Chri­stoph Rans­mayr: Der Fall­mei­ster

Christoph Ransmayr: Der Fallmeister

Chri­stoph Rans­mayr:
Der Fall­mei­ster

»Ei­ne kur­ze Ge­schich­te vom Tö­ten« lau­tet der Un­ter­ti­tel von Chri­stoph Rans­mayrs neue­stem Ro­man »Der Fall­mei­ster«. Das Co­ver zeigt ei­nen Eis­vo­gel, der stoß­tau­chend un­ter Was­ser ei­nen Fisch er­beu­tet. Ei­ne für den Ro­man zu­tref­fen­de Sym­bo­lik.

Tat­säch­lich be­ginnt das Buch mit ei­ner ful­mi­nan­ten Be­schrei­bung ei­ner Schleu­sen­fahrt durch den »Gro­ßen Fall«, ei­nem Was­ser­fall auf dem »Wei­ßen Fluß«. Der Schleu­ser, der den Ti­tel »Fall­mei­ster« trägt, ist der Va­ter des Er­zäh­lers. Er be­treibt nicht nur ein Mu­se­um, son­dern über­führt re­gel­mä­ßig mit gro­ßem Ge­schick die Salz­trans­por­te der Graf­schaft Ban­don, in der die Fa­mi­lie lebt, durch den Was­ser­fall. Der Ort ist fik­tiv (gut­wil­li­ge Re­zen­sen­ten for­schen – war­um auch im­mer – nach Ent­spre­chun­gen in der rea­len Welt). Im Ro­man ist Eu­ro­pa (und mit ihm die USA) in Klein­staa­ten, »bös­ar­ti­ge Zwer­gen­rei­che«, zer­fal­len, die re­strik­ti­ve Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze ver­an­las­sen und un­ter­ein­an­der Krie­ge füh­ren.

Die Fa­mi­lie be­steht ne­ben dem Va­ter und dem Ich-Er­zäh­ler (bei­de blei­ben na­men­los) aus Mi­ra, der vier Jah­re äl­te­ren Schwe­ster, die an der Glas­kno­chen­krank­heit lei­det und der Mut­ter Ja­na, ei­ner Ein­wan­de­rin, die der Va­ter für das Mu­se­um als Gra­phi­ke­rin ein­stell­te und dann hei­ra­te­te. Ir­gend­wann ist de­ren Auf­ent­halts­er­laub­nis er­lo­schen und Ja­na muss zu­rück in ih­re Hei­mat fah­ren, zur In­sel Cres, die, wie man spä­ter er­fährt, vom ve­ne­zia­ni­schen Tri­um­vi­rat er­obert wur­de und nun Cher­so heißt. Der Va­ter ist be­rüch­tigt für sei­nen Jäh­zorn bei der klein­sten Ge­le­gen­heit; ge­walt­tä­tig ist er nicht. Die sanft­mü­ti­ge Mut­ter nennt ihn ei­nen »Teu­fel«. Im wei­te­ren Ver­lauf des Ro­mans wird man nicht nur für die­se Cha­rak­te­ri­sie­run­gen Be­le­ge ver­mis­sen.

Die Fa­mi­lie lebt ab­ge­schie­den; nur zu Fe­sten kom­men Städ­ter. Das Kind ent­wickelt ei­ne sa­di­sti­sche Ader, übt sich da­bei, im Flug Hor­nis­sen mit der Sche­re zu zer­schnei­den (ein­mal wird er von sie­ben Hor­nis­sen­sti­chen in ei­ner Art Ra­che­ak­ti­on ge­plagt und fast ge­tö­tet), fängt Fi­sche mit der Hand, die er dann er­sticken lässt und da­bei zu­schaut oder fängt Mäu­se, die er Kat­zen zum Spie­len über­reicht. Dass die Mut­ter um Gna­de für die Tie­re bit­tet, be­rührt ihn nicht. Mit zu­neh­men­dem Al­ter ent­wickelt der Er­zäh­ler ein ero­ti­sches Ver­hält­nis zu sei­ner Schwe­ster Mi­ra. Man er­fährt, dass das In­zest­ver­bot schon lan­ge auf­ge­ho­ben ist. Da­mit wirkt der Akt von Mi­ra und ih­rem Bru­der auf ei­ner ge­heim­nis­vol­len Fluss­in­sel mit dem Na­men »Me­so­po­ta­mi­en« nicht mehr un­ge­wöhn­lich. Von nun an wird die Schwe­ster idea­li­siert, er be­zeich­net sie als »Pha­rao­nin« (sich sel­ber als »Pha­rao« – ei­ne An­deu­tung an den In­zest im vor­christ­li­chen Ägyp­ten).

