Pro­vinz­kri­ti­ker

Ver­spä­te­te Be­mer­kun­gen zu ei­ner Pseu­do­kri­tik über Ste­phan Tho­mes Buch »Grenz­gang«

Ste­phan Thome hat ei­nen Feh­ler ge­macht. Er hat­te sich in der Ku­lis­se sei­nes Hei­mat­or­tes Bie­den­kopf für die Li­te­ra­tur­bei­la­ge der »Zeit« (Ok­to­ber 2009) fo­to­gra­fie­ren las­sen (die Bil­der sind nicht on­line). Ei­ne Bild­un­ter­schrift lau­tet: »Ste­phan Thome lebt zwar ge­ra­de in Tai­wan, geht hier aber im hei­mat­li­chen Bie­den­kopf für uns in die Hocke.« Je­der, der auch nur ei­nen Fun­ken Ge­fühl für Spra­che hat, er­kennt die ver­bor­ge­nen In­vek­ti­ven. Zu­sammen mit der Re­zen­si­on von Iris Ra­disch er­gibt dies ei­ne schwung­vol­le De­nun­zia­ti­on des Ro­mans »Grenz­gang«.
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Ver­such über die Dicht­kunst im In­ka­reich (I)

Pro­log

Apo­lo­gie an ent­setz­te Wis­sen­schaft­s­pu­ri­sten

Ich ha­be in mei­ner Ju­gend lan­ge ge­nug (natur)wissenschaftlich ge­ar­bei­tet. Jetzt ge­nie­sse ich die Nar­ren­frei­heit des Al­ters und neh­me mir her­aus, mich nur noch mit Din­gen zu be­fas­sen, die mich wirk­lich in­ter­es­sie­ren (mehr noch: die ich lie­be), und dies vor al­lem auf ei­ne Wei­se, die mir ent­spricht. Ich mag nicht ei­nen ein­zi­gen wei­te­ren Tag mei­nes Rest­le­bens in Ernst­haft ver­brin­gen. Ei­ner­seits ha­be ich den Dog­men der Wis­sen­schaft („ob­jek­tiv, re­pro­du­zier­bar, wert­frei“) längst ab­ge­schwo­ren, denn sie sind pu­re Lü­ge und Selbst­täu­schung, an­de­rer­seits wä­re es oh­ne­hin ver­mes­sen, ei­ne Ar­beit auf ei­nem Ge­biet, in dem ich nicht qua­li­fi­ziert bin, als „wis­sen­schaft­lich“ zu be­zeich­nen. Ich ste­he, ganz in Mon­tai­gnes Tra­di­ti­on, zu ra­di­ka­ler Sub­jek­ti­vi­tät, auch wenn ich nicht den Schneid vor­wei­sen kann, der ei­nem raf­fi­nier­ten Es­say­isten an­ste­hen wür­de. Ich ver­ber­ge per­sön­li­che Vor­lie­ben und Ab­nei­gun­gen nicht, er­grei­fe Par­tei, beu­te die ei­ge­ne In­tui­ti­on, Er­fah­rung und das Hö­ren­sa­gen ge­nau­so aus wie die Quel­len­tex­te, fal­le mir mun­ter selbst ins Wort, schwei­fe ab, wo et­was zu span­nend ist, um es zu un­ter­schla­gen, ob­wohl es schein­bar nicht zum Kon­text ge­hört, und las­se auch mal Fün­fe gra­de sein, wenn sich die Re­fe­ren­zen wi­der­spre­chen und die Re­cher­che vom Hun­dert­sten ins Tau­send­ste führt. Da­bei ver­su­che ich aber, ganz wahr­haf­tig und ein biss­chen se­ri­ös zu blei­ben – wo kei­ne Ver­si­on schö­ner ist als die an­de­re, ra­te ich si­cher nicht ins Blaue hin­aus, son­dern prak­ti­zie­re den Über­mut zur Lücke. Für all die ele­gan­ten Un­schär­fen über­neh­me ich die vol­le Ver­ant­wor­tung. Ich wa­ge zu be­haup­ten, dass die­se Vor­ge­hens­wei­se durch­aus im Sin­ne der an­di­nen Dich­ter und Sän­ger und über­haupt kom­pa­ti­bel mit dem Geist des ru­na si­mi ist.


