»Hirnstimulation, Auswirkungen auf den Nucleus ventralis intermedius thalami: Ich sehe die Notwendigkeit einer retrospektiven Studie, in welcher der Tremor berücksichtigt wird. Ist er essentiell? Was ist überhaupt essentiell? Essentielle Fettsäuren, Fette und Glyceride, ungesättigt, gehärtet, was ist heute noch gesund? Gemüse, Obst, Früchte? Frau im Supermarkt packt Schale mit Erdbeeren in ihren Einkaufswagen, kein gesunder Eindruck, aufgedunsenes Gesicht, blasser Teint, große Augenringe, Pi mal den Radius 1 zum Quadrat minus Pi mal den Radius 2 zum Quadrat, Ringbeschleuniger, Synchrotonstrahlung, im Bereich der Gigaelektronenvolt, Lichtgeschwindigkeit, Massenzuwachs. Ratlosigkeit der Massen, breite Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung, Hat S. eine Affäre? Sie geben nicht nach. Weitere Unruheherde in den nächsten Tagen befürchtet, Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, Ausbreitung, akustische Impedanz, Impedanz, Z gleich Betrag von Z mal e hoch i mal Phi. Cosinus von Phi gleich Ankathete durch Hypotenuse, Höhensatz des Euklid, c Quadrat gleich a Quadrat plus b Quadrat minus zwei a b mal Cosinus von Gamma. Gammastrahlung, Äquivalentdosis gleich Strahlenwichtungsfaktor mal Energiedosis, zehn bis zwanzig Gray Strahlenkrankheit, Walking-Ghost-Phase, Versagen des Nervensystems, NBIA-Dystonie, neurodegenerativ, pallidale Hirnstimulation. Stimulieren Sie ihre Sinne. Für das Wohlbefinden von Geist und Körper. Salz bindet das Wasser der Körperzellen, nicht zu salzhaltige Nahrung kaufen, Fett und Salz, Zucker, Geschmacksverstärker – Gift, Konservierungsstoffe, Farbstoffe. Beauty-Fehltritt des Tages: Pink-gefärbte Haare, violette Kleidung, schräg aussehen, verrückt, schrill, geil, geil auf die Frau, blicke ihr hinterher, delektiere mich an ihrer wohlgeformten, gebärfreudigen Hüfte, Sexualisierung der Gesellschaft, Hatte B. Sex mit K.? Aufklärung betreiben, Verhütungsmittel, trotz des schwachen Bevölkerungswachstums? Fertilitätsrate, eins Komma drei Prozent, Wahrscheinlichkeit sechs Komma drei sieben zwei Prozent, relative Häufigkeit, Sigma-Regel, Normal‑, Binomialverteilung, natürliche Linienbreite, Unschärferelationen, heisenbergsche Formeln, Energie-Zeit, Ort-Impuls, impulsive Nahost-Politik, kriegsähnliche Zustände, politische Spannungen, vertragliche Abkommen, Klimaschutzkonvente – was wurde gemacht? Große Töne, kleine Taten, große Worte, ich liebe dich, ich kann ohne dich nicht sein, Ist das Liebe? Reize in der Inselrinde, neurologische keine Unterscheidung von Liebe und Hass möglich, werde ich dich lieben oder hassen? Wirst du mal meine Frau sein? Königliche Hochzeit – das Volk ist eingeladen. Die ganze Nation feiert ihre neue Prinzessin, der Chefarzt feiert die gelungene Operation, Neuroonkologie, sequentielle 11C-Methionin-PET-Untersuchung offenbart keine metabolische Aktivität mehr, Therapie angeschlagen, Anschlag in Afghanistan, mehr als hundert Verletzte, Infinitesimalzahl, Leibniz-Reihe, Harmonie als Summe aller Monaden, creatio ex nihilo, Essai de Théodicée, die beste aller möglichen Welten, Steht die Welt vor einem neuen Krieg? Sanktionen gegen Nordkorea, nukleares Aufrüstungsprogramm schreit es von den Wänden, ich sehe Angst in den Gesichtern der Menschen, kaufen sie für den neuen großen Krieg? Präparieren sie sich bereits? Wer wird überleben? Terra-nuklearer Krieg, DEFCON 2, 22. Oktober 1962, Chruschtschow, R‑14 Mittelstreckenraketen, 1,65 Mt, ICBM, SALT-II-Verträge, Operation Anadyr, Operation am Herzen, zerebrale Ischämie, Thrombolysetherapie intravenös oder intraarteriell? Rehabilitation, transkranielle Gleichstromstimulation zur Induktion von Exzitabilität, kortikale