Der nor­ma­le Ab­lauf der Din­ge wird zer­stört, weil dem Va­ter ei­nes Ta­ges, am »Ne­po­muk­tag«, ein Un­glück pas­siert. Er macht bei der Durch­schleu­sung ei­nes Boo­tes ei­nen Feh­ler. Fünf Men­schen ster­ben in der to­sen­den Gischt, de­ren Ge­räusch von nun an den Er­zäh­ler fast nir­gend­wo mehr los­lässt. Die Be­schrei­bung wird wort­ge­wal­tig vor­ge­tra­gen – wie soll­te es bei Rans­mayr auch an­ders sein. In den Nach­ru­fen auf die fünf Op­fer klin­gen sie wie Hel­den. Der Tod die­ser Men­schen än­dert für den Er­zäh­ler al­les. Denn er glaubt, nein: er weiß, dass der Va­ter schul­dig ist. An­ders als die gän­gi­ge Er­zäh­lung, die von ei­nem Un­fall aus­geht, weiß er, dass es Mord war. Das der Va­ter ein Jahr da­nach ver­schwun­den ist – an­geb­lich wur­de er im to­sen­den Fluss leb­los trei­bend ge­se­hen, aber die Lei­che fand man nicht – ge­nügt ihm als Be­leg. Wäh­rend al­le an­de­ren glau­ben, der Schleu­sen­wär­ter hät­te Selbst­mord be­gan­gen und sich in den »Gro­ßen Fall« ge­stürzt, weiß es der Er­zäh­ler, sein Sohn, bes­ser.

Er wird zum di­plo­mier­ten »Hy­dro­tech­ni­ker« und steht da­mit in Dien­sten des »Syn­di­kats«, ei­nes trans­kon­ti­nen­ta­len und su­pra­na­tio­na­len Mo­no­po­li­sten, der sich welt­weit um Fluss- und Stau­be­gra­di­gun­gen küm­mert. Der Ro­man spielt in ei­ner Zeit, in der fos­si­le En­er­gien der Ver­gan­gen­heit an­ge­hö­ren. Was­ser ist in mehr­fa­cher Hin­sicht der ge­such­te­ste Roh­stoff. Zum ei­nen herrscht ei­ne glo­ba­le Süß­was­ser­knapp­heit, die mit­ver­ant­wort­lich zu der Zer­split­te­rung der Na­tio­nal­staa­ten ge­führt hat. Und zum an­de­ren geht es dar­um, Was­ser für En­er­gie­er­zeu­gung ein­zu­set­zen. Es sind Krie­ge mit zum Teil dra­stisch ge­führ­ten Mit­teln, bis hin zu bio­lo­gi­schen Waf­fen, mit de­nen die Trink­was­ser­vor­rä­te der Fein­des ver­gif­tet wer­den. Gleich­zei­tig for­dert der Kli­ma­wan­del Tri­but; ge­stie­ge­ne Mee­res­spie­gel ma­chen Land knap­per.

