Stefan leidet in diesem Buch an vielem – nur nicht an mangelndem Selbstbewusstsein. Sein Narzissmus wird nur noch von der Rüpelhaftigkeit seines Teilhabers Thorsten übertroffen. Beide betreiben so etwas wie eine Werbe‑, IT- oder Marketingagentur – eine dieser merkwürdigen »Dotcom«-Firmen in der Blütezeit der New Economy Ende der 90er Jahre. 2001 kommt es zum ökonomischen Zusammenbruch auch für die Agentur im Roman, der mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verknüpft wird. In Wirklichkeit zerplatzte die Blase ja schon anderthalb Jahre vorher. »Strohfeuer« erzählt Stefans (und Thorstens) Geschichte mit dieser Agentur.
Erzählt? Naja. Bücher, die schon auf der ersten Seite mit einer Bewerbungsschreiben-Prosa für die Position des Türstehers eines neu eröffnenden Bordells aufwarten, sollte man eigentlich schnellstens entsorgen: Ich war ein Meister darin, Nuancen in Mimik, Gestik und Aussprache von anderen Menschen wahrzunehmen und geschickt und schnell darauf zu reagieren. Und kurz darauf kommt Stefan zu der Erkenntnis: weil ich Gesichter lesen konnte, konnte ich auch Menschen manipulieren. Nach dieser geballten Dosis Hybris treibt dem Leser nur noch die Hoffnung knirschend weiter.
Aber die Sprache Lobos versagt fast immer, wenn Stefan über sich und seine Befindlichkeiten schwadroniert. Vieles ist entweder unfreiwillig komisch oder irgendwann nur noch redundant. So ist das Sexualleben Stefans trotz Freundin Lena durchaus promiskuitiv, aber mehr als vögeln oder ficken bekommt man nicht geboten. Dafür gibt es dann ein Kapitel mit der Schilderung einer Nachtfahrt von 1450 Kilometern in siebeneinhalb Stunden. Lena schickte beziehungsproblematische SMS und Stefan wollte sie in Gstaad überraschen, nachdem er noch eine ehemalige Kollegin gevögelt hatte. Beim Lesen der Autofahrt hat man das Gefühl, die realen siebeneinhalb Stunden neben Stefan zu sitzen. Ausgiebig wird man über den jeweiligen Tachostand informiert. Irgendwie passend dann Lenas Reaktion, die ihrem Lover natürlich nicht um den Hals fällt, sondern ihn sehr ernst ansieht. Immerhin ist ihr Ausspruch treffend: »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, bei dem eine nächtliche Reise in die Schweiz nicht zwingend bedeutet, dass er mich liebt.« In seinem fortschreitenden Realitätsverlust interpretiert Stefan dies als coole[n] Liebesbeweis. Auch das Geschenk eines Super-Kopfhörers, dessen Preis er vorsorglich nur ungenügend entfernt, damit man ihn noch erkennen kann, verfängt nicht, weil er den Kopfhörer aus Versehen in seiner Größe gekauft hatte. Aha.
Viele Bilder Lobos wirken in ihrem geradezu krampfhaften Bemühen um Originalität paradoxerweise gerade deswegen hölzern. Etwa wenn es von Lena heisst, sie sei das Gegenstück zu einer Sonnenblume: Wenn die Sonne unterging, blühte sie auf. Als Stefan einmal ungekämmt ins Büro kommt, macht ihn Thomas auf seine Bumspalme aufmerksam. Oder wenn Sandra, die Kollegin, ihre Augenbrauen einzeln heben konnte, ist dies das Napalm des Flirtens (ich glaube, das kann Ines Pohl auch). Die Verhandlungsstrategie des Good Cop, Bad Cop-Rollenspiels ist ein uralter Hut. Und die Sprichwortverballhornung Aus dem Browserverlauf, aus dem Sinn für das Vergessen des Partners, ihn beim Surfen auf Pornoseiten erwischt zu haben, ist höchstens suboriginell. Vollends ins Lächerliche kippt es, wenn versucht wird, die Hybris Thorstens als Groteske zu inszenieren. Beispielhaft da die Szene, als ein säumiger Zahler mit mafiosen Methoden zur Überweisung der Wucher-Rechnung genötigt werden sollte: Man wollte ein Schwein vor seinem Haus und in dessen Beisein köpfen. Leider müssen zwei unschuldige Ferkel dran glauben und das im Kofferraum erstickte Tier dient als Hitlerschwein dem allgemeinen Amüsement der Belegschaft.
