Hand­ke den Be­griff »Volk« ver­wen­det1. Wie soll­te er auch, denn da­für hät­te man sich mit dem Werk aus­ein­an­der­set­zen müs­sen.

Aus der Hand­ke-Re­de in Više­grad an­läss­lich des Ivo-An­drić-Prei­ses2 zi­tiert Mar­tens zwei Stel­len – und lässt den ent­schei­den­den Satz weg. Mei­nes Wis­sens er­wähn­te ihn nur Mla­den Gla­dić in sei­ner Be­richt­erstat­tung für die »Welt« – im In­ter­net hin­ter ei­ner Be­zahl­schran­ke sorg­sam ver­wahrt. Da­her soll – mit aus­drück­li­cher Ge­neh­mi­gung der Be­tei­lig­ten – Pe­ter Hand­kes spon­ta­ne Re­de vom 7. Mai 2021 in Više­grad in ei­ner Tran­skrip­ti­on von Žar­ko Rad­ako­vić hier ab­ge­druckt wer­den3:

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  1. Darüber gibt es seit den 1980er Jahren vielschichtige literaturwissenschaftliche Studien. Meine Gedanken dazu findet man hier: https://mirabilis-verlag.de/produkt/lothar-struck-erzaehler-leser-traeumer-begleitschreiben-zum-werk-von-peter-handke/ 

  2. Anlass war die serbische Übersetzung von "Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“ von Žarko Radaković "Drugi mač. Majska povest". Es wurde als Buch des Jahres 2020 in Serbien und Republika Srpska mit dem "Ivo Andrić Preis" ausgezeichnet. Peter Handke reiste am 7. Mai 2021 nach Višegrad, um den Preis persönlich entgegenzunehmen. Der andere Laureat, der serbische Schriftsteller Milovan Danojlić, war aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Višegrad gekommen. 

  3. Handke hielt die Rede auf Deutsch; die Original-Aufnahme liegt mir vor 

Mar­cel Proust: Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber

Marcel Proust: Der geheimnisvolle Briefschreiber

Mar­cel Proust:
Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber

Aus dem Nach­lass des 2018 ver­stor­be­nen Ver­le­gers und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­lers Ber­nard de Fallois fan­den sich neun frü­he Er­zäh­lun­gen von Mar­cel Proust, da­von acht bis­her un­ver­öf­fent­lich­te, die der Suhr­kamp Ver­lag über­setzt von Bern­hard Schwibs nun im Band »Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber« pas­send zum 150. Ge­burts­tag des Schrift­stel­lers in ei­nem präch­ti­gen Band vor­legt. Edi­tiert wur­de der Band von Luc Fraisse, Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät in Straß­burg. Es be­ginnt mit ei­ner um­fas­sen­den Ein­füh­rung, in der auch die Um­stän­de der Ent­deckung be­leuch­tet wer­den. Je­dem Text wird zu­sätz­lich noch ein­mal in Kur­siv­schrift der Re­fe­renz­rah­men in­ner­halb des Proust’schen Wer­kes vor­an­ge­stellt und, so­weit mög­lich, die Ge­ne­se des Tex­tes er­läu­tert. Ein­fü­gun­gen, Strei­chun­gen und Kor­rek­tu­ren Prousts sind in den Fuß­no­ten auf­ge­führt.

Ein kon­kre­tes Ent­ste­hungs­da­tum wird nicht ge­nannt, ver­mut­lich, weil die Tex­te nicht ent­spre­chend ge­kenn­zeich­net sind. Sie sol­len par­al­lel zur Er­zäh­lung »Der Gleich­gül­ti­ge« ver­fasst wor­den sein, al­so um 1896 (da war Proust 25 Jah­re alt).Der Grund, war­um Mar­cel Proust die­se Er­zäh­lun­gen un­ter Ver­schluss ge­hal­ten hat­te, liegt bei al­ler Spe­ku­la­ti­on für Fraisse auf der Hand: Das Haupt­the­ma, das hier »ver­han­delt« wer­de, sei Ho­mo­se­xua­li­tät. Der jun­ge Au­tor zog es vor, die für die da­ma­li­ge Zeit »wohl zu skan­dal­träch­ti­gen Tex­te« ge­heim zu hal­ten. Der um­fang­rei­che Re­fe­ren­z­ap­pa­rat er­klärt je­doch, dass For­mu­lie­run­gen und vor al­lem Mo­ti­ve die­ser Tex­te in spä­te­ren Ro­ma­nen, vor al­lem je­doch in der »Re­cher­che« durch­aus Ver­wen­dung fin­den.