Kriegs­be­dingt dau­ern Über­see­rei­sen nicht mehr ein paar Stun­den, son­dern meh­re­re Ta­ge, in de­nen es von Vi­sa, Durch­rei­se­er­laub­nis­sen und vir­tu­el­len Zu­gangs­be­schrän­kun­gen nur so wim­melt und die Über­wa­chung um­fas­send ist. Als Hy­dro­tech­ni­ker ist er zwar pri­vi­le­giert, – sie bil­den ei­ne »Ka­ste neu­er Ari­sto­kra­ten« – den­noch bleibt man an die An­wei­sun­gen des Syn­di­kats ge­bun­den. Bei Zu­wi­der­hand­lun­gen wer­den Sank­tio­nen aus­ge­spro­chen, die zu schlech­te­ren Ar­beits­ein­sät­zen füh­ren.

Der Er­zäh­ler wird welt­weit für Pro­jek­te zur Was­ser­ge­win­nung oder ‑stau­ung ein­ge­setzt. Wie­viel Zeit ver­gan­gen ist, bleibt dif­fus. Er er­zählt von ei­nem Auf­ent­halt in Bra­si­li­en. Dann fährt er in das »Kö­nig­reich Kam­bo­dscha«. Die Or­te im Ro­man sind jetzt re­al ge­wor­den. Auch Kam­bo­dscha ist zer­rüt­tet von ei­nem lan­ge wäh­ren­den Bür­ger­krieg. In An­leh­nung und mit ver­blüf­fen­den Par­al­le­len zur den »Ro­ten Khmer« hat­te ei­ne ähn­li­che Grup­pie­rung, die »Wei­ßen Khmer«, für kur­ze Zeit ei­ne wei­te­re Schreckens­dik­ta­tur re-eta­bliert. Er kommt ins phi­lo­so­phie­ren über die Mem­bran, die den Men­schen von der Be­stie trennt. Als er bei ei­nem Fluss das Phä­no­men der Strö­mungs­um­kehr be­merkt (er scheint für kur­ze Zeit zu »sei­nen Quel­len zu­rück­zu­keh­ren«), kommt ihm ein Ge­dan­ke: Die »Wei­ßen Khmer« hät­ten die Strö­mungs­um­kehr »als den ein­zi­gen Weg­wei­ser zu­rück ins Ver­gan­ge­ne ge­se­hen, als die Zu­kunft Kam­bo­dschas.« Die neue herr­schen­de Dik­ta­tur soll aus der »bäu­er­li­chen Ar­beit neu er­blü­hen«. Ei­ne Vi­si­on von ei­ner Zu­kunft durch He­roi­sie­rung der Ver­gan­gen­heit, ei­ne kul­tu­rel­le Re­gres­si­on hin zur glor­rei­chen Ang­kor-Zeit mit Ter­ror­me­tho­den.

Wer wei­ter­füh­ren­des er­war­tet, wird ent­täuscht. Statt­des­sen wird man Zeu­ge ei­ner Me­kong-Fahrt. Ei­gent­lich hät­te Mi­ra mit­fah­ren sol­len – die­se Rei­se war ihr Traum und er er­war­te­te die Schwe­ster ver­geb­lich am Flug­ha­fen. Wo­mög­lich hat­te sie sei­ne Nach­rich­ten nicht emp­fan­gen kön­nen – die Kon­trol­le und da­mit auch die Zen­sur der Kom­mu­ni­ka­ti­on ist all­ge­gen­wär­tig; zu­dem ist das »gro­ße Netz« nicht di­rekt zu­gän­gig ist. Er be­schließt, die Su­che nach dem ver­schol­le­nen Va­ter auf­zu­schie­ben und sei­ne Schwe­ster, die Quel­le des »Zauber[s] der Er­in­ne­run­gen« auf­zu­su­chen.