Beim Moralisieren reicht es maximal zur veritablen Bauernschläue. Etwa, wenn Stefan vor sich selber bekräftigt, Lena nicht angelogen zu haben, als sie ihn fragte, ob er Sandra oder Kathi geküsst hätte. Ich sagte nein, denn ich hatte Sandra und Kathi geküsst. Das es dann zum Dreier kam, war auch nicht mitteilungsnotwendig, denn schließlich: Nach Sex hatte sie nicht gefragt. Stefans Spezialität ist es nicht zu lügen und dennoch unglaublich weit von der Wahrheit entfernt zu sein. Wenn er es mit einer gerade entlassenen, anderen Kollegin treibt, die zudem noch von ihrem Freund schwanger ist, fand er es anregend und zudem angenehm, dass wir nicht auf Verhütung achten mussten. Und die Ausflüge in die Kindheit als geachtete[r] Murmelbankier für wenige Tage kommen über den Erkenntniswert einer studentischen Vertretungsstunde in VWL nicht hinaus.
Übertroffen werden Stefans Charakterdefizite vom etwas älteren Thorsten, einem auf den ersten Blick einnehmenden und vertrauenerweckenden Menschen der Kategorie Kühlschrankverkäufer in Grönland, in Wahrheit cholerisch, größenwahnsinnig und rücksichtslos, dennoch enorm umtriebig und durchaus »kreativ«, der auch schon mal ein Geschäftsmodell mit Benzin zum Downloaden entwirft. Nach einem Ausraster kurz vor der unvermeintlichen Insolvenz der Agentur »gesteht« Thorsten seinem Kumpel unter dem Brüggel’schen Syndrom zu leiden. Parallelen zu ganz anderen Betrügern, die so gerne »epibrieren«, kommen einem da zwangsläufig.
Natürlich kann man einwenden, dass genau die Hybris und Großkotzigkeit einer Welt, die so einfach gestrickt und oberflächlich ist, »abgebildet«, geschildert werden sollte: Da sind Nerds sind eben so, wie man sich Nerds vorstellt. Frauen erst recht. Und Dotcom-Gründer entweder Sexualprotze oder – wie Thorsten – in diesem Punkt eher ein bisschen unterbemittelt. Und im Büro werden strombergmäßig die Joghurts mit kleinen Schildchen versehen. Entwicklungen bei den Protagonisten finden nicht statt; 25jährige Greise. Tiefgang ist nicht zu erwarten, weil nicht vorhanden. Daher, so könnte man argumentieren, sei es nicht Lobos Fehler, dass man zuverlässig nach einer Minute weiss, wer ein Arschloch ist (der bleibt es dann auch für den Rest des Buches).
Aber Literatur ist nicht Kapitulation vor der Realität. Und Authentizität erringt man nicht in kolportagehafter Anbiederung an eine gewesene Wirklichkeit. Die Komprimierung aller möglichen Klischees in bestimmte Figurentypen sollte man Dieter Wedel überlassen (der so was besser kann). Lobo würzt seinen Roman zuweilen mit Ironie, ja Zynismus und stattet seine Hauptfiguren mit einer gehörigen Portion Arroganz aus, damit es vielleicht noch als Popliteratur durchgeht. Aber auch das verfängt nicht, weil letztlich nur ein gleichförmiger Ton erzeugt wird. Einen Ton, den man inzwischen überall liest, sieht und hört.
In der Schilderung dieser merkwürdigen Gründerzeitstimmung Mitte der 90er Jahre ist das Buch besser. Es gewährt Einblicke in die Potemkin’sche Welt der Dotcom-Unternehmen mit ihrem Gefasel von der Weltmarktführerschaft. Etwa, wenn ernsthaft vor dem Teufel Umsatz gewarnt wird und stattdessen lieber wöchentlich neue Leute eingestellt und opulente Partys gefeiert werden, um gemäss dem Branchencode Wichtigkeit und Potenz zu simulieren. Investoren werden mit dieser Art von Schneeballsystem eine gewisse Zeit betäubt. Das wird erzählt, ohne es mit dem Presslufthammer einfach nur zu behaupten. In den besten Szenen gelingen hier Evokationen der historischen Situationen. Und man ahnt, wie die »Web‑2.0«-Blase mit ähnlichen Heilsversprechen (weil ähnlichen Protagonisten) entstehen konnte.