Erregbarkeit, Erregung, mein letztes Mal, Blick auf einen perfekten Körper, das Leben ward leer geworden, blutleer, nun stehe ich da, mit knurrendem Magen, vaskuläre Demenz, ich habe nichts vergessen, habe Hunger, exakte Planung bis ins Detail. Wie genau war der Anschlag geplant? Wusste der Geheimdienst schon vorher Bescheid? Magnetresonanztomographie, Computertomographie, Angiographie, alle malten den Teufel an die Wand. Und der sollte nun auch kommen. Deduktive Wahrheit, zu verifizierende Prognose, experimentum crucis mit dem eigenen Leben. Er hat für uns alle das Kreuz getragen. Ich trage mein Schicksal selbst, komme nach Hause, Klarheit der Gedanken, ein Strom der angenehmen Leere, ein Strom, der durch die Steckdose, durch meine Hand, meinen Arm, meine Schultern, sich hin zum Herzen frisst, zum Hirn, Stillstand, Stau, Benzinpreise gestiegen, u von t gleich û mal Sinus von Omega mal t. Mehr gesunde Omega-3-Fettsäuren in der Margarine. Diese fällt zu Boden, als die Katze auf den Küchentisch springt. Sie riecht den Unangenehmen Geruch der Asche, tastet sich langsam vor, ich schaue ihr zu, attestiere mir mein eigenes Versagen, eine Fehlplanung, schaue ihr zu, bis sich irgendwann meine Augen schließen.«
Der vorausgehende Text stellt ein literarisches Experiment dar: Die eigentliche Handlung rückt nur als Rahmen in den Hintergrund, im erzählerischen Rampenlicht steht ein Querschnitt durch mehrere Themenbereiche, die im stetigen Wechsel lose und teilweise unübersichtlich miteinander verknüpft sind. Als Ergebnis dieses Konzeptes entstand eine Art Bewusstseinsstrom, der durch einen hohen Grad an Fachwörtern aus Medizin, Physik und anderen Wissenschaften kombiniert mit wenigen Wahrnehmungseindrücken eine kühle, technokratische, emotionslose Atmosphäre schafft.
Dies ist nur eine Art Prototyp, ein Versuch, der zu einem für mich zufriedenstellenden Ergebnis geführt hat. Nennen Sie mir bitte Ihre Eindrücke!
Zunächst einmal hab ich eigentlich ein Faible für solche Art von Texten. Ich halte sie auch weniger für experimentell (dafür gibt es ähnliches schon zu häufig in der Literatur). Sie sind allerdings mit einem großen Risiko behaftet: Der Leser muss in irgendeiner Form in die Gedankenwelt, den »Bewußtseinsstrom« des Autors hineingezogen werden. Gelingt dies, entsteht bei ihm – idealerweise – parallel eine solche Assoziationskette, die losgelöst von der »Vorlage« weitergeführt wird. Die Gefahren liegen darin, dass ein solcher Text ganz leicht droht, manieristisch zu werden. Daher gibt es sehr wenige Romane, die einen solchen Ton durchhalten.
Dass dieser Text unter »Moderne und Postmoderne« rubriziert wurde, ist sicherlich absichtsvoll geschehen. Man könnte eine Art von Überforderung des Erzählers herauslesen (attestiere mein eigenes Versagen), der seine Eindrücke aus (Fach-)Literatur, Nachrichtensendungen und anderen Medien in einer Art Schlagworttremolo fast zwanghaft reproduziert. Somit bekäme diese Figur eine Stellvertreterfunktion: Man ist längst nicht mehr in der Lage, all diese Schlagworte sinnvoll zu ordnen, sondern stösst sie nur noch hervor und komponiert – im Idealfall – zum Teil abstruse Zusammenhänge. Für diese Deutung ist der Text allerdings eigentlich zu kurz.
Ein Wort zur Einleitung: Ich halte so etwas für entbehrlich. Man hätte den Text mit einer entsprechenden Überschrift versehen einstellen und evtl. Erklärungen in einem Kommentar nachliefern können. Leser können auch ein bisschen herausgefordert werden. Einleitungen dieser Art nehmen meines Erachtens zu viel vorweg; engen die Lesemöglichkeiten ein bisschen zu vorschnell ein. (Aber ich weiss, dass meine Ansichten hierzu etwas exotisch sind.)