Ein­fach ist das nicht. Zum ei­nen wur­de er in­ner­halb des Syn­di­kats we­gen nicht nä­her de­fi­nier­ter Ver­ge­hen für drei Mo­na­te straf­ver­setzt – und zwar ge­nau auf die Stel­le sei­nes Va­ters als Fall­mei­ster in Ban­don. An­de­rer­seits war der neue Auf­ent­halts­ort von Mi­ra – an der El­be – Kriegs­ge­biet: Hol­stein ge­gen Ham­burg. Schließ­lich trifft er nach ei­ner Odys­see die Schwe­ster; ihr Mann ist Sol­dat im Krieg. Sie lebt in ei­nem Leucht­turm; ihr Schlaf­zim­mer ist ein »Bern­stein­zim­mer«. Sei­ne An­näh­rungs­ver­su­che wehrt Mi­ra mehr­mals und ent­schie­den ab. Schließ­lich kann er nicht wi­der­ste­hen und drückt sie fest an sich. Da­bei ge­schieht ein Un­glück: Er bricht ihr den Hals­wir­bel – Mi­ra ist tot. Er dra­piert die Lei­che der­art, dass es wie in Un­fall aus­sieht. Ihm bricht das Herz, als er den Ret­tungs­hub­schrau­ber sieht, der die Lei­che an ei­nem Sack in der Luft bau­meln lässt. Aber er hat ein neu­es Rei­se­ziel. Er will zu Ja­na, sei­ner Mut­ter. Hier hofft er auf Ver­ge­bung für sei­ne Tat.

Auch die­se Rei­se wird in al­len De­tails ge­schil­dert. Schein­bar ent­le­digt sich der Er­zäh­ler mit ei­nem Trick der all­ge­gen­wär­ti­gen Über­wa­chung, was über­ra­schend ein­fach zu sein scheint. Von nun an muss er, wenn er wei­ter­kom­men möch­te, Men­schen be­stechen. Apo­ka­lyp­ti­sche Land­schaf­ten, ver­wü­stet und ent­völ­kert, mit ver­gif­te­ten Seen­land­schaf­ten tun sich auf. Das stört den Er­zäh­ler kaum. So wacht er ein­mal auf mit ei­ner epi­pha­nisch er­zähl­ten Aus­sicht, die ziem­lich rasch in den Ha­fen des my­tho­lo­gi­schen Edel-Kit­sches ein­fährt und als ex­em­pla­risch für die Er­zähl­wei­se die­ses Ro­mans ge­se­hen wer­den kann:

»Was für ein Mor­gen, was für ei­ne Stun­de, als ich von ei­nem Hö­hen­zug des istri­schen Nie­mands­lan­des das von den Stäm­men ei­nes lich­ten Pi­ni­en­wal­des wie ver­git­ter­te, schein­bar fried­li­che Blau die­ses Mee­res der He­ro­en sah. Es war die­ses Blau ge­we­sen, das die Schif­fe des Odys­seus und des Aga­mem­non ge­tra­gen hat­te. Und die­ses Blau hat­te sich in den Au­gen von He­le­na und Pe­ne­lo­pe und der me­lan­cho­li­schen Kö­nigs­toch­ter Nau­si­kaa ge­spie­gelt. Die Ka­pi­tä­ne der Pha­rao­nen hat­ten ih­re Trei­ban­ker vor fast fünf­tau­send Jah­ren vor den Mau­ern der Ha­fen­stadt Rha­co­tis ge­lich­tet, um ih­rem all­mäch­ti­gen Herr­scher nach lan­gen Irr­fahr­ten durch die­ses Blau die Nach­richt zu über­brin­gen, daß die Welt grö­ßer als je­der im­pe­ria­le Traum war, den man mit Py­ra­mi­den ver­herr­li­chen konn­te.«

Das et­was über­ra­schen­de En­de der Ge­schich­te soll hier nicht er­zählt wer­den. Der letz­te Satz sug­ge­riert, dass der Er­zäh­ler »ins Meer« geht, was je­doch nicht zu ei­nem Frei­tod ge­führt ha­ben kann, denn sonst wä­re die Er­zäh­lung nicht mög­lich ge­we­sen. Ob die Welt seit­dem wie­der be­frie­det ist, bleibt eben­so un­klar.