Wer sich un­mit­tel­bar auf die fun­keln­de poe­ti­sche Kraft Prousts, die auch in die­sen bis­wei­len frag­men­ta­ri­schen Tex­ten her­vor­leuch­tet, ein­las­sen möch­te, le­se zu­nächst die Tex­te sel­ber oh­ne jeg­li­che Ein­füh­rung und Ein­ord­nun­gen (und igno­rie­re, wenn mög­lich, auch die Fuß­no­ten). Das gilt ins­be­son­de­re für die ti­tel­ge­ben­de Er­zäh­lung »Der ge­heim­nis­vol­le Brief­schrei­ber« (zu­dem hier in den Er­läu­te­run­gen der Spoi­ler er­läu­tert wird, dem Proust un­ter­lau­fen war) und »Er­in­ne­rung ei­nes Haupt­manns«. Letz­te­re wur­de als ein­zi­ge be­reits ein­mal ver­öf­fent­licht, im Jahr 1952. Im Band steht sie re­kon­stru­iert aus dem vor­lie­gen­den Ma­nu­skript von Proust. Wei­ter­le­sen

Jür­gen Bro­koff: Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang

Jürgen Brokoff: Literaturstreit und Bocksgesang

Jür­gen Bro­koff: Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang

Im Rah­men der Rei­he »Klei­ne Schrif­ten zur li­te­ra­ri­schen Äs­the­tik und Her­me­neu­tik« im Wall­stein-Ver­lag ist als Band 7 Jür­gen Bro­koffs Stu­die »Li­te­ra­tur­streit und Bocks­ge­sang« er­schie­nen. Zu­nächst ist man ob des Ti­tels ver­blüfft, um dann rasch fest­zu­stel­len, dass es tat­säch­lich um zwei Er­eig­nis­se der Li­te­ra­tur­re­zep­ti­on der Bun­des­re­pu­blik han­delt, die in­zwi­schen fast 30 Jah­re zu­rück­lie­gen. Ana­ly­siert wird zum ei­nen Chri­sta Wolfs Er­zäh­lung »Was bleibt«, die 1990 im Feuil­le­ton für den so­ge­nann­ten »Li­te­ra­tur­streit« führ­te und der Es­say »An­schwel­len­der Bocks­ge­sang« von Bo­tho Strauß, erst­mals 1993 im »Spie­gel« pu­bli­ziert.

Bro­koff will zei­gen, wie sich zum ei­nen »öf­fent­li­che Dis­kus­sio­nen über li­te­ra­ri­sche Tex­te und Dar­stel­lun­gen von Öf­fent­lich­keit in li­te­ra­ri­schen Tex­ten […] wech­sel­sei­tig dy­na­mi­sie­ren und in­ein­an­der­grei­fen«. Der Mit­tel­punkt der Un­ter­su­chung ist »die an­ge­deu­te­te in­tel­lek­tu­el­le Ver­schie­bung in der deutsch­spra­chi­gen Dis­kus­si­ons- und De­bat­ten­kul­tur zwi­schen Mau­er­fall und Ein­heit ei­ner­seits und der Ver­öf­fent­li­chung von Strauß’ Es­say […] an­de­rer­seits«.

