Ster­ne be­trach­ten

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 6

Ich muss hier weg. Mein Fahr­zeug schlägt Wur­zeln. In mir macht sich ei­ne Star­re breit. Al­les be­wegt sich, nur ich nicht. Leu­te auf den Frei­trep­pen von Dom und Al­tem Mu­se­um, Leu­te im Lust­gar­ten, Rad­fah­rer, Fuß­gän­ger, Au­tos. Die Am­pel, ein Stun­den­glas. Hal­ten-War­ten-Wei­ter­fah­ren, ge­hen, stol­pern, Bag­gi schie­ben, Tü­ten schlep­pen, Stadt­plan le­sen, Fo­tos ma­chen, al­les be­wegt sich, bloß ich nicht. Ob es mir heu­te so ge­hen wird wie der Kol­le­gin, die neu­lich ins­ge­samt fünf Stun­den an zwei Stand­plät­zen ge­stan­den hat, oh­ne dass ir­gend­wer hät­te ein­stei­gen wol­len, die dar­auf­hin rein­ge­fah­ren und zehn Me­ter vor der Ga­ra­ge von zwei char­man­ten Da­men an­ge­hal­ten wor­den ist und dann mit de­nen drei Stun­den spa­zie­ren fuhr und hin­ter­her zum Es­sen ein­ge­la­den wur­de? Man darf so et­was nicht er­war­ten, so et­was tritt grund­sätz­lich nur un­er­war­tet ein. Ich muss al­so an et­was an­de­res den­ken. Zum Glück sind heu­te die Pan­flö­ten­ter­ro­ri­sten nicht da. Mir fällt, ob ich es will oder nicht, die schwä­bi­sche Fa­mi­lie von vor­hin wie­der ein.

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Ro­ger Wil­lem­sen: Die En­den der Welt

Roger Willemsen: Die Enden der Welt
Ro­ger Wil­lem­sen: Die En­den der Welt

Von Blai­se Pas­cal sind zwei Aus­sprü­che über das Rei­sen über­lie­fert. Zu­nächst der Leit­spruch al­ler Rei­se­muf­fel: »Al­les Un­heil der Men­schen kommt da­her, daß sie nicht ru­hig zu Hau­se blei­ben kön­nen«. Und schließ­lich das heim­li­che Mot­to all je­ner Fo­to­gra­fien bzw. Vi­deo­fil­mer, die Zu­hau­se­ge­blie­be­ne ge­le­gent­lich an den Rand des Wahn­sinns trei­ben oder ge­trie­ben ha­ben: »Al­lein aus Freu­de am Se­hen und oh­ne Hoff­nung, sei­ne Ein­drücke und Er­leb­nis­se mit­tei­len zu dür­fefn, wür­de nie­mand über das Meer fah­ren.« Der er­ste Satz ist zu tri­vi­al, dass er von Ro­ger Wil­lem­sen in sei­nem Er­zäh­lungs­band »Die En­den der Welt« Ver­wen­dung fin­den könn­te und fin­det al­len­falls noch ei­nem Be­gleit­schrei­ben wie die­sem Ver­wen­dung. Und der zwei­te Satz wä­re in An­be­tracht der Gü­te der Rei­se­be­ob­ach­tun­gen, ‑im­pres­sio­nen, und ‑re­fle­xio­nen die­ses Bu­ches ei­ne Un­ver­schämt­heit ge­gen­über dem Au­tor.

22 Rei­se­er­zäh­lun­gen aus drei­ßig Jah­ren sind hier ver­sam­melt. So un­ter­schied­lich sie sind – ih­re Klam­mer ist die Su­che, die sich im Ti­tel ma­ni­fe­stiert: Die Su­che nach dem/den Ende/n der Welt; ei­nem Platz, der dann viel­leicht der Ort zum Wirk­lich-Wer­den ist. Manch­mal fragt sich der Le­ser: Hat er es nicht dies­mal ge­fun­den? In Pa­ta­go­ni­en, Isaf­jör­dur oder Tim­buk­tu? In der Klau­stro­pho­bie der Wei­te auf Ton­ga? Oder viel­leicht am Nord­pol oder auf Kamt­schat­ka?