Chri­stoph Rans­mayr ist ein groß­ar­ti­ger Schrift­stel­ler. Man kennt und liebt Bü­cher wie »Die letz­te Welt«, sei­nen dys­to­pi­schen Nach­welt­kriegs­ent­wurf »Mor­bus Ki­ta­ha­ra«, die wun­der­ba­ren Rei­se­er­zäh­lun­gen aus »At­las ei­nes ängst­li­chen Man­nes« oder die fei­ne Al­le­go­rie auf Macht und Ver­gäng­lich­keit bei »Cox oder Im Lauf der Zeit«. Um­so über­rasch­ter und fast ent­setzt ist man von »Der Fall­mei­ster«.

Zu­nächst stößt man (man? nein: ich) auf ei­ne freie, spie­le­ri­sche Ver­wen­dung von Mo­ti­ven sei­nes Kol­le­gen Pe­ter Hand­ke. Et­wa mit dem »Gro­ßen Fall«, Hand­kes »ängst­lich-uto­pi­schen« Text (Da­nie­la Stri­gl) von 2011. Oder der Salz­kult der Ge­mein­de Ban­don, die an »Ka­li« den­ken lässt. Aber das wä­re Stoff für Ex­ege­ten; ein Sei­ten­arm. Die Ver­stö­rung über die­sen Ro­man hat an­de­re Grün­de.

Da ist gleich zu Be­ginn die Theo­rie des Er­zäh­lers über den Va­ter als Mör­der. Und dann zieht er die Par­al­le­le von den Mör­dern der »Wei­ßen Khmer« zu sei­nem Va­ter, der, wie die­se, ein »Ver­irr­ter« ge­we­sen sei. Mit dem Akt, die Men­schen in den Tod zu schicken, hät­te er die al­te Be­deu­tung des Fall­mei­ster-Be­rufs wie­der­her­stel­len wol­len. Er war nun von der »Bös­ar­tig­keit« des »ver­schol­le­nen Man­nes« über­zeugt. Ist die Aus­sa­ge zu Be­ginn, der Va­ter sei ein »Mann der Ver­gan­gen­heit« ge­we­sen, so ge­meint? Die­ses »Mo­tiv« des Va­ters scheint arg aus der Luft ge­grif­fen und ver­är­gert den Le­ser, weil die Op­fer-Di­men­sio­nen nicht ge­wahrt wer­den. Zu­dem bleibt die Fra­ge nach der Be­weis­füh­rung. Oder ist es Aus­druck ei­nes Selbst­has­ses, der über den Um­weg des Va­ters zeigt, in dem er sich als »Sohn ei­nes Mör­ders« be­zeich­net?

Zwi­schen­zeit­lich ist man mehr an den Schil­de­run­gen die­ses aus dem Fu­gen ge­ra­te­nen, in Krie­gen er­sticken­den Eu­ro­pa in­ter­es­siert als am Schick­sal des Er­zäh­lers. Aber kann man ei­nen Ro­man los­ge­löst von sei­ner Haupt­fi­gur le­sen? Zu­mal, wenn es sich um ei­ne Dys­to­pie han­delt. Le­ben sol­che Tex­te nicht zu­letzt vom Ge­gen­satz zwi­schen der Welt und dem Schick­sal ihrer/ihres »Hel­den«? Ih­re meist nach au­ßen ver­bor­ge­ne Op­po­si­ti­on zur herr­schen­den Ord­nung ma­chen sie zu »Men­schen in der Re­vol­te«, ob sie nun Win­s­ton Smith oder Guy Mon­tag hei­ßen. Selbst Fran­çois, der sich op­por­tu­ni­stisch der neu­en Ord­nung un­ter­wirft, schafft es, den Le­ser in den Bann zu zie­hen – und wenn es Wi­der­spruch ist. Der Er­zäh­ler bei Rans­mayr hin­ge­gen fügt sich oh­ne Mur­ren, macht nach der Fest­stel­lung, dass sein Va­ter wie ein Mas­sen­mör­der ge­strickt war ei­ne Fluss­fahrt auf dem Me­kong und ver­sucht da­nach, sei­ne in­ze­stuö­se Lie­be auf­le­ben zu las­sen. Die Schil­de­rung der Kriegs­ge­bie­te ist rein de­skrip­tiv; die Ver­gif­tung von Seen bei­spiels­wei­se wird von ihm nicht kom­men­tiert.