Kor­rekt wird er­kannt, dass mit dem Mau­er­fall die »Ab­leh­nung des Schrift­stel­lers als mo­ra­lisch-po­li­ti­sche In­stanz« ge­wach­sen war. Wie stark die­ser Fall war zeigt er an­hand der Ent­wick­lung der li­te­ra­ri­schen Öf­fent­lich­keit von der Grup­pe 47 bis et­wa En­de der 1980er Jah­re. In­ter­es­sant wä­re es al­so ge­we­sen, zu un­ter­su­chen, war­um Ent­frem­dung zwi­schen den In­tel­lek­tu­el­len und der »Öf­fent­lich­keit« be­reits vor­her statt­ge­fun­den hat­te. Im­mer­hin wird Walsers so­ge­nann­te Deutsch­land-Re­de von 1988 er­wähnt, in der sich die­ser mit der deut­schen Tei­lung nicht ab­fin­den woll­te, die da­mals längst als un­ab­än­der­lich galt. Bro­koffs Be­schäf­ti­gung er­schöpft sich je­doch dar­in, sie mit dem Eti­kett »um­strit­ten« zu ver­se­hen und die da­ma­li­ge Ein­schät­zung, wer von Wie­der­ver­ei­ni­gung re­de, sei ein »kal­ter Krie­ger«, der die Bot­schaft der Ge­schich­te nicht ver­stan­den hät­te, in­di­rekt noch zu be­stä­ti­gen.

Die Rol­le des Schrift­stel­lers, des Li­te­ra­ten, als po­li­ti­scher Takt­ge­ber zeig­te sich je­doch auch dar­in, dass »die Re­vo­lu­ti­on von 1989 in der DDR im Ge­gen­satz zu den ost­mit­tel­eu­ro­päi­schen Staa­ten in er­ster Li­nie nicht von In­tel­lek­tu­el­len und Schrift­stel­lern ge­tra­gen« wur­de. Eher in Ge­gen­teil. Auf den Groß­de­mon­stra­tio­nen auf dem Ber­li­ner Alex­an­der­platz im No­vem­ber 1989 tra­ten zwar meh­re­re Schrift­stel­ler und Künst­ler, so u. a. Chri­sta Wolf als Apo­lo­ge­ten ei­nes dif­fu­sen »Drit­ten We­ges« zwi­schen dem Wei­ter­exi­stie­ren der DDR und der Ver­ei­ni­gung mit der BRD auf. Aber die­se Mo­del­lie­run­gen gin­gen fun­da­men­tal an den Wün­schen des größ­ten Teils der Be­völ­ke­rung vor­bei. Spä­te­stens hier en­de­te das bis da­hin gül­ti­ge links­in­tel­lek­tu­ell-po­li­ti­sche »Wort­füh­rer­tum« (hier pa­ra­phra­siert er Joa­chim Fest).

Den gan­zen Bei­trag »Ver­pass­te Mög­lich­kei­ten« hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.

Die Schu­he von Eta­ji­ma

Die In­sel Eta­ji­ma hat ei­ne be­trächt­li­che Aus­deh­nung (wenn ich nicht ir­re, ist es die größ­te In­sel der In­lands­see), ist aber selt­sam zer­ris­sen, so als be­stün­de sie aus meh­re­ren über­ein­an­der­ge­wor­fe­nen Halb­in­seln und Land­zun­gen, die nach al­len Rich­tun­gen ans Meer lecken. Ab­ge­se­hen da­von, daß man beim Wan­dern oder Rad­fah­ren gern mal die Ori­en­tie­rung ver­liert, stellt sich die Fra­ge der An­rei­se. Soll ich, aus dem Osten kom­mend, mit der Stra­ßen­bahn zum Ha­fen von Hi­ro­shi­ma fah­ren und dort ei­ne Fäh­re neh­men? Oder nach Ku­re fah­ren, was mit öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln um­ständ­lich ist, und dort ei­nen Bus neh­men oder gar ein Ta­xi, um an die süd­west­li­che Flan­ke der In­sel zu ge­lan­gen? Von die­ser Sei­te kann man auf Rä­dern, über Brücken, von In­sel zu In­sel, nach Eta­ji­ma rei­sen (die Schiffs­li­ni­en dort wur­den vor lan­ger Zeit ein­ge­stellt).

