Ma­ja Ha­der­lap: En­gel des Ver­ges­sens

Maja Haderlap: Engel des Vergessens

Ma­ja Ha­der­lap: En­gel des Ver­ges­sens

Am En­de re­ka­pi­tu­liert die ein­mal von ih­rem Va­ter Mic ge­nann­te Er­zäh­le­rin, dass der En­gel des Ver­ges­sens schlicht­weg ver­ges­sen ha­be, die Spu­ren der Ver­gan­gen­heit aus ih­rem Ge­dächt­nis zu til­gen. Die Schutz­en­gel, die das Kind be­hü­ten soll­ten und von der Mut­ter als klei­ne Bild­chen am Kin­der­bett an­ge­bracht wur­den, ha­ben ih­re Ge­stalt ver­lo­ren und wer­den – was für ei­ne Me­ta­mor­pho­se – zum ge­schrie­be­nen Wort, zur Er­zäh­lung.

Im Wirts­haus, am Kü­chen­tisch, vor dem Schla­fen­ge­hen, bei der Fa­mi­li­en­fei­er, am To­ten­bett, in der frem­den Stadt – im­mer wie­der bre­chen bei den Prot­ago­ni­sten des Ro­mans von Ma­ja Ha­der­lap die Erinner­ungen aus dem Vergangenheits­keller her­vor. Und jetzt bei ihr, der Nachge­borenen, die Er­in­ne­run­gen an die Erinner­ungen. Das viel­leicht heil­sa­me Ver­ges­sen ist un­­möglich, zu mäch­tig sind die Prä­gun­gen, die Ver­wun­dun­gen, zu tief die Nar­ben, zu do­mi­nant das Ge­fühl in ei­nem Land zu le­ben, dass ei­nem die Er­in­ne­run­gen neh­men, sie usur­pie­ren und ver­bie­gen möch­te.

Maja Haderlap (© Max Amann)

Ma­ja Ha­der­lap (© Max Amann)

Es be­ginnt in der schwar­zen Kü­che der Groß­mutter, in den 60ern, die Er­zäh­le­rin ist viel­leicht sechs, höch­stens sie­ben Jah­re alt. Ein Bau­ern­hof, das Dorf heißt Lepe­na (Lep­pen) bei Že­lez­na Ka­p­la (Ei­sen­kap­pel) in Kärn­ten. Die Fa­mi­lie ge­hört der Min­der­heit der Kärnt­ner Slo­we­nen an; die Um­gangs­spra­che ist slo­we­nisch. Ha­der­lap er­zählt in der Ich-Form und vie­le im Buch er­wähn­te au­to­bio­gra­phi­sche Da­ten tref­fen auf sie zu, ob­wohl es na­tür­lich ei­ne Er­zäh­lung ist; ein fik­tio­na­les Werk. Es wird fast aus­nahms­los im Prä­sens und bis auf die Par­ti­sa­nen­ge­schich­ten chro­no­lo­gisch er­zählt. Sel­ten gibt es zu­rück­­blickend-re­fle­xi­ve Ein­schü­be; manch­mal Ex­kur­se. Es ge­hört zu ei­ner der er­sten Ver­zauberungen die­ses Bu­ches, dass Ma­ja Ha­der­lap ei­nen Ton fin­det, der we­der kind­lich noch kin­disch da­her­kommt; es wird erst gar nicht ver­sucht, die Spra­che des Kin­des als Er­zähl­trick zu evo­zie­ren. Er­zählt wird nüch­tern, aber nicht kühl, sinn­lich und doch nicht über­la­den, manch­mal pa­the­tisch aber nie ver­klä­rend, zu­wei­len par­tei­isch aber nie­mals ver­bis­sen. Schnell fühlt sich der Le­ser ein­ge­la­den, ist nicht bloß Zu­schau­er oder gar Voy­eur, son­dern Gast.