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Mo­nod und Sar­ra­zin

Ich ha­be Mo­n­ods Buch nach et­li­chen Jah­ren wie­der in die Hand ge­nom­men, weil ich mich an ei­ne Stel­le er­in­ner­te, die an­schei­nend bei Thi­lo Sar­ra­zin wie­der auf­taucht war.

Auf et­wa ein­ein­halb Sei­ten streift Mo­nod in sei­ner knap­pen, tref­fen­den Art ein ge­sell­schafts­po­li­ti­sches The­ma und stellt ei­ne The­se auf, die man als ei­nen der Haupt­punk­te (wenn nicht so­gar den Kern) von Sar­ra­zins Ar­gu­men­ta­ti­on be­zeich­nen kann.

Mo­nod dis­ku­tiert die Be­deu­tung von Spra­che und Kul­tur für die Evo­lu­ti­on un­se­res Ge­hirns und den Zu­sam­men­halt von Grup­pen. Kul­tur war ein be­deu­ten­der Se­lek­ti­ons­fak­tor, al­ler­dings […] nur bis zu dem Au­gen­blick, wo sich we­gen der zu­neh­men­den Ge­schwin­dig­keit der Kul­tur­ent­wick­lung die­se und die ge­ne­ti­sche Evo­lu­ti­on voll­stän­dig von ein­an­der lö­sen soll­ten.

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Komm-Pot

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand
Un­sicht­ba­res Ko­mi­tee: Der kom­men­de Auf­stand

»Der kom­men­de Auf­stand« im Spie­gel des mo­der­nen An­ar­chis­mus

Nach dem Zu­sam­men­bruch der bi­po­la­ren Welt 1989/90 kam es in vie­len Re­gio­nen zu po­li­ti­schen, eth­ni­schen, so­zia­len oder öko­no­mi­schen Kon­flik­ten. Aus den Re­si­du­en der Stell­ver­tre­ter­krie­ge ent­wickel­ten sich mit­un­ter Bür­ger­krie­ge, die mit äu­ßer­ster Bru­ta­li­tät ge­führt wur­den und oft­mals jeg­li­cher Kon­trol­le ent­zo­gen wa­ren. Dies zum An­lass neh­mend, for­mu­lier­te Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger 1994 sei­ne »Aus­sich­ten auf den Bür­ger­krieg« als ein glo­ba­les Phä­no­men, wel­ches ent­we­der weit ent­fernt in Afri­ka oder Asi­en ver­or­tet wur­de oder in Eu­ro­pa lo­kal be­grenzt blieb (bspw. Bas­ken­land oder Nord­ir­land) be­vor es mit den ju­go­sla­wi­schen Se­zes­si­ons­krie­gen mit vol­ler Ve­he­menz in das eu­ro­päi­sche Wohn­zim­mer ein­brach. En­zens­ber­ger mach­te auch in den west­eu­ro­päi­schen Na­tio­nen Ne­ster die­ses »mo­le­ku­la­ren Bür­ger­kriegs« aus, kon­sta­tier­te aber eher vor­sich­tig: »Man kann sich fra­gen, wie ernst der Ge­walt­kult der eu­ro­päi­schen Avant­gar­den zu neh­men ist. Ih­re Pro­vo­ka­tio­nen zeu­gen nicht nur von ei­nem tie­fen Haß auf das Be­stehen­de, son­dern auch von ei­nem eben­so tie­fen Selbst­haß. Wahr­schein­lich dien­ten sie auch der Kom­pen­sa­ti­on ei­ge­ner Ohn­machts­ge­füh­le und der Ab­wehr ei­nes Mo­der­ni­sie­rungs­zwan­ges, der ih­re Gel­tungs­an­sprü­che be­droh­te.« Süf­fi­sant er­gänz­te er noch: »Au­ßer­dem wird man die Nei­gung zur Po­se in Rech­nung stel­len müs­sen…«