Ein Ernst-Wilhelm Händler, also gute Literatur aus und über die Arbeitswelt, ist selten. Zuweilen driften sie entweder in eine Skurrilität ab (Wilhelm Genazinos »Abschaffel«-Romane beispielsweise). Andere sind entweder zu dicht an ihrem Gegenstand oder haben wenig Ahnung und interpretieren nur ihre Eindrücke, die sie aus zweiter Hand gewonnen haben. Jemand wie Kathrin Röggla gehört zur zweiten Kategorie. Sascha Lobo in die erste. Sein nächstes Buch kann fast nur besser werden.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Dass Sie sich dieses Buch tatsaechlich angetan haben, hat mich doch ein bisschen ueberrascht. Der Verriss dann weniger.
Interessierte Sie das Thema.. oder wollten Sie ueberpruefen, ob es tatsaechlich so schlecht ist, wie man es manchen Kritiken nach vermuten koennte? (Aber: Hut ab, dass sie ihm eine Chance gegeben haben)
Ja, das Thema (Wirtschaftsblase) interessiert mich. Zumal es tatsächlich wenig gute Bücher (und Krimis) über die Wirtschaft gibt.
Ich glaube eigentlich nicht, dass ich da einen Verriss geschrieben habe.
Zum Thema Börsencrash wollte ich mir auch mal ein wissenschaftliches Buch antun (»Why Stock Markets Crash« Didier Sornette), bin aber leider nicht weit über die zumindest schon interessante Einleitung hinausgekommen. – Romane hätten ja die Chance die persönliche Seite, von solchen Phänomenen zu beleuchten, da habe ich in der Tat noch nie von einem gutem Buch gehört (auch wenn aus der dot-com Blase doch auch ein Blog hervorgegangen ist – und der Don Alphonso hat doch auch ein Buch darüber geschrieben, ahja »Liquide« – )
Interessant dass sich die Wahrnehmung so unterscheidet, vielleicht sehe ich nur den Verriss, den ich erwartete:
»die Sprache Lobos versagt fast immer..«
»Nach dieser geballten Dosis Hybris treibt de[n] Leser nur noch die Hoffnung knirschend weiter.« ...
und vor allen Dingen der letzte Satz ließen mich diesen dann auch in Ihrer Rezension sehen.
Allerdings machen Sie ja auch Einschränkungen:
»Tiefgang ist nicht zu erwarten, weil nicht vorhanden. Daher, so könnte man argumentieren, sei es nicht Lobos Fehler, dass man zuverlässig nach einer Minute weiss, wer ein Arschloch ist.«
Nur schießen Sie da ja auch nach:
»Aber Literatur ist nicht Kapitulation vor der Realität.«
Dieser Satz gefällt mir sehr. Einen Roman muss man eben formen, muss man Realtität poetisieren, transformieren.
Vielleicht ist der einzig wirklich gelungene Wirtschaftsroman »Buddenbrooks« von Thomas Mann. Mit der Angestellten/Arbeitswelt wird man ja aktuell bei Händler fündig. Genazinos Abschaffel-Romane fallen mir noch ein. Natürlich in Kino »Wall Street« von Oliver Stone – eigentlich unerreicht, was die Schilderung von marktradikalen Auswüchsen angeht (ich meine den ersten Film!).
Mit Don Alphonso hab ich ja so meine Schwierigkeiten.
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Zum Verriss: Ein Verriss wie ich ihn verstehe will auch immer ein bisschen den Autor »verreißen«. Daher ist er zumeist das Produkt einer enttäuschten Erwartung des Lesers dem Buch UND dem Autor gegenüber. Im vorliegenden Fall interessiert mich der Autor nur sekundär. Vermutlich wäre ich ohne dessen (pseudo-)Prominenz aber gar nicht auf dieses Buch gestossen. Und vielleicht wäre es ohne dessen Prominenz auch gar nicht verlegt worden (obwohl es soooo schlecht nicht ist). Lobo ist längst zu einem Pseudoexperten mutiert, der von den Medien mit den Kompetenzen für bestimmte Themen ausgestattet worden ist. Eine Art von Arnim der IT-Branche.