Die Einleitung könnte in der Tat einen Teil der Essenz des Textes vorneweg nehmen. Ich selbst finde solche Einleitungen ohnehin auch stets grenzwertig, aber ich wollte diese als eine Art »Making of« irgendwie anhängen (vielleicht hätte ich sie besser an den Schluss des Textes gestellt).
Ich habe bewusst auf eine Menge, für den Laien nicht unbedingt verständliches Fachwissen zurückgegriffen (wobei ich hier einfügen muss, dass ich etwa die medizinischen, bzw. neurologischen Begriffe größtenteils einfach nur aus dem Internet geangelt habe, ohne sie unbedingt erklären zu können – was aber ebenso beim Ich-Erzähler der Fall sein kann). Mit dem Unverständnis des Lesers zu spielen, ist eine neue Gangart für mich, konkrete Deutungsversuche sind daher und auf Grund der Länge des Textes – wie Sie richtig festgestellt haben – eher schwierig.
Was den Vorspann anbelangt, bin ich der gleichen Meinung. Ich habe deswegen auch erst den Text gelesen und dann das Vorwort (Mag sein, dass ich da schon viel zu viele Idiosynkrasien zuechte – die frappierend oft schon mit denen des Blogbetreibers uebereinstimmen).
Hmm.. was mir ins Auge sticht: Der Text hat kaum eine eigene Sprache (was auch ein Vorzug/Absicht sein mag), besteht meist aus Hauptwoertern, puren Assoziationen (die in den Hintergrund gerueckte Handlung ist fuer mich gar nicht mehr erkennbar/vorhanden, hoechstens in einer Frau, zwei Frauen, die vorbeigehen?) – Mich erinnert das fast schon an eine Nachrichtensendung, oder vielleicht wie ein Strom von Hauptwoertern, der sich einstellen wuerde, scannte man die Schlagzeilen einer Zeitung – statt dem Supermarktsetting koennte also auch gut einer auf der Couch sitzen und Nachrichten schauen oder zappen. [Das ist fuer mich vielleicht auch eines der interessantesten Themen: jedes Bewusstsein, wir begreifen uns ja immer als einzigartig, dabei.. wenn man sich so einen Bewusstseinsstrom anschaut ist er doch sehr gewoehnlich, normiert, steht immer im Kontakt mit den anderen – wir stehen immer in dem Spannungsfeld von Individualitaet und Normierung, Rebellion und Anpassung?]
Sie haben viele Formeln im Text – ich mag die ja lieber so: – aber sie auszusprechen ist hier wohl zweckmaessiger.
Eine Frage wollte ich stellen, aber die haben Sie schon fast beantwortet. Da ging es mir um die »Authentizitaet« (eine Kategorie von der ich eigentlich nichts halte) der Assoziationsketten: naemlich, ob diese ohne Netzkontakt ueberhaupt moeglich waeren. Die ganzen Zahlen und Fakten klingen schon so, als haette der sie Auflistende mit dem Smartphone im Supermarkt stehen muessen. (Das beruehrt den Text eigentlich aber nicht – es ist mehr diese Frage, die ich aufgeworfen sehe: wie sich unsere Bewusstseinsstroeme in An/ oder Abwesenheit des Netzes verhalten.)
Da einiges an Medizin vorhanden war, fuehlte ich mich ein wenig an Rainald Goetz’ »Irre« erinnert. Kennen Sie das Buch? Sonst wuerde ich es sehr empfehlen – da gibt es naemlich vielleicht gerade solch individuelle, wild wuchernde Assoziatonsrhizome.
So weit meine zusammenhanglosen Assioziationen...
@Phorkyas
Gleichfalls – was die »Authentizität« angeht. Ich mag diese Modeikone der Literaturkritik auch nicht.
Meines Erachtens geht es in diesem Text darum aber nicht. Die interessantere Fährte ist die mit der Nachrichtensendung und dem nicht mehr fassbaren Strom von Begrifflichkeiten, die da auf einen niederprasseln. Die Assoziation (sic!) zu Goetz ist sehr naheliegend. Es gab vor vielen Jahren noch ein anderes Buch – ich habe es nicht gelesen bzw. nur die ersten Seiten – und zwar von jemandem, von dem man es nicht erwartet hatte: »Bloomsday 97« von Walter Kempowski (Hier eine Besprechung von Bahners zu diesem Buch; er stört sich an Transkriptionsfehlern, was eher kleinlich ist, weil dies ja zur Rezeption dazugehört).