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Die­ter We­del: Gier / ARD

Die­ter We­del hat ei­nen Film über die »Gier« ge­macht. Über Fi­nanz­jon­gleu­re, die An­le­gern sa­gen­haf­te Ren­di­ten ver­spre­chen. Wo­bei die mei­sten die­ser An­le­ger den Un­ter­schied zwi­schen Ren­di­te und Ge­winn noch nicht ein­mal so ge­nau ken­nen, wes­halb man die ver­ein­fa­chen­de For­mu­lie­rung »Fak­tor« ver­wen­det. »Fak­tor 13« be­deu­tet, dass man das 13fache des »ein­ge­setz­ten« Gel­des zu­rück­be­kom­men soll. Bei die­ser Art Ver­spre­chen fragt of­fen­sicht­lich nie­mand, wie dies ge­sche­hen soll. Die An­ti­zi­pa­ti­on des er­war­ten­den Ge­winns ge­nügt zu­erst ein­mal.
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Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

Tariq Ramadan: Muhammad

Ta­riq Ra­ma­dan: Mu­ham­mad

‘O ihr, die den Glau­ben ab­lehnt, [de­ren Her­zen ver­schlei­ert sind!] Ich ver­eh­re nicht, was ihr ver­ehrt, noch ver­ehrt ihr, was ich ver­eh­re! Ich bin kein Ver­eh­rer des­sen was ihr ver­ehrt, noch seid ihr Ver­eh­rer des­sen, was ich ver­eh­re. Euch eu­re Re­li­gi­on, und mir mei­ne Re­li­gi­on.’

Als ich das er­ste Mal da­von hör­te, dass Pier Pao­lo Pa­so­li­ni ei­nen Film über das Mat­thä­us­evan­ge­li­um ge­macht hat­te, dach­te ich, dass die­ser Film wohl ein Rie­sen­skan­dal ge­we­sen sein muss. Schließ­lich war Pa­so­li­ni Kom­mu­nist, Non­kon­for­mist und vor al­lem: Athe­ist. Von sei­ner Ho­mo­se­xua­li­tät, die in vie­len eu­ro­päi­schen Län­dern da­mals noch ganz of­fi­zi­ell als Ver­bre­chen galt und noch heu­te von der ka­tho­li­schen Kir­che ver­teu­felt wird, ganz zu schwei­gen. Aber als ich dann zum er­sten Mal den Film sah, war ich über­rascht. Und ver­zau­bert.

Der Film ist von 1964. Ge­dreht mit Lai­en­schau­spie­lern und in schwarz-weiß. Nichts wur­de hier hin­zu­ge­fügt; es ging tat­säch­lich um »Werk­treue«. Sug­ge­sti­ve Bild­spra­che und Mu­sik er­zeug­ten ei­ne Stim­mung, die ei­nem plötz­lich die Chan­ce bot, all dies für wahr zu hal­ten. So auch das na­tur­ge­mäß schwer zu glau­ben­de En­de. Der in­tel­lek­tu­ell-kor­rek­te Aus­weg ei­ner nur me­ta­pho­risch zu ver­ste­hen­den Auf­er­ste­hung war plötz­lich ei­ne all­zu ba­na­le Aus­re­de, der den Zau­ber die­ses Films, die­ser Si­tua­ti­on, die­ser Kon­stel­la­ti­on mut­wil­lig zer­stört hät­te. Und so re­du­zier­te Pa­so­li­ni Je­sus von Na­za­reth nicht auf die Rol­le ei­nes So­zi­al­re­vo­lu­tio­närs (die­se Sicht gab es frei­lich auch), son­dern zeig­te des­sen Spi­ri­tua­li­tät als Ge­wiss­heit. Das brach­te ihm ei­ni­ges Un­ver­ständ­nis ein, weil sich vie­le von Pa­so­li­ni ei­ne »ra­di­ka­le­re« Sicht­wei­se wünsch­ten. Aber ra­di­ka­ler konn­te es gar nicht sein, es war nur nicht die »er­war­te­te« Ra­di­ka­li­tät (sprich: Geg­ner­schaft). Die Gret­chen­fra­ge lau­te­te: War Pa­so­li­ni wirk­lich ein Athe­ist? Die äs­the­ti­sche Ant­wort wä­re: Was spielt das für ei­ne Rol­le?
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Mat­thi­as Horx: Das Buch des Wan­dels