Nun, es ist klar, ich be­ge­be mich für mein Le­ben gern auf klei­ne, mit­un­ter auch grö­ße­re Schiffs­rei­sen, und zum Glück geht von Uji­na, dem Ha­fen von Hi­ro­shi­ma, ein Boot nach Ko­you, von wo man zu Fuß zur Ma­ri­ne­schu­le ge­hen kann. Auf der Fahrt las­se ich mich von den Wel­len schau­keln und wie­gen wie ein Gau­cho auf dem Pfer­de­rücken in der fla­chen Pam­pa. Das sind so mei­ne Il­lu­sio­nen und Freu­den, freu­di­gen Il­lu­sio­nen, die mich in die Welt Mon­tai­gnes zu­rück- oder vor­wärts­füh­ren, zu­rück und vor­wärts, wo man die­sem Rock’n‘Roll noch ein rech­tes Lob­lied sin­gen konn­te.

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Chri­stoph Rans­mayr: Der Fall­mei­ster

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister

Chri­stoph Rans­mayr:
Der Fall­mei­ster

»Ei­ne kur­ze Ge­schich­te vom Tö­ten« lau­tet der Un­ter­ti­tel von Chri­stoph Rans­mayrs neue­stem Ro­man »Der Fall­mei­ster«. Das Co­ver zeigt ei­nen Eis­vo­gel, der stoß­tau­chend un­ter Was­ser ei­nen Fisch er­beu­tet. Ei­ne für den Ro­man zu­tref­fen­de Sym­bo­lik.

Tat­säch­lich be­ginnt das Buch mit ei­ner ful­mi­nan­ten Be­schrei­bung ei­ner Schleu­sen­fahrt durch den »Gro­ßen Fall«, ei­nem Was­ser­fall auf dem »Wei­ßen Fluß«. Der Schleu­ser, der den Ti­tel »Fall­mei­ster« trägt, ist der Va­ter des Er­zäh­lers. Er be­treibt nicht nur ein Mu­se­um, son­dern über­führt re­gel­mä­ßig mit gro­ßem Ge­schick die Salz­trans­por­te der Graf­schaft Ban­don, in der die Fa­mi­lie lebt, durch den Was­ser­fall. Der Ort ist fik­tiv (gut­wil­li­ge Re­zen­sen­ten for­schen – war­um auch im­mer – nach Ent­spre­chun­gen in der rea­len Welt). Im Ro­man ist Eu­ro­pa (und mit ihm die USA) in Klein­staa­ten, »bös­ar­ti­ge Zwer­gen­rei­che«, zer­fal­len, die re­strik­ti­ve Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze ver­an­las­sen und un­ter­ein­an­der Krie­ge füh­ren.

Die Fa­mi­lie be­steht ne­ben dem Va­ter und dem Ich-Er­zäh­ler (bei­de blei­ben na­men­los) aus Mi­ra, der vier Jah­re äl­te­ren Schwe­ster, die an der Glas­kno­chen­krank­heit lei­det und der Mut­ter Ja­na, ei­ner Ein­wan­de­rin, die der Va­ter für das Mu­se­um als Gra­phi­ke­rin ein­stell­te und dann hei­ra­te­te. Ir­gend­wann ist de­ren Auf­ent­halts­er­laub­nis er­lo­schen und Ja­na muss zu­rück in ih­re Hei­mat fah­ren, zur In­sel Cres, die, wie man spä­ter er­fährt, vom ve­ne­zia­ni­schen Tri­um­vi­rat er­obert wur­de und nun Cher­so heißt. Der Va­ter ist be­rüch­tigt für sei­nen Jäh­zorn bei der klein­sten Ge­le­gen­heit; ge­walt­tä­tig ist er nicht. Die sanft­mü­ti­ge Mut­ter nennt ihn ei­nen »Teu­fel«. Im wei­te­ren Ver­lauf des Ro­mans wird man nicht nur für die­se Cha­rak­te­ri­sie­run­gen Be­le­ge ver­mis­sen.