En­zens­ber­ger hat­te da­mals hell­sich­tig die glo­ba­len Be­dro­hun­gen durch den is­la­mi­sti­schen Ter­ro­ris­mus vor­weg­ge­nom­men. Die wach­sen­den Un­zu­frie­den­hei­ten an und in den re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tien Eu­ro­pas, die sich bei­spiels­wei­se in den Un­ru­hen in den Pa­ri­ser Ban­lieues von 2005 zum er­sten Mal in grö­ße­rem Aus­maß zeig­ten, konn­te er je­doch un­mög­lich vor­her­se­hen. Die­se Un­ru­hen ha­ben 2007 ei­ni­ge Au­toren zu ei­ner grund­le­gen­den Schrift in­spi­riert, die den »kom­men­den Auf­stand« nicht nur be­schreibt, son­dern in ei­nem ei­gen­ar­ti­gen Stil zwi­schen Zy­nis­mus, Hoch­mut und Käl­te lo­gi­sti­sche und bel­li­zi­sti­sche An­wei­sun­gen ver­brei­tet. 2009 wur­de das Buch um die Kom­men­tie­rung der Er­eig­nis­se in Grie­chen­land 2008 er­gänzt. Die­se Neu­auf­la­ge liegt nun in der deut­schen Über­set­zung von El­mar Schme­da bei »Nau­ti­lus« vor.

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Jac­ques Mo­nod: Zu­fall und Not­wen­dig­keit

Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit
Jac­ques Mo­nod: Zu­fall und Not­wen­dig­keit

Jac­ques Mo­nod legt an­hand zen­tra­ler Er­kennt­nis­se der mo­der­nen Bio­lo­gie ei­ne Angst frei, die uns al­le, be­wusst oder un­be­wusst, zeich­net. Sie ent­springt dem Ver­sa­gen un­se­rer sub­jek­ti­ven Deu­tung der Welt, das wir auch als das Un­be­ha­gen an der Mo­der­ne ken­nen — und der Ur­sprung die­ser Angst liegt, was über­ra­schen mag, in der Evo­lu­ti­on des Men­schen be­grün­det.

Mo­n­ods Dar­stel­lung ist knapp, zu­ge­spitzt, la­ko­nisch: Dar­in ist er ein Mei­ster; doch er hü­tet sich vor Ver­ein­fa­chun­gen, und wo er fürch­tet es den­noch zu tun, merkt er es an. Mo­nod zau­dert nicht, sei­ne Schlüs­se sind mes­ser­scharf, und er bleibt nicht ste­hen, ehe zu­letzt ei­ne ge­sell­schafts­po­li­ti­sche Uto­pie er­scheint; aber er weiß auch was Zwei­fel be­deu­tet, und wie we­nig, trotz al­ler Lo­gik und Ent­schlos­sen­heit, am En­de ge­won­nen ist.

»Zu­fall und Not­wen­dig­keit« ist das Werk ei­nes Auf­klä­rers, der sich we­der als sol­chen be­zeich­net, noch das Wort Auf­klä­rung im Mund führt — man merkt die­sem Buch sei­nen vier­zig­jäh­ri­gen Ge­burts­tag kaum an.

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Jo­sef-Ot­to Freu­den­reich (Hg.): Die Ta­schen­spie­ler

Zwölf Auf­sät­ze, Be­rich­te (manch­mal sind es auch Re­por­ta­gen) und zwei Vor­wor­te von acht Au­toren – »Die Ta­schen­spie­ler« ver­sam­melt Be­le­ge über die zu­neh­men­de Ent­frem­dung zwi­schen Staat bzw. Re­gie­rungs­macht und dem »nor­ma­len« Bür­ger. Und das sehr ak­tu­ell – Re­dak­ti­ons­schluss war An­fang Sep­tem­ber 2010. Schwer­punkt die­ser Be­trach­tun­gen ist Ba­den-Würt­te­m­­berg – das ist bei Klöp­fer & Mey­er, wo die­ses Buch er­schie­nen ist, kein Wun­der. Es gibt al­ler­dings auch drei Aus­rei­sser: ei­nen Bei­trag über ei­nen ita­lie­ni­schen Gift­müll­skan­dal, der über jahr­zehn­te­lan­ge Ver­sen­kun­gen von Gift­müll­schif­fen in der ita­lie­ni­schen Adria be­rich­tet, ein Lehr­stück in Sa­chen Atom­müll­ent­sor­gung am Bei­spiel der De­po­nie As­se (in­ter­es­sant hier die At­tri­bu­te: von Ver­suchs­ein­la­ge­run­gen über »For­schungs­berg­werk« bis zur End­la­ger­stät­te reich[t]en die of­fi­ziö­sen Zu­ord­nun­gen ) und am En­de ei­nen sehr in­for­ma­ti­ven Bei­trag von Mar­kus Köh­ler über die Pro­ble­ma­tik des flie­gen­den Ge­richts­stands im Pres­se­recht, wel­cher da­zu dient, un­lieb­sa­me Pres­se­ar­ti­kel durch einst­wei­li­ge Ver­fü­gun­gen von Pres­se­rechts­ak­ti­vi­sten, die an je­der Ecke das Per­sön­lich­keits­recht von Man­dan­ten ver­letzt se­hen (Stich­wort: Haar­far­be des Ex-Bun­des­kanz­lers und an­de­re Klei­nig­kei­ten), vor al­lem vor dem Ham­bur­ger Land­ge­richt zu be­kla­gen – was auch zu­meist ge­lingt.