Matthias Horx: Das Buch des Wandels

Mat­thi­as Horx: Das Buch des Wan­dels

Das Pseud­onym von Mat­thi­as Horx in »World of War­craft« lau­tet Heil­prie­ster Pla­ne­ta­ri­us. Als man das un­ge­fähr in der Mit­te des Bu­ches er­fährt, ist man nicht mehr son­der­lich über­rascht. Hier ist je­mand, der nach lan­ger (und sug­ge­sti­ver) Re­de mit for­schem Ge­stus und an­gel­säch­sisch an­ge­hauch­tem Op­ti­mis­mus sei­nem Le­ser auf die Schul­ter klopft und »al­les Gu­te« wünscht. Lässt man sich auf sein »Buch des Wan­dels« ein, bleibt man zu­ver­läs­sig von den gro­ßen Ka­ta­stro­phen ver­schont. Fast ne­ben­bei soll sich beim Le­ser das woh­li­ge Ge­fühl ein­stel­len, Zig­tau­sen­de Sei­ten Lek­tü­re ge­spart zu ha­ben. Nach­fra­ger, Ab­wä­ger, Skep­ti­ker, Kri­ti­ker – sie ge­hören al­le­samt der Grup­pe der Alar­mi­sten an. Das hat man end­lich schwarz auf weiß. Da­ne­ben gibt es noch die mehr oder we­ni­ger gleich­gül­ti­gen Stoi­ker und, nach­dem die­se Zweiklas­sengesellschaft wi­der Er­war­ten doch nicht aus­reicht, kom­men noch die Wan­del­hek­ti­ker à la Slo­ter­di­jk da­zu, die nur mit Im­pe­ra­ti­ven agie­ren und re­gle­men­tie­ren kön­nen. Ein schö­ner Be­leg da­für, dass Horx Slo­ter­di­jks Buch nicht ver­stan­den hat. Aber wenn es nur das wä­re… Wei­ter­le­sen

Os­car Heym: Die Re­ser­ven

Oscar Heym: Die Reserven

Os­car Heym: Die Re­ser­ven


Deutsch­land 1976, mit­ten im »Kal­ten Krieg«. Die Öl­kri­se ist zwar vor­über (die Sonn­tags­fahr­ver­bo­te wur­den im De­zem­ber 1973 auf­ge­ho­ben), aber der Schock sitzt tief. Wen­zel Hoff­mann, deutsch-ame­ri­ka­ni­scher Geo­lo­ge kommt nach Deutsch­land, um in halb-ge­hei­mer Mis­si­on nach Öl zu boh­ren. Er wacht aus dem Flug aus blei­er­ner Mü­dig­keit auf und stellt fest, dass sei­ne Un­ter­la­gen ver­schwun­den sind. Er rennt zu­rück zum Flie­ger, trifft dort aber nur ei­nen al­ten Mann, der ihn kurz an sei­nen Va­ter er­in­nert, und die at­trak­ti­ve Ste­war­dess Mar­ga­re­the (Mag). Bei­de kön­nen ihm nicht hel­fen; die Un­ter­la­gen blei­ben un­auf­find­bar. Mag und Wen­zel ver­brin­gen ent­ge­gen je­der Pla­nung meh­re­re Ta­ge zu­sam­men und ge­ben sich hem­mungs­lo­sem Sex hin.

