»Hirnstimulation, Auswirkungen auf den Nucleus ventralis intermedius thalami: Ich sehe die Notwendigkeit einer retrospektiven Studie, in welcher der Tremor berücksichtigt wird. Ist er essentiell? Was ist überhaupt essentiell? Essentielle Fettsäuren, Fette und Glyceride, ungesättigt, gehärtet, was ist heute noch gesund? Gemüse, Obst, Früchte? Frau im Supermarkt packt Schale mit Erdbeeren in ihren Einkaufswagen, kein gesunder Eindruck, aufgedunsenes Gesicht, blasser Teint, große Augenringe, Pi mal den Radius 1 zum Quadrat minus Pi mal den Radius 2 zum Quadrat, Ringbeschleuniger, Synchrotonstrahlung, im Bereich der Gigaelektronenvolt, Lichtgeschwindigkeit, Massenzuwachs. Ratlosigkeit der Massen, breite Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung, Hat S. eine Affäre?
Bitte ins Fettnäpfchen treten
Der deutsche Fernsehkonsument genieße noch diesen Sommer. Denn ab Herbst startet die ARD mit einer Talkshow-Offensive fast biblischen Ausmaßes: Jauch, Beckmann, Plasberg, Will, Maischberger – im Vorabendprogramm ab 2012 Gottschalk. Keine Ahnung, ob die Phoenix-Runde – das kleine Refugium für die gepflegte Disputation am Abend – noch bleibt. Das ZDF wird früher oder später nachziehen müssen. Frau Illner an einem Tag reicht wohl für das Gleichgewicht des wöchentlichen Schreckens nicht aus. Man fragt sich, wie die potentiellen Gesprächs-Kombattanten dies durchstehen. Vereinzelt gab es schon jetzt große Belastungen. Ein Herr Chatzimarkakis wurde für gleich zwei Katastrophen zum Experten ernannt: Griechenland und FDP. Unvergessen der Tag des Auftritts in der »Münchner Runde« und eine Stunde später bei Phoenix. Und kürzlich trat er dann noch als Moralapostel in eigener Sache auf (Stichwort: Falscher Doktor).
Als im Privatsender RTL weiland mit dem »Heißen Stuhl« Provokateure bzw. jene, die als solche empfunden wurden, inquisitorischen Verhören unterzogen wurden, drohte bei den damaligen Medienwächtern der Untergang der Kultur. Zwanzig Jahre später haben Programmdirektoren ihre besten Sendezeiten zur rhetorischen Schmierseifen-Olympiade à la »Spiel ohne Grenzen« zur Verfügung gestellt. Inzwischen werden selbst die Sommerinterviews der Spitzenpolitiker wie heilige Texte analysiert und gedeutet. Da ist es sogar eine Nachricht, dass das Sakko der Kanzlerin farblich nicht zum Fragesessel passte.
Alice Munro: Zu viel Glück

Es gibt Autoren, die seit Jahren derart innig gelobt werden, dass man ihnen irgendwann nicht entkommen kann. Die über die Jahre aufgebaute Erwartungshaltung (»Literaturnobelpreiskandidat!«) führt fast zwangsläufig in eine Enttäuschung (zumeist mittlerer Dimension): Naja, nicht schlecht – aber gleich Nobelpreis?
Es gehört zu den letztlich unerklärlichen Geheimnissen eines Leserlebens, warum man sich ausgerechnet für diesen oder jenen Autoren begeistert. Ist man dem Autor, der Autorin nahe? Oder ist es das Gegenteil, die unerreichbare Distanz? Ergriffenheit versus Abenteuerlust? Suchen nach Parallelen oder Flucht aus dem Bekannten? Aufgehobensein oder Stellvertreterleben?
Noch einmal zur Baustelle
AKTUALISIERUNG 15. Juli: Es ist geschafft. 408 Beiträge stehen jetzt zur Verfügung; etwas über 50 verbleiben in der privaten Schatulle (mangels Qualität und/oder Aktualität). Die Kommentare wurden teilweise von Hand hinzugefügt bzw. ergänzt. Es sind mehr als 5.000. Dabei wurde von meiner Seite festgestellt, dass es viele Diskussionen gibt, die das Nachlesen lohnen – auch wenn sie teilweise schon einige Jahre alt sind. Manchmal hatte ich mich tatsächlich festgelesen.
Es sind im Hintergrund noch kleinere Arbeiten zu leisten; das erfolgt zügig, aber nicht unbedingt eilig.