..bei Ihrem Hauptbefund, dass es dem Roman nicht gelingt die Inhaltslosigkeit und Leere der Dot-Comler zu literarisieren, vielmehr bleibe er genau ihrer Sprachlosigkeit und Flachheit verhaftet – wenn ich das so richtig verstanden habe – musste ich an American Psycho denken. Auch wenn ich leider nur den Film kenne, so scheint mir doch Bret Easton Ellis potentiell ein Autor der solche Leere noch radikaler darstellt (konsequent aus der Ich-Perspektive; so werden wohl schon mal seitenweise Haarkuren oder irgendsoein Zeugs beschrieben) und so doch auch wieder literarisiert hat.
(Die drei: Dot-Comler, American Psycho, der Wallstreetler sind das alles eigentlich Yuppies?)
Die Buddenbrocks haben mich doch ziemlich kaltgelassen auch wenn ich Manns Wille zur Form immer noch bewundere (da muss ich zugeben, dass mich Handkes Äußerungen zu Mann dazu bewegt haben mich noch weiter von diesem zu entfernen – die neuerlichen Äußerungen im Zeit-Interview treffen doch schon wieder – und auch wenn die kurzen Erzählungen mir einmal sehr gefielen,.. irgendwann war’s doch immer Wiederholung: hier der kränklich-andersartige Bohemien {oder sonstwie Fremder}, dort die Welt, zu der er nie gehören kann) Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich fragen, ob die Buddenbrooks so sehr hier reinpassen. Das ist doch ein Portrait des abdankenden Bürgertums, das sich überholt hat auch nur noch als leere Hülle dahinwest (hier eine Parallele?), und die Wirtschaft, die Händler übernehmen das Ruder (den zweiten Teil müsste ich noch mehr mit einem Fragezeichen versehen: denn kam das Bürgertum nicht auch aus dem aufstrebenden Handel – was ist es also was da Neues heranzieht und das Bürgertum ablöst? – leider ist die Lektüre auch was lange her, als dass diese Interpretation Präzision beanspruchen kann..)
Zu Don Alphonso würde ich Sie gerne mehr fragen. Jetzt doch nur soviel als dass ich ihn meinte, als ich von jenem Blogger sprach, der sich der Diskurse rühmte, die aber doch meist nur Bestätigung des Beitrags sind.. oder im Sande verlaufen (so als ich einmal mitdiskutierte, als er sich über die ganze, unhörbare neue Musik verbreitete – das kam mir so lächerlich vor: er unterstellte den Hörern dieser Musik, dass sie diese nicht mögen, weil man Zwölftonmusik ja einfach nicht mögen kann, und daher wohl nur wegen des Distinktionsgewinns sich dieser Tortur unterzögen... aber was für einen armseligen Distinktionsgewinn lässt sich denn umgekehrt daraus ziehen, die Neue Musik zu verdammen?)
— Der Autor spuckt einem wohl immer in die Suppe, so sehr man dessen Tod auch schon ausrief, so ganz unsichtbar bleibt er wohl nicht und auch der Rezensent kann nicht immer ganz an ihm vorbei..
Lobo ist längst zu einem Pseudoexperten mutiert, der von den Medien mit den Kompetenzen für bestimmte Themen ausgestattet worden ist. Eine Art von Arnim der IT-Branche.
Das liegt wohl auch daran, daß Fachredakteure nicht mehr zwingend Ahnung vom Fach haben müssen.
@Phorkyas
»American Psycho« ist nicht primär ein Wirtschaftsroman; er spielt nur in der Yuppie-Szene selber und zeigt einen derrangierten Charakter. Aufgepeppt wird das Ganze durch einen Suspense, der den Leser zum Voyeur von Batemans Irrsinn werden lässt. Ellis’ Roman ist mit diesem hier nicht in einem Atemzug zu nennen.
Manns »Buddenbrooks« ist ja auch – wie später der »Zauberberg« – eine Art »Protokoll« einer untergehenden Zeit. Entscheidend ist, dass die Protagonisten ihren Untergang nicht verhindern können (der, der es in den Buddenbrooks anstrebt, scheitert auch) – und ihn auch nicht antizipieren (hierfür sind sie zu stark involviert). Im »Zauberberg« kommt das Ende abrupt – die Klinik war ein Paralleluniversum. Die Kaufsmannsfamilie aus Lübeck erlebt den Prozess hautnah.
@virtualmono
Fachkenntnisse sind ja im Journalismus zum Teil hinderlich. Genommen wird nur der-/diejenige, die über die beste Vernetzung verfügt. Wissen ist ja sekundär. Das merkt man ja allerorten längst.