Rans­mayrs Er­zäh­ler ist, das merkt man früh, kein In­tel­lek­tu­el­ler, nicht ein­mal ein be­son­ders ge­witz­ter Mensch. Er ist aber gleich­zei­tig in der La­ge, in pa­the­tisch auf­ge­la­de­ner Spra­che mit über­bor­den­den my­tho­lo­gi­schen Ver­wei­sen zu spre­chen. Auch die bis­wei­len poe­ti­schen Er­zäh­lun­gen (z. B. auch der in­ze­stuö­se Lie­bes­akt) pas­sen nicht zum an­son­sten eher schlich­ten Ge­müt die­ses Hy­dro­tech­ni­kers. Ei­ne Ent­wick­lung wäh­rend des Ro­mans ist auch nicht fest­zu­stel­len, au­ßer der Tat­sa­che, dass er plötz­lich be­merkt, dass sich sein Va­ter und sei­ne Mut­ter durch­aus ge­liebt ha­ben. Aber auch das bleibt blo­ße Be­haup­tung. Den »auf­ge­bla­se­nen Be­nen­nungs­wahn« der Klein­staa­ten, die sich als »Graf­schaft« oder »Her­zog­tum« er­hö­hen, könn­te man auch auf sei­ne Schil­de­run­gen an­wen­den.

Die letz­te Ret­tung für die­sen miss­glück­ten Ro­man geht da­hin, ihn als po­li­ti­sches und öko­lo­gi­sches Ma­ni­fest zu le­sen: Seht, so wird es einst aus­se­hen, wenn ihr den Kli­ma­wan­del, die Eu­ro­päi­sche Uni­on, die zu er­war­ten­den Mi­gra­ti­ons­strö­me, nicht mei­stert. Die Red­un­dan­zen, die in der ste­ti­gen Schil­de­run­gen der Klein­staa­te­rei­en, de­ren krie­ge­ri­sche Aus­ma­ße und die im­mer wie­der ein­ge­streu­ten Hin­wei­se auf den An­stieg des Mee­res­spie­gels spre­chen da­für. Man kann den Text mit ent­spre­chen­dem Wohl­wol­len auch als Plä­doy­er ge­gen die all­seits auf­kom­men­den re­stau­ra­ti­ven, po­pu­li­sti­schen Be­we­gun­gen le­sen. Re­gres­si­on und Na­tio­na­lis­mus tö­ten, so die plat­te The­se, die mit den Mor­den der (fik­ti­ven) Wei­ßen und re­al exi­stie­ren­den Ro­ten Khmer ge­stützt wer­den soll. So als hät­te es Mas­sen­mor­de in pro­gres­siv da­her­kom­men­den po­li­ti­schen Sy­ste­men nie ge­ge­ben.

Die Be­schwö­rung my­thi­scher Wel­ten, Aus­druck ei­ge­ner Rück­wärts­ge­wandt­heit wie von den­je­ni­gen, de­nen er Mord­lust un­ter­stellt, ist in Wirk­lich­keit nur ei­ne Mi­schung aus Bom­bast und Schmock. »Re­den wür­de ich, re­den, er­zäh­len, was ge­sche­hen war, bis sich rest­los in Wor­te, in Ge­schich­te ver­wan­del­te, was nur als Ge­schich­te zu er­tra­gen war.« Mit die­sem An­spruch be­ginnt der Er­zäh­ler nach dem »Mord« an sei­ner Schwe­ster die Rei­se zur Mut­ter. Es hät­te das Pro­gramm die­ses Ro­mans sein kön­nen. Aber lei­der ver­traut da je­mand nicht auf sein Er­zäh­len, auf sei­ne Ver­wand­lungs­kunst. Rans­mayrs Er­zäh­ler schmilzt wäh­rend der 200 Sei­ten des Ro­mans im kli­mage­wan­del­ten Dau­er­kriegs­eu­ro­pa wie ein Schnee­mann in der Son­ne. Man kommt aus dem Be­dau­ern nicht mehr her­aus.