Prozentrechnung
Prozesskosten bei Zivilverfahren sind nach einem neuen Urteil des Bundesfinanzhofes jetzt steuerlich absetzbar. Die »tagesschau« berichtete in ihrer 20-Uhr-Ausgabe darüber und wollte zeigen, wie die Erstattung, die nach dem Einkommen gestaffelt ist, aussehen könnte. Man nahm einen unverheirateten Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 70.000 Euro an. Das Urteil sieht wohl in diesem Fall eine Selbstbeteiligung ...
Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie

Die Radiofamilie
Im Rahmen ihrer Tätigkeit als »Script Editor« beim österreichischen Sender »Rot-Weiß-Rot« (RWR) verfasste Ingeborg Bachmann – neben anderen Hörspielbearbeitungen und –übersetzungen – zwischen Februar 1952 und Juli 1953 insgesamt 15 Folgen der seifenoperähnlichen Serie »Die Radiofamilie«, die zunächst 14tätig, bald jedoch wöchentlich ausgestrahlt wurde (mit Ausnahme einer Sommerpause); immer genau 30 Minuten. Ingeborg Bachmann kann zusammen mit den beiden anderen Autoren Jörg Mauthe und Peter Weiser als Schöpferin der »Radiofamilie« gelten. Die letzte von ihr geschriebene Folge war Nr. 63 und wurde im September 1953 ausgestrahlt. »Die Radiofamilie« wurde 1955 nach 153 Folgen im Sender RWR aufgrund ihrer Beliebtheit im ORF weitergeführt. Erst im Juni 1960, mit der 351. Folge, wurde die Serie eingestellt.
Kurzzeitgedächtnis auf zwei Beinen
Ein Erlebnistagebuch von den 32. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
Donnerstag, der 26. Juni 2008: Von der Wiege bis zur Urne
Wo blieben sie denn, die leisen Töne, die man eigentlich von Schriftstellern erwarten müßte, erwarten dürfte, gerade von ihnen, nur von ihnen, von wem denn sonst, wozu seien sie denn da? D., Übersetzer aus dem Französischen, schwadroniert mit verdrießlicher, mit verdrossener Miene und verteilt dabei Brötchenkrümel auf der Tischdecke. Klagenfurt sei Deutschland-sucht-den-Super-Dichter, die Medien suchten kulturelles Billigfutter, die Kulturindustrie wolle mit ungesättigten Fettsäuren abgefüttert werden, und schließlich sei er ja auch ein Kurzzeitgedächtnis auf zwei Beinen, der Leser von heute. Mir egal, denke ich, mir egal, denn ich habe gerade Salz in meinen Verlängerten (deutschländisch: Kaffee) geschüttet und es zu spät gemerkt.
Wir sitzen in der Häschenschule bei der Lesung des Klagenfurter Literaturkurses, gleichsam der Wiege des Bachmann-Wettbewerbs. Wir sitzen im Robert-Musil-Museum, im Raum, in dem Klein-Robert das Gehen gelernt hat oder das Lallen, und wir sind selbst schuld. Außer mir liegen alle Autoren am Wörthersee, bei 36 Grad im Schatten. Nur ich sitze in der Hitze. Die steht mitten im Raum wie ein Gast, den man nicht losgeworden ist. Trotz heruntergelassener Jalousien und dem allgemeinen Gefächel mit Programmheften spüre ich, wie ich schon nach weniger als zehn Minuten gar bin. Einem, dem man anmerkt, daß er heute zum ersten Mal in seinem Leben vor Publikum liest, fallen die Schweißtropfen aufs Papier. Seine dreißigminütige Erzählung ist ein Wegwollen auf Abruf, seinen Schlußsatz spricht er schon im Aufstehen.
Hängen lassen
A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 17
Es ist Freitag. Es ist heiß, auf der Kippe zu schwül. Die Stadt ist voll. Alle Räder rollen für das Portemonnaie. Die Gäste arbeiten das touristische Pflichtprogramm ab. Die Einheimischen müssen mit dem Auto etwas liefern, zur Besprechung, Kunden besuchen. Blinker werden nicht betätigt, Straßen ohne links und rechts zu schauen überquert, Wege geschnitten. Man muss halten, anfahren, fluchen, danken fürs Reinlassen, sich durchkämpfen zwischen wütenden Hupen. Auf meinem Körper klebt eine Schicht aus Schweiß und Staub. An meinem Mund hängen endlos gesabbelte Stadtführungsfransen.