Die Assoziation zu »American Psycho« kam auch eher von Wall Street, innerer Leere und den Yuppies, im Wirtschaftsressort hatte ich den nicht verorten wollen. – Ich bin mir beinahe sicher, dass ich mit Ellis nicht viel anfangen könnte (genauso wie mit Bukowski und der Beat Generation – das ist für mich doch alles die falsche Authentizität, bzw. ist es schon falsch sich überhaupt auf das Spiel mit der Authentizät einzulassen, denn was dann entsteht mag alles sein, aber bestimmt nicht authentisch), aber dennoch würde ich es zumindest als künstlerische Möglichkeit gelten lassen wollen... Mit den »Buddenbrooks« wollte ich gar keinen Vergleich anstellen, dass es mich persönlich nicht gepackt hat, wie z.B. auch »Hamlet«.. und auch die »Leinwand«, heißt ja nicht, dass ich deren Qualität nicht anerkenne und auch schätze (ob so ein Buch dann zündet oder nicht, hängt vielleicht auch mit der eigenen Rezeptionsbiographie zusammen – wenn die entsprechenden Stellen für »Identität« o.ä. schon besetzt sind, ist es für einen Neuankömmling vielleicht schwer noch Symbolwert zu entfalten..)
Experte ist doch jeder, der dem Artikelschreiber als Zitat- und Stichwortgeber zupass kommt – .. aber bei der heutigen Auffächerung und dem grassierenden Spezialistentum sind wir da nicht alle Dilettanten?
Bei »American Psycho« ist ja gerade das perfide, dass die »Identität« über Beruf, Status, Sex, Markenklamotten u. ä. nicht (mehr?) funktioniert. Nur beim Morden ist Bateman sozusagen »authentisch«. Und im Kühlschrank liegen dann die Vaginas der ermordeten Frauen wie Trophäen, die ihren besonderen Reiz darin entfalten, nicht gezeigt werden zu dürfen.
(Die »Buddenbrooks« haben mich übrigens auch nicht »gepackt«. Dennoch zweifle ich nicht daran, dass es grosse Literatur ist – ich sehe das genau wie Sie.)
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Expertentum: Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Entscheidend ist ja, ob Person X als Zitatgeber überhaupt wahrgenommen wird. Lobo sehe ich hier in einer Linie mit jemanden wie Grass (nur auf anderen Gebieten); der Gedanke ist im übrigen geklaut und nicht von mir. Diese Figuren bieten sich AUCH immer wieder an. Und sind sogar beleidigt, wenn man sie NICHT befragt. Die Aufgabe des Journalisten wäre es, die Äusserungen der Befragten einzuschätzen. Das können sie ntweder nicht oder machen es nicht; meistens beides. Das Expertentum perpetuiert sich somit immer weiter...
Und diese Perfidität ist es vermutlich, die mich abstoßen würde. Aber ist das nicht gewissermaßen Kultur-/Gesellschaftskritik von der anderen Seite: so wie Adorno (von der Warte der Bildung und Tradition?) nicht müde wurde den heraufziehenden Dämon der Entindiviualisierung durch unsere moderne Massenkultur zu beschwören, so dekliniert Ellis in diesem Roman ebenjenes entleerte Ich (von der anderen Seite her kommend, der der Massenkultur?) durch.
Leider ist diese Diskussion etwas im luftleeren Raum, da ich den Ellis ja nicht gelesen habe. Aber dass er sehr (selbst-)destruktiv zu Werke geht, und eine Gesellschaft zeigt, in der »Identität« sinnlos geworden ist, das lässt sich schon vom Film her erahnen. – (Die Idee ist bestimmt nicht neu, vgl. Dorian Gray etc., aber vielleicht in ihrer schlachterischen Brutalität und Perfidität schon auf einem schwer über-/unterbietbarem Niveau.) – Die Frage ist nun meines Erachtens, ob man mit diesem Gesellschaftsbild, das da gezeichnet wird, etwas anfangen kann oder nicht. Ich vermute, dass unsere Ablehnung des Romans sich auch daraus speisen könnte: dass wir dieses Bild nicht tielen und uns diese Unmöglichkeitserklärung von Sinnstiftung, Identität absurd erscheint?