Die Fa­mi­lie lebt ab­ge­schie­den; nur zu Fe­sten kom­men Städ­ter. Das Kind ent­wickelt ei­ne sa­di­sti­sche Ader, übt sich da­bei, im Flug Hor­nis­sen mit der Sche­re zu zer­schnei­den (ein­mal wird er von sie­ben Hor­nis­sen­sti­chen in ei­ner Art Ra­che­ak­ti­on ge­plagt und fast ge­tö­tet), fängt Fi­sche mit der Hand, die er dann er­sticken lässt und da­bei zu­schaut oder fängt Mäu­se, die er Kat­zen zum Spie­len über­reicht. Dass die Mut­ter um Gna­de für die Tie­re bit­tet, be­rührt ihn nicht. Mit zu­neh­men­dem Al­ter ent­wickelt der Er­zäh­ler ein ero­ti­sches Ver­hält­nis zu sei­ner Schwe­ster Mi­ra. Man er­fährt, dass das In­zest­ver­bot schon lan­ge auf­ge­ho­ben ist. Da­mit wirkt der Akt von Mi­ra und ih­rem Bru­der auf ei­ner ge­heim­nis­vol­len Fluss­in­sel mit dem Na­men »Me­so­po­ta­mi­en« nicht mehr un­ge­wöhn­lich. Von nun an wird die Schwe­ster idea­li­siert, er be­zeich­net sie als »Pha­rao­nin« (sich sel­ber als »Pha­rao« – ei­ne An­deu­tung an den In­zest im vor­christ­li­chen Ägyp­ten).

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Chri­stoph Si­mon: Die Din­ge da­heim

Christoph Simon: Die Dinge daheim

Chri­stoph Si­mon:
Die Din­ge da­heim

Weil ich im­mer noch Si­mons »Spa­zier­gän­ger Zbin­den« für ei­nes der men­schen­freund­lich­sten Bü­cher der letz­ten Jah­re hal­te, war ich na­tur­ge­mäß so­fort in­ter­es­siert, als ich von Si­mons neu­em Buch »Die Din­ge da­heim« hö­re. Es sind nur et­was mehr als 80 Sei­ten mit Zeich­nun­gen und ei­nem kur­zen Nach­wort. Aber es ist ein Buch zum Schwel­gen, zum Amü­sie­ren, zum La­chen.

»›Ich brauch Ta­pe­ten­wech­sel‹ sprach die Bir­ke« – so be­ginnt ein be­rühm­tes Chan­son von Hil­de­gard Knef. Es ist ei­ne Art Lehr­fa­bel über den ewig un­zu­frie­de­nen Men­schen. Ab­seits von Fa­beln und Mär­chen steht die mo­der­ne Li­te­ra­tur An­thro­po­mor­phis­mus, al­so die Ver­mensch­li­chung von Din­gen, skep­tisch ge­gen­über. Da macht auch das in den letz­ten Jah­ren ver­stärkt auf­kom­men­den neue Gen­re des »Na­tu­re Wri­ting« kei­ne Aus­nah­me. Ge­ne­rell über­lässt man es dem Co­mic und ver­gnüg­te sich ma­xi­mal in Zei­chen­trick- oder Ani­ma­ti­ons­fil­men mit spre­chen­den Tie­ren oder gar Din­gen. Vor vie­len Jah­ren ließ Horst Stern ein­mal ei­nen Bä­ren er­zäh­len. 2008 gibt es ei­nen the­ra­peu­ti­schen, kur­zen Text von Se­lim Öz­do­gan, in der Ge­gen­stän­de plötz­lich spre­chen.