Wie ein klei­ner Tau­ge­nichts wird die­ser Wen­zel ein­ge­führt, der mit meh­re­ren Ta­gen Ver­spä­tung in dem fik­ti­ven (?) Ort Gro­nau im deutsch-deut­schen Grenz­ge­biet ein­trifft (das rea­le Gro­nau-Lei­ne stimmt geo­gra­fisch nicht ganz mit dem Er­zählort über­ein; al­ler­dings gibt es tat­säch­lich Erd­öl­vor­kom­men in Nie­der­sach­sen die ge­för­dert wer­den). Wei­ter­le­sen

Odes­sa Trans­fer – Nach­rich­ten vom Schwar­zen Meer (Hrsg.: Ka­tha­ri­na Raa­be und Mo­ni­ka Sznaj­der­man)

Odessa TransferIn »Odes­sa Trans­fer« be­gibt man sich in drei­zehn Etap­pen auf ei­ne Rei­se rund um das Schwar­ze Meer, wo­bei, wie Ka­tha­ri­na Raa­be als Mit­her­aus­ge­be­rin die­ses Bu­ches im Vor­wort fest­stellt, vie­le Bei­trä­ge här­ter und po­li­ti­scher aus­ge­fal­len sei­en, als man dies er­war­tet hat­te. Und der Le­ser schnauft mit­un­ter über die­sen tat­säch­lich ver­bis­se­nen po­li­ti­schen Im­pe­tus, der ei­ni­ge die­ser Er­zäh­lun­gen, Es­says und Re­por­ta­gen (es gibt auch ein Ge­dicht – und was für ei­nes!) be­stimmt und muss da­bei wohl kon­sta­tie­ren, dass die­se Re­gi­on vor­erst lei­der kei­ne Post­kar­ten­idyl­le ist, in der zwan­zig Jah­re nach Auf­he­bung der bi­po­la­ren Welt per Knopf­druck pa­ra­die­si­sche Zu­stän­de ein­ge­tre­ten sind.

Es be­ginnt mit Aka Mor­chil­ad­zes wun­der­ba­rer Orts­er­zäh­lung über die ge­or­gisch-tür­ki­sche Grenz­stadt Ba­tu­mi, wel­che den Schatz der Ewig­keit be­sitzt und im­mer auch nach Flucht riecht und dem Au­tor ge­lingt es auf die­sen noch nicht ein­mal zwan­zig Sei­ten fast die gan­ze Ge­schich­te vom 15. Jahr­hun­dert über Sta­lin bis in die Ge­gen­wart die­ses Or­tes zu evo­zie­ren und auf die Fra­ge, was wohl das Schön­ste an Ba­tu­mi sei, gibt es die­se klei­ne Elo­ge (und für ei­nen Mo­ment möch­te man so­fort dort hin): Wei­ter­le­sen

Der Lüg­ner

Nor­bert Lam­mert scheint Stand­pau­ken zu lie­ben. Als sich der neue Bun­des­tag kon­sti­tu­ier­te, be­schimpf­te er die öf­fent­lich-recht­li­chen Me­di­en, die­se Ver­an­stal­tung in den Spar­ten­ka­nä­len zu ver­stecken. Da hat­te er nicht ganz un­recht, auch wenn die­se Schel­te ein biss­chen Ab­len­kungs­ma­nö­ver war – sit­zen noch in den Gre­mi­en der öf­fent­lich-recht­li­chen An­stal­ten ge­nug Po­li­ti­ker.

Jetzt hat sich Nor­bert Lam­mert wie­der zu Wort ge­mel­det. Er ta­delt das Auf­tre­ten der Re­gie­rung und ins­be­son­de­re das so­ge­nann­te »Wachs­tums­be­schleu­ni­gungs­ge­setz«, in dem un­ter an­de­rem der Um­satz­steu­er­satz für Ho­tels ge­senkt wur­de. Auch hier stim­men ihm si­cher­lich vie­le zu. Wei­ter­le­sen