–> wei­ter­le­sen bei Glanz und Elend

Li­te­ra­ri­sches Stil-Ex­pe­ri­ment

»Hirn­sti­mu­la­ti­on, Aus­wir­kun­gen auf den Nu­cleus ven­tra­lis in­ter­me­di­us tha­la­mi: Ich se­he die Not­wen­dig­keit ei­ner re­tro­spek­ti­ven Stu­die, in wel­cher der Tre­mor be­rück­sich­tigt wird. Ist er es­sen­ti­ell? Was ist über­haupt es­sen­ti­ell? Es­sen­ti­el­le Fett­säu­ren, Fet­te und Gly­ce­ri­de, un­ge­sät­tigt, ge­här­tet, was ist heu­te noch ge­sund? Ge­mü­se, Obst, Früch­te? Frau im Super­markt packt Scha­le mit Erd­bee­ren in ih­ren Ein­kaufs­wa­gen, kein ge­sun­der Ein­druck, auf­ge­dun­se­nes Ge­sicht, blas­ser Teint, gro­ße Au­gen­rin­ge, Pi mal den Ra­di­us 1 zum Qua­drat mi­nus Pi mal den Ra­di­us 2 zum Qua­drat, Ring­be­schleu­ni­ger, Syn­ch­ro­ton­strah­lung, im Be­reich der Gi­ga­elek­tro­nen­volt, Licht­ge­schwin­dig­keit, Mas­sen­zu­wachs. Rat­lo­sig­keit der Mas­sen, brei­te Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit in der Be­völ­ke­rung, Hat S. ei­ne Af­fä­re? Wei­ter­le­sen

Bit­te ins Fett­näpf­chen tre­ten

Der deut­sche Fern­seh­kon­su­ment ge­nie­ße noch die­sen Som­mer. Denn ab Herbst star­tet die ARD mit ei­ner Talk­show-Of­fen­si­ve fast bi­bli­schen Aus­ma­ßes: Jauch, Beck­mann, Plas­berg, Will, Maisch­ber­ger – im Vor­abend­pro­gramm ab 2012 Gott­schalk. Kei­ne Ah­nung, ob die Phoe­nix-Run­de – das klei­ne Re­fu­gi­um für die ge­pfleg­te Dis­pu­ta­ti­on am Abend – noch bleibt. Das ZDF wird frü­her oder spä­ter nach­zie­hen müs­sen. Frau Ill­ner an ei­nem Tag reicht wohl für das Gleich­ge­wicht des wö­chent­li­chen Schreckens nicht aus. Man fragt sich, wie die po­ten­ti­el­len Ge­sprächs-Kom­bat­tan­ten dies durch­ste­hen. Ver­ein­zelt gab es schon jetzt gro­ße Be­la­stun­gen. Ein Herr Chat­zi­markakis wur­de für gleich zwei Ka­ta­stro­phen zum Ex­per­ten er­nannt: Grie­chen­land und FDP. Un­ver­ges­sen der Tag des Auf­tritts in der »Münch­ner Run­de« und ei­ne Stun­de spä­ter bei Phoe­nix. Und kürz­lich trat er dann noch als Mo­ral­apo­stel in ei­ge­ner Sa­che auf (Stich­wort: Fal­scher Dok­tor).

Als im Pri­vat­sen­der RTL wei­land mit dem »Hei­ßen Stuhl« Pro­vo­ka­teu­re bzw. je­ne, die als sol­che emp­fun­den wur­den, in­qui­si­to­ri­schen Ver­hö­ren un­ter­zo­gen wur­den, droh­te bei den da­ma­li­gen Me­di­en­wäch­tern der Un­ter­gang der Kul­tur. Zwan­zig Jah­re spä­ter ha­ben Pro­grammdirektoren ih­re be­sten Sen­de­zei­ten zur rhe­to­ri­schen Schmier­sei­fen-Olym­pia­de à la »Spiel oh­ne Gren­zen« zur Ver­fü­gung ge­stellt. In­zwi­schen wer­den selbst die Sommer­interviews der Spit­zen­po­li­ti­ker wie hei­li­ge Tex­te ana­ly­siert und ge­deu­tet. Da ist es so­gar ei­ne Nach­richt, dass das Sak­ko der Kanz­le­rin farb­lich nicht zum Fra­ge­ses­sel pass­te.
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Ali­ce Mun­ro: Zu viel Glück

Alice Munro: Zu viel Glück

Ali­ce Mun­ro: Zu viel Glück

Es gibt Au­toren, die seit Jah­ren der­art in­nig ge­lobt wer­den, dass man ih­nen ir­gend­wann nicht ent­kom­men kann. Die über die Jah­re auf­ge­bau­te Er­war­tungs­hal­tung (»Literaturnobelpreis­kandidat!«) führt fast zwangs­läu­fig in ei­ne Ent­täu­schung (zu­meist mitt­le­rer Di­men­si­on): Na­ja, nicht schlecht – aber gleich No­bel­preis?