Ich will meinen Vorschreibern zustimmen: Wenn Erläuterungen oder Erklärungen, dann bitte am Schluss oder als Kommentar (man ist beim Lesen weniger beeinflusst bzw. voreingenommen).
Was mir fehlt, ist, dass ich nicht »hineinkippe«, es entsteht kein Sog, keine Subjektivität, keine Stimme (was auch an mir liegen kann) – ich habe zu sehr den Eindruck einer bloßen Aneinanderreihung von Wörtern (vielleicht lese ich den Text später noch einmal).
Die meisten erkennen eine fehlende Identifikationsmöglichkeit. Das ist gut. Dies war in gewisser Weise auch intendiert gewesen.
Der Autor hat seine Einleitung sozusagen zum Epilog »umgewandelt«.
Dies nur für diejenigen, die sich über die bisherigen Kommentare wundern...
@Count Lecrin:
Ging es also, in etwa, darum ein verwissenschaftlicht-entkernt-(normiertes) Subjekt zu präsentieren, das seine Individualität eigentlich schon eingebüßt hat? (Vielleicht sollte man auch mal aus der Sicht eines philosophischen Zombies schreiben? http://en.wikipedia.org/wiki/Philosophical_zombie )
@Phorkyas:
Ja und nein. Einerseits sollte der Ich-Erzähler natürlich keine persönliche Seite, aber dafür mehrere Bereiche umfassende wissenschaftliche Kenntnis haben, andererseits ging es mir aber einfach um gar nichts, ich wollte einfach aus dem Stegreif und einem Reservoir von Fachwissen heraus einen Charakter konstruieren.
Ihre die Quintessenz des Beitrags betreffende Frage ist gewissermaßen ein Versuch, den Beitrag ebenfalls zu verwissenschaftlichen. (Diese Aussage mag zwar vielleicht etwas überspitzt klingen, könnte aber ein interessanter Denkanstoß zur Diskussion sein)
Vielleicht nicht zu verwissenschaftlichen, sondern in das Korsett meiner eigenen Deutung zu zwängen.
Implizit habe ich damit vielleicht auch schon die Meinung geäußert, dass sich rein aus Fachwissen (oder der Wikipedia) kein Charakter aus Papier und Blut ergibt. (Nun ist das nur eine kleine Skizze, aber ich musste auch gleich an Homo Faber denken, und andere Assoziationen, die schon wieder versunken sind – Homo Faber, der vielleicht so manchen Naturwissenschaftler/Ingeneur ob Flachheit/Überzeichnung auch schon verärgert hat)
@Phorkyas
Der Vergleich mit Homo Faber ist interessant. Wäre es aber nicht eher ein Anti-Homo-Faber?
Ob der Vergleich taugt, weiß ich nicht. – Das »Anti« verstehe ich aber nicht so recht. Homo-Faber ist mir als eine Art poetischer Technikerexorzismus in Erinnerung. Hier ist mir eben noch überhaupt nicht klar, ob es ein Exorzismus sein soll, ob also das dargestellte technisierte-wikipediarisierte »Subjekt« überwunden werden soll.. oder lediglich als solches vor uns gestellt.
Ich habe Homo Faber als einen zutiefst technikgläubigen Protagonisten in Erinnerung (wenigstens zu Beginn; am Ende erfolgt ja im Angesicht des nahenden Todes so etwas eine Läuterung, die mir das Buch dann eher vermiest hatte). In diesem Text hier erscheint mir die Aneinanderreihung nurmehr eine erster Nachweis für eine gewisse Überforderung des Subjekts mit den ihm medial zufallenden Begriffen.
(Ich bezog mich nur auf die Läuterung.. Ich finde den Techniker/homo faber ohne Läuterung auch viel reizvoller.. Leider ist das Buch überhaupt nicht mehr präsent – Weiß nur noch dunkel, dass Zufälle eine große Rolle spielen.. und reist er nicht zu Beginn auch nach Brasilien oder in Urwaldnähe? Also in Nähe des überbordend Organischen?)
Leider war der Text mir schon in gefährliche Entfernung gerückt, merke ich bei Ihrem letzten Satz – und die Ver(w)irrung nimmt eher noch zu (vielleicht sollten sich doch besser mal andere zu Wort melden)
D’accord.