[Nun könnte ich an diesem Punkt vielleicht auch versuchen meinen Hauptvorbehalt gegenüber »Der Leinwand« auszudrücken: Der Roman verliert sich in einem mathematischen {das ist jetzt auch aus einer anderen Rezension} Spiegelspiel, so dass der Leser am Ende auch vor einer leeren Leinwand steht – man könnte also fast sagen, dass er Identitätsstiftung gar nicht versucht, sondern sich ins Spiel flüchtet]
(Den Leser, den die Buddenbrooks wirklich bewegen, müsst man wohl erst noch erfinden.)
Man könnte »American Psycho« auch deuten als Beleg dafür, dass es eine Individualisierung gar nicht gibt, obwohl jeder so tut. Hierfür sind die fast stupide Aufzählungen der Markenkleidung und ‑Accessoires der Protagonisten Beleg. Durch die Verwendung dieser Markenartikel, die ja innerhalb einer Subkultur Erkennungszeichen setzen bzw. erst den Zugang zu einer bestimmten Subkultur ermöglicht, wird der Individualismus wieder aufgehoben. »Außenseiter« möchte keiner sein – eigentlich ein Paradoxon einer Gesellschaft, die die Individualisierung so hoch hält. Streng genommen dürfte es dann gar keine »Außenseiter« geben.
Man kann dies schon im Bus anhand der Schulkinder sehen. Es gab eine Zeit, als bestimmte Rücksäcke absolut »hip« waren. Die Dinger waren unpraktisch und nicht sehr praktikabel, aber das spielte keine Rolle: jeder trug »Eastpak«. Inzwischen ist das wieder abgeflaut.
So etwas wie Identität wird durch die weitgehende Kommerzialisierung unseres Lebens längst manipuliert und fast ad absurdum geführt. Identität wird nicht mehr selbst erlebt bzw. definiert, sondern durch andere »vermittelt«. Gleichzeitig wird sie zum Goldenen Kalb eines Individualismus, der jedoch gar nicht existiert (s. o.). Ein Teufelskreis.
Womit wir wieder beim Thema von »Strohfeuer« sind: Die Dotcom-Blase war für jeden BWL-Studenten im zweiten Semester als solche zu erkennen. Dennoch gab/gibt es wenige Verweigerer. Diese Blasen funktionieren nach einer Art Schneeballsystem: Die Initiatoren gewinnen am meisten. Dann diejenigen, die schnell auf den Zug aufgesprungen sind. Den Letzten beißen sprichwörtlich die Hunde: Er zahlt die Zeche, weil die Klugen längst rechtzeitig ausgestiegen sind.
Eine Diskussion über »Die Leinwand« müsste man separat führen. Ich glaube, dass die Deutung, der Roman flüchte sich in das Spiel, nur dann richtig ist, wenn man ausschließlich die Identitätskarte spielt. Dann hätten Sie recht. Ich glaube aber, dass der Roman viel klüger agiert und die »Identität« der Protagonisten (insbesondere von Wechsler) nicht die entscheidende Rolle spielt (sic!).Bücher, die für ihre Protagonisten Identitätsstiftung versuchen, halte ich für extrem problematisch, weil sie den Leser mit der Autorensicht usurpieren. Stein als Autor ist klug genug, sich aus dieser »Diskussion« herauszuhalten. Wechslers psychische Störung (ist sie ein Trauma? etwas aufgrund eines Mordes?) wird erzählt. Der Leser bleibt dabei so klug (oder dumm) wie Wechsler.
Identität als menschliches Bedürfnis – ein kurzer Einwurf.
Ich glaube, dass das Bedürfnis nach Identität (d.h. einer Deutung von Leben und Existenz) nicht gesellschaftlich vermittelt (bedingt), und ihr Sinn oder Unsinn letztlich auf einer persönlichen Ebene festzumachen ist (wobei man wahrscheinlich weder von dem einen noch dem anderen sprechen kann). Absurd ist nicht das Bedürfnis, absurd ist die versuchte Erfüllung im Angesicht ihrer Unmöglichkeit.
@Phorkyas
Steins kluge, kulturtheoretische Anspielungen sind sie nicht dann sogar die bildungsbürgerliche Entsprechung von Batemans Parfum?
Das sehe ich nicht so. Stein ist kein »Namedropper« wie zum Beispiel ein Umberto Eco, der sich tatsächlich mit seinem Wissen einbalsamiert und bewundert werden möchte. Oder gar Bolano, der tatsächlich die bildungsbürgerlichen Assoziationen aushebt wie kleine Fallen, in die die Kritiker nur allzu gerne tappen.