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Sehr span­nend! Die Dys­to­pien sind nicht so leicht zu ver­fas­sen, wie man an­neh­men möch­te: ein­fach die ver­füg­ba­ren dra­ma­ti­schen Vi­sio­nen (Pres­se) auf­grei­fen und mit leb­haf­ten Be­schrei­bun­gen auf­mo­del­lie­ren?! Tat­säch­lich hält sich Rans­mayr strikt an das po­li­ti­sche Dreh­buch un­se­rer Ta­ge: Eu­ro­pa voll­enden, Kli­ma­wan­del ab­wen­den, Mi­gran­ten um­ar­men und ver­tei­len... Das Ge­gen­teil wird dann zur Grund­la­ge des Ro­mans, und man ahnt die Schreib­mo­ti­va­ti­on: ein mög­li­ches Schei­tern der Po­li­tik soll ge­bannt wer­den. Er­zäh­len, Er­zäh­len, da­mit es nicht so kommt, weil das al­les nicht aus­zu­hal­ten wä­re...
    Ich mei­ne, das kann nicht gut ge­hen. Die­se Vi­sio­nen rau­ben den Fi­gu­ren ih­ren Frei­raum und ih­re Wür­de. Das wä­re ja so, als ob al­le Men­schen nur noch »Kraft aus ih­ren Ab­grün­den« be­zie­hen. In­zest?! – Why not! – - Ge­nick­bruch?! – Sor­ry!
    In den Dys­to­pien ist je­de Mo­ral auf­ge­ho­ben. An­ders als im Dra­ma, wo die Mo­ral (und die Mög­lich­keit der Über­schrei­tung) ins Un­glück führt. Aber wird der Mensch (prä­sent in den Fi­gu­ren) da­mit in­ter­es­san­ter?! Ei­gent­lich nicht. Wie Sie so schön be­mer­ken: man fängt an, sich für die Klein­staa­ten­krie­ge zu in­ter­es­sie­ren, wenn man merkt, dass der Er­zäh­ler »leer läuft«...

  2. Die pa­the­tisch auf­ge­la­de­ne Spra­che, der Bom­bast und Schmock, das sind lei­der al­les Be­fun­de, die schon auf den vo­ri­gen Ro­man, »Cox«, zu­tref­fen. Ei­ne gro­ße Ent­täu­schung. Mit der Spra­che bis kurz vor die Kitsch­gren­ze zu ge­hen, ist ein ris­kan­tes Ver­fah­ren, das sich in der Li­te­ra­tur sehr aus­zah­len kann, wenn es ge­lingt. Rans­mayr scheint es aber nicht mehr zu ge­lin­gen, das spä­te Werk lan­det im Kitsch.

  3. Bei »Cox« bliebt Rans­mayr beim The­ma, bei dem eng­li­schen Uhr­ma­cher und des­sen Ar­beit und Pro­ble­me in Chi­na. Da gab es kei­ne Aus­flü­ge in die grie­chi­sche My­tho­lo­gie. Der Ro­man ent­wickel­te ei­ne fei­ne Span­nung, ob bzw. wie dem Uhr­ma­cher das Kunst­stück ge­lingt, ei­ne Art Per­pe­tu­um mo­bi­le zu kon­stru­ie­ren. Und was ge­sche­hen wür­de, wenn es nicht ge­lingt. Das wa­ren mei­len­weit vom »Fallmeister«-Bombast ent­fernt.