Jetzt re­den bei Chri­stoph Si­mon die Din­ge. Sie er­zäh­len, la­men­tie­ren, schimp­fen, ap­pel­lie­ren, mo­no­lo­gi­sie­ren oder tre­ten in den Dia­log mit an­de­ren Din­gen und manch­mal so­gar mit dem Men­schen (der je­doch schweigt). Sie be­haup­ten sich, sie ir­ren (oh­ne, dass es ih­nen je­mand sagt), sie ver­zwei­feln, sie sind ar­ro­gant oder be­mit­lei­dens­wert. Wei­ter­le­sen

Ro­bin Alex­an­der: Macht­ver­fall

Robin Alexander: Machtverfall

Ro­bin Alex­an­der:
Macht­ver­fall

Ro­bin Alex­an­der war 2017 mit »Die Ge­trie­be­nen«, der Chro­nik der Flücht­lings­kri­se 2015, ein Best­sel­ler ge­lun­gen, der spä­ter so­gar ver­filmt wur­de. Au­ßer bei ei­ni­gen po­li­ti­schen Wirr­köp­fen, die, je nach Fär­bung, Mer­kel­hass oder Mer­kel­er­ge­ben­heit nach­wei­sen woll­ten, gibt es bis heu­te kei­nen sach­li­chen Wi­der­spruch zu den akri­bi­schen Re­kon­struk­tio­nen des Au­tors. Alex­an­der do­ku­men­tier­te nicht nur die Über­for­de­run­gen der deut­schen Ent­schei­dungs­trä­ger in je­nem Herbst 2015, son­dern auch ih­re Ei­tel­kei­ten und bis­wei­len fahr­läs­si­gen Hand­lungs­wei­sen auf­grund par­tei- oder macht­stra­te­gi­scher Er­wä­gun­gen. Am En­de bleibt die tri­via­le Er­kennt­nis: Man wur­de da­mals mehr oder we­ni­ger von den Er­eig­nis­sen über­rum­pelt. Aber im Buch wur­de auch ge­zeigt, wie man vor­her durch Igno­ranz (oder auch Ar­ro­ganz) in die­se am En­de es­ka­lie­ren­de Si­tua­ti­on kam.

In­zwi­schen ist Ro­bin Alex­an­der zum stell­ver­tre­ten­den Chef­re­dak­teur der »Welt« be­för­dert wor­den und tritt als sach­kun­di­ger Ana­ly­ti­ker und auch Kom­men­ta­tor des Ber­li­ner Po­li­tik­ge­sche­hens auf. Um­so neu­gie­ri­ger war man, als im Ja­nu­ar vom Sied­ler-Ver­lag das neue Buch von ihm für Pu­bli­ka­ti­on im Mai avi­siert wur­de. Der­ar­ti­ge Vor­ankün­di­gun­gen sind nor­mal. Un­ge­wöhn­li­cher ist, dass sich im Lau­fe der Mo­na­te der Buch­ti­tel än­dert. Aus »Macht­wech­sel« (der Ti­tel er­in­nert an Ar­nulf Ba­rings gleich­na­mi­ges Buch von 1982 zur Ära Brandt-Scheel) wur­de jetzt »Macht­ver­fall«. Aus ei­nem Co­ver mit Mer­kel, Spahn, La­schet und Söder wur­de ei­nes mit Mer­kel und La­schet. Die Er­eig­nis­se hat­ten sich, wie es scheint, dra­ma­tisch ver­än­dert.

»Macht­ver­fall« be­ginnt mit dem 16. März 2017, dem Tag, an dem An­ge­la Mer­kel Do­nald Trump das er­ste Mal be­sucht. Sie hat­te sich akri­bisch vor­be­rei­tet. Im No­vem­ber 2016, knapp drei Wo­chen nach der ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wahl, aus der Trump als Sie­ger her­vor­ging, gab Mer­kel ih­re er­neu­te Kan­di­da­tur be­kannt. Die Ge­schich­te, so Alex­an­der pa­the­tisch, ließ ihr kei­ne an­de­re Wahl. (Im­mer­hin, so denkt sich der Le­ser, ist es kein »Man­tel der Ge­schich­te«.) Die Welt­pres­se und Ba­rack Oba­ma hat­ten sie be­stärkt. Zwar ist ih­re Ge­sund­heit an­ge­schla­gen, die »Seele…strapaziert«, aber sie fügt sich ei­ner Mi­schung aus Pflicht und Op­fer.

Den gan­zen Bei­trag »Ach, so klei­ne Gei­ster« hier bei Glanz und Elend wei­ter­le­sen.