Dass Gedichte den Leser gelegentlich mehr affizieren können als eine mehrhundertseitige Erzählung (weil sie eben noch mehr »verdichten«) ist ja der Grund, diese zu lesen.
Absurd ist nicht das Bedürfnis, absurd ist die versuchte Erfüllung im Angesicht ihrer Unmöglichkeit.
Ja, das ist fast reiner Existentialismus. Warum nicht.
Ich möchte kurz erklären, was ich meinte: Ein Mensch, der laufend mit der Frage nach seiner Identität herumläuft und darüber reflektiert, wird keine zufriedenstellende Antwort finden und sich höchstens in Depressionen oder als Massenmörder wiederfinden. Romane, die nun bewusst eine Identitätssuche als solche thematisieren, sind für mich so langweilig wie die Mitteilung, was ein Protagonist zu Mittag gegessen hat. Die Suche oder Erfüllung nach der eigenen Identität kann zwar mitschwingen, aber höchstens als bzw. in einer Erzählung; als eine Art moderner Entwicklungsroman sozusagen, nur ohne den pädagogischen Unterton.
(zum Einwurf: Identität muss wohl dialektisch erkundet werden – wie auch Gesellschaftskritik sich nur so bewerkstelligen lässt.)
»Bücher, die für ihre Protagonisten Identitätsstiftung versuchen, halte ich für extrem problematisch.«
D’accord. Was jemand sei, lässt sich natürlich nicht dekretieren. So gesehen wäre ich auch skeptisch, wenn mir ein Roman eine Identität, ein Rollenbild anpreist (hmm.. werden Bücher eigentlich nicht auch oft so verkauft?). Das fängt schon an, wenn sie die Identität einer Generation (Golf, X, Nullerjahre..) konstruieren.... Aber sollte ein Roman nicht zumindest den Versuch einer Selbsttranszendierung wagen – auch sei es nur, um grandios zu scheitern (was vielleicht der einzige Weg der Erfüllung ist).
Sie schreiben, »Stein als Autor [sei] klug genug, sich aus dieser ‘Diskussion’ herauszuhalten«. Genau diese Klügelei ist mein Vorwurf. Sie langweilen »Romane, die nun bewusst eine Identitätssuche als solche thematisieren, [..] wie die Mitteilung, was ein Protagonist zu Mittag gegessen hat.« – mich langweilt, dass Stein in dieses ausgeklügelte Spiel ausweicht. So steht für ihn nichts auf dem Spiel, er ist fein heraus. So wird aber auch nichts verhandelt. Es ist letztlich genauso gegenstandslos wie Batemans After Shaves – oh, diesen bösen Vergleich, der sich nun aufdrängt, nehmen Sie bitte nicht persönlich (ich richte ihn aber gerne gegen mich selbst) – Steins kluge, kulturtheoretische Anspielungen sind sie nicht dann sogar die bildungsbürgerliche Entsprechung von Batemans Parfum? Konvergieren dann nicht sogar beide in das Gleiche: dass unsere Postmoderne auch Post-identität bedeutet? – Es sträubt sich einfach alles in mir dagegen, sei das auch Reaktion und noch so altbacken und überholt.
»Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.
Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.«
Paul Boldt (1914?)
...Auch wenn ich dieses Gedicht nicht unbedingt gelungen finde, ich kann mir nicht helfen, es bewegt mich doch immer noch mehr (als Stein, Ellis – die höchstens reizen und anstacheln).
PS. Huizinga versuchte in seinem »Homo ludens« das Spiel auch als Gegenteil des Ernsts zu bestimmen. Dass dieses auch wieder dialektisch ist, schneidet er aber leider nur an: Man beobachte nur Menschen beim Spiel, wie todernst das zur Sache geht – ja, er betrachtet lange die Spielverderber, die von den Spielenden heftiger verfolgt werden, als die Betrüger (er zitiert ein Roll-/Maskenenspiel, in dem die Spielverderber sogar getötet werden): die Spielverderber weisen nämlich auf die Spielhaftigkeit des Spiels hin und stören so dessen Genuss – vielleicht ist Stein für mich also so ein Spielverderber.. aber momentan würde ich eher behaupten, dass er sich eigentlich nie ernsthaft auf das Spiel eingelassen hat. Diese Distanz, die er zum Identitätsspiel hat, hatte ich letztlich auch zum Buch..