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Ass­an­ges »simp­le Stricke­rei«

Klu­ge Be­mer­kun­gen zum Wi­ki­­Leaks-Hype von Ha­rald Staun in der F.A.Z.: »Der Su­per­star der Sicht­bar­keit«. Zum Bei­spiel: Vor lau­ter Su­che nach im­mer bri­san­te­ren De­tails kommt nie­mand mehr da­zu, die Re­le­vanz der In­for­ma­tio­nen zu hin­ter­fra­gen oder die In­ter­es­sen, die hin­ter ei­ner sol­chen Ver­öf­fent­li­chung stecken könn­ten. Und war­um Wiki­Leaks ge­ra­de nicht das En­de der Ge­heim­nis­se be­deu­ten wird...

Sa­scha Lo­bo: Stroh­feu­er

Sascha Lobo: Strohfeuer
Sa­scha Lo­bo: Stroh­feu­er
Ir­gend­wann sitzt Ste­fan, der knapp 25jährige Ich-Er­zäh­ler in Sa­scha Lo­bos Ro­man »Stroh­feu­er«, in sei­ner Stamm­bar, ei­ner Yup­pie­höl­le und dach­te wei­ter nach. In der Po­se des nach­denk­li­chen Man­nes an der Bar ge­fiel ich mir au­ßer­or­dent­lich gut; im Glas ei­nen neun­zehn­jäh­ri­gen Glen­craig, den ei­nen El­len­bo­gen auf­ge­stützt, die Hand lo­se zum Kinn ge­führt, den Ober­kör­per bei ge­ra­dem Rücken leicht nach vorn ge­lehnt. Ver­schie­de­ne Kör­per­hal­tun­gen wer­den durch­pro­biert und er über­leg­te, mit wel­cher mich Frau­en am ehe­sten an­spre­chen wür­den. Und der Le­ser er­fährt noch: Mit mei­ner Wir­kung im Raum be­schäf­tig­te ich mich oft, ei­gent­lich im­mer und die Kon­trol­le über mei­ne Wir­kung war ein we­sent­li­cher Teil mei­ner Kom­mu­ni­ka­ti­on.

Ste­fan lei­det in die­sem Buch an vie­lem – nur nicht an man­geln­dem Selbst­be­wusst­sein. Sein Nar­ziss­mus wird nur noch von der Rü­pel­haf­tig­keit sei­nes Teil­ha­bers Thor­sten über­trof­fen. Bei­de be­trei­ben so et­was wie ei­ne Werbe‑, IT- oder Mar­ke­ting­agen­tur – ei­ne die­ser merk­wür­di­gen »Dotcom«-Firmen in der Blü­te­zeit der New Eco­no­my En­de der 90er Jah­re. 2001 kommt es zum öko­no­mi­schen Zu­sam­men­bruch auch für die Agen­tur im Ro­man, der mit den Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 ver­knüpft wird. In Wirk­lich­keit zer­platz­te die Bla­se ja schon an­dert­halb Jah­re vor­her. »Stroh­feu­er« er­zählt Ste­fans (und Thor­stens) Ge­schich­te mit die­ser Agen­tur.

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