Es ge­hört zu den letzt­lich un­er­klär­li­chen Ge­heim­nis­sen ei­nes Le­ser­le­bens, war­um man sich aus­ge­rech­net für die­sen oder je­nen Au­toren be­gei­stert. Ist man dem Au­tor, der Au­torin na­he? Oder ist es das Ge­gen­teil, die un­er­reich­ba­re Di­stanz? Ergriffen­heit ver­sus Aben­teu­er­lust? Su­chen nach Par­al­le­len oder Flucht aus dem Be­kann­ten? Auf­ge­ho­ben­sein oder Stell­ver­tre­ter­le­ben?
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Noch ein­mal zur Bau­stel­le

AKTUALISIERUNG 15. Ju­li: Es ist ge­schafft. 408 Bei­trä­ge ste­hen jetzt zur Ver­fü­gung; et­was über 50 ver­blei­ben in der pri­va­ten Scha­tul­le (man­gels Qua­li­tät und/oder Aktu­alität). Die Kom­men­ta­re wur­den teil­wei­se von Hand hin­zu­ge­fügt bzw. er­gänzt. Es sind mehr als 5.000. Da­bei wur­de von mei­ner Sei­te fest­ge­stellt, dass es vie­le Dis­kus­sio­nen gibt, die das Nach­le­sen loh­nen – auch wenn sie teil­wei­se schon ei­ni­ge Jah­re alt sind. Manch­mal hat­te ich mich tat­säch­lich fest­ge­le­sen.

Es sind im Hin­ter­grund noch klei­ne­re Ar­bei­ten zu lei­sten; das er­folgt zü­gig, aber nicht un­be­dingt ei­lig.


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Pro­zent­rech­nung

Pro­zess­ko­sten bei Zi­vil­ver­fah­ren sind nach ei­nem neu­en Ur­teil des Bun­des­fi­nanz­ho­fes jetzt steu­er­lich ab­setz­bar. Die »ta­ges­schau« be­rich­te­te in ih­rer 20-Uhr-Aus­ga­be dar­über und woll­te zei­gen, wie die Er­stat­tung, die nach dem Ein­kom­men ge­staf­felt ist, aus­se­hen könn­te.

Man nahm ei­nen un­ver­hei­ra­te­ten Ar­beit­neh­mer mit ei­nem Jah­res­ein­kom­men von 70.000 Eu­ro an. Das Ur­teil sieht wohl in die­sem Fall ei­ne Selbst­be­tei­li­gung von 7% vor. Erst wenn die Ko­sten hö­her sein soll­ten, kann dies steu­er­lich ab­ge­setzt wer­den. Die »ta­ges­schau« blen­de­te ei­ne Gra­fik ein, in der 7% von 70.000 mit »un­ge­fähr« 10.000 Eu­ro an­ge­setzt wur­de.

Das ist na­tür­lich falsch, denn 7% von 70.000 sind 4.900. Ich woll­te noch ein­mal nach­se­hen, ob ich in der Ei­le da et­was nicht rich­tig ver­stan­den ha­be. Aber im Zu­sam­men­schnitt auf »tagesschau.de« fehlt die­se Se­quenz ein­fach.

Ein Schelm, wer Bö­ses da­bei denkt.