(Tut mir leid, dass das jetzt doch zuviel zu Stein war.. und selbst auch noch soviel Klügelei enthält – ich hoffe es ist trotzdem etwas für Sie dabei.)
@Gregor
Danke für die Erklärung, ich hatte in der Tat nicht ganz verstanden, was Du oben meintest (obwohl ich mit meinem Einwurf eigentlich nicht auf die Literatur gezielt habe).
Ich möchte aber bestreiten, dass man nicht zu einer befriedigenden Antwort kommen kann – sie hängt m.E. sehr von den zugrunde liegenden Annahmen und vom Ausgangspunkt ab. Aber vielleicht passt es besser dorthin.
@phorkyas
Dialektisch? Kannst Du mir erläutern wie Du das Du meinst (mir ist meist unklar was mit dialektisch gemeint ist)?
@Gregor Keuschnig: Man sollte den eigenen Worten auch nicht immer folgen, so manche Metapher erleidet dann ihren beruechtigten Schiffbruch. – So auch mein Parfum. Die Leinwand wuerde ich auch nicht zu dieser Literaturliteratur, also jener Gattung zaehlen, deren Lektuere ein Ausweis kontemporaerer Kennerschaft zum Eintritt in die hoehere feuilletonisierte Gesellschaft weil sie bestaendig um sich selbst kreist jedoch unfaehig den Leser zu bewegen – so denn jene Gattung existiert (Sie nannten ja ein paar moegliche Beispiele).
Die Diskussion nahm ihren Ausgangspunkt doch darin:
Lobos Buch.. hat keine Sprache (wuerde Kritiker jetzt sagen?), nun koennte man diese Sprachlosigkeit aber als gewollt, gerade als kuenstlerischen Ausdruck genau der Sprachlosigkeit des modernen, marktwirtschaftlich erfassten Menschen sehen – womit das Buch gewissermassen auf einer Ebene scheitern wuerde, um auf der naechsthoeheren zu punkten (Nur als Moeglichkeit gesprochen, von der Rezension bekam ich nicht gerade den Eindruck, als waere das wirklich der Fall – dass ich American Psycho erwaehnte, war nun auch nur, weil ich dort ein moegliches Beispiel sah, wo ein aehnliches Prinzip verwirklich sein koennte..)
Und dann waren wir auch schon mitten in der Identitaetsdiskussion, Benjamin Stein kam noch hinzu und mit meinen gewohnt unscharf, assozierten Einwuerfe, holperte die Diskussion so dahin. – Ich moechte diesen Punkt auch nicht ueber Gebuehr strapazieren; es ging mir auch nicht so sehr darum, dass Steins Prosa mich nicht affizierte. Im Gegenteil habe ich sie ‘gefressen’, ein klarer, schnoerkelloser Stil, aber das bzw. die Enden in der Mitte des Buches haben mich so enttaeuscht, dass ich mich durch den zweiten Teil schon ein bisschen schleppen musste und es ganz am Ende mehr nur noch ein Achselzucken hervorrief: Was war da jetzt Neues zur Identitaet?
Das ist vermutlich ungerecht... und ich werde wohl selbst nie in der Lage sein, ein solches Buch hervorzubringen,.. aber irgendwie fehlte da was.. und es ist schwer genau sagen, was da gefehlt hat, die Ingredienzien waren ja alle vorhanden, nur gezuendet hat’s bei mir nicht (da ist nunmal auch das subjektive Moment der Literatur).
@metepsilonema: Entschuldige bitte – der Einwurf mit dem »dialektisch« war etwas dumm. Die Diskussion franste nun schon so aus, da hatte das etwas von ‘abkanzeln’... und dabei war/ist mir selbst noch nicht so ganz klar was unter dialektisch zu verstehen sei. – Eine Moeglichkeit ist vielleicht die der dialektischen Begriffserkundung. So als spuerte man dem nach, welche Begriffe und Definitionen ein Begriff schon voraussetzt und welche Widersprueche er schon in sich traegt, die es dann aufzuloesen gelte (so aehnlich geht es wohl bei Plessner und seiner philosophischen Anthropologie) – ich dachte aber zunaechst an Adorno, mit dem: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. – Nun, aber was ist denn nun richtig, was falsch? Das ist vermutlich genauso sinnlos wie die Frage: Wer bin ich? -
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