In­ge­borg Bach­mann: Die Ra­dio­fa­mi­lie

Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie

In­ge­borg Bach­mann:
Die Ra­dio­fa­mi­lie

Im Rah­men ih­rer Tä­tig­keit als »Script Edi­tor« beim öster­rei­chi­schen Sen­der »Rot-Weiß-Rot« (RWR) ver­fass­te In­ge­borg Bach­mann – ne­ben an­de­ren Hör­spiel­be­ar­bei­tun­gen und –über­set­zun­gen – zwi­schen Fe­bru­ar 1952 und Ju­li 1953 ins­ge­samt 15 Fol­gen der sei­fen­oper­ähn­li­chen Se­rie »Die Ra­dio­fa­mi­lie«, die zu­nächst 14tätig, bald je­doch wö­chent­lich aus­ge­strahlt wur­de (mit Aus­nah­me ei­ner Som­mer­pau­se); im­mer ge­nau 30 Mi­nu­ten. In­ge­borg Bach­mann kann zu­sammen mit den bei­den an­de­ren Au­toren Jörg Mau­the und Pe­ter Wei­ser als Schöp­fe­rin der »Ra­dio­fa­mi­lie« gel­ten. Die letz­te von ihr ge­schrie­be­ne Fol­ge war Nr. 63 und wur­de im Sep­tem­ber 1953 aus­ge­strahlt. »Die Ra­dio­fa­mi­lie« wur­de 1955 nach 153 Fol­gen im Sen­der RWR auf­grund ih­rer Be­liebt­heit im ORF wei­ter­ge­führt. Erst im Ju­ni 1960, mit der 351. Fol­ge, wur­de die Se­rie ein­ge­stellt. Wei­ter­le­sen

Kurz­zeit­ge­dächt­nis auf zwei Bei­nen

Ein Er­leb­nis­ta­ge­buch von den 32. Ta­gen der deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur in Kla­gen­furt

Don­ners­tag, der 26. Ju­ni 2008: Von der Wie­ge bis zur Ur­ne

Wo blie­ben sie denn, die lei­sen Tö­ne, die man ei­gent­lich von Schrift­stel­lern er­war­ten müß­te, er­war­ten dürf­te, ge­ra­de von ih­nen, nur von ih­nen, von wem denn sonst, wo­zu sei­en sie denn da? D., Über­set­zer aus dem Fran­zö­si­schen, schwa­dro­niert mit ver­drieß­li­cher, mit ver­dros­se­ner Mie­ne und ver­teilt da­bei Bröt­chen­krü­mel auf der Tisch­decke. Kla­gen­furt sei Deutsch­land-sucht-den-Su­per-Dich­ter, die Me­di­en such­ten kul­tu­rel­les Bil­lig­fut­ter, die Kul­tur­in­du­strie wol­le mit un­ge­sät­tig­ten Fett­säu­ren ab­ge­füt­tert wer­den, und schließ­lich sei er ja auch ein Kurz­zeit­ge­dächt­nis auf zwei Bei­nen, der Le­ser von heu­te. Mir egal, den­ke ich, mir egal, denn ich ha­be ge­ra­de Salz in mei­nen Ver­län­ger­ten (deutsch­län­disch: Kaf­fee) ge­schüt­tet und es zu spät ge­merkt.

Wir sit­zen in der Häs­chen­schu­le bei der Le­sung des Kla­gen­fur­ter Li­te­ra­tur­kur­ses, gleich­sam der Wie­ge des Bach­mann-Wett­be­werbs. Wir sit­zen im Ro­bert-Mu­sil-Mu­se­um, im Raum, in dem Klein-Ro­bert das Ge­hen ge­lernt hat oder das Lal­len, und wir sind selbst schuld. Au­ßer mir lie­gen al­le Au­toren am Wör­ther­see, bei 36 Grad im Schat­ten. Nur ich sit­ze in der Hit­ze. Die steht mit­ten im Raum wie ein Gast, den man nicht los­ge­wor­den ist. Trotz her­un­ter­ge­las­se­ner Ja­lou­sien und dem all­ge­mei­nen Ge­fä­chel mit Pro­gramm­hef­ten spü­re ich, wie ich schon nach we­ni­ger als zehn Mi­nu­ten gar bin. Ei­nem, dem man an­merkt, daß er heu­te zum er­sten Mal in sei­nem Le­ben vor Pu­bli­kum liest, fal­len die Schweiß­trop­fen aufs Pa­pier. Sei­ne drei­ßig­mi­nü­ti­ge Er­zäh­lung ist ein Weg­wol­len auf Ab­ruf, sei­nen Schluß­satz spricht er schon im Auf­ste­hen. Wei­ter­le­sen