Jer­zy Jedlicki: Die ent­ar­te­te Welt

Jerzy Jedlicki: Die entartete Welt

Jer­zy Jedlicki: Die ent­ar­te­te Welt

Jer­zy Jedlicki, Jahr­gang 1930, Hi­sto­ri­ker an der Pol­ni­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und spe­zia­li­siert auf Ideen­ge­schich­te, hat mit der Auf­satz­samm­lung »Die ent­ar­te­te Welt« ein auf­schluss­rei­ches Buch vor­ge­legt. Sein de­tail­rei­cher, aber nie er­drücken­der Blick auf die Ideen­ge­schich­te des 19. Jahr­hun­dert bis zum Er­sten Welt­krieg, spe­zi­ell auf die De­ge­ne­ra­ti­on d’an­g­lai­se, de­ren Schil­de­rung mehr als die Hälf­te des Bu­ches aus­füllt, ist er­fri­schend un­auf­ge­regt. Da wird nicht in je­dem drit­ten Satz ei­ne Kon­ti­nui­tät in das 20. Jahr­hun­dert hin­ein kon­stru­iert, be­haup­tet oder nach­ge­wie­sen. Jedlicki baut auf die ge­schichts­be­wuss­te Kom­pe­tenz des Le­sers und des­sen Fä­hig­keit, Fä­den auf­zu­neh­men und ggf. wei­ter­zu­spin­nen oder zu ver­wer­fen.

Und wenn er – wie im Vor­wort – die Brücke zur Neu­zeit schlägt und fest­stellt, dass der Be­griff der »Kri­se« heu­te gna­den­los über­stra­pa­ziert wird und da­durch sei­ne kla­ren se­man­ti­schen Kon­tu­ren ver­liert, kommt dies nie als pri­mi­ti­ves Zeit­geist­bas­hing da­her – eher im Ge­gen­teil. Jedlicki zeigt spe­zi­ell am Bei­spiel Eng­lands und Frank­reichs, dass un­ge­fähr seit der in­du­stri­el­len Re­vo­lu­ti­on par­al­lel zu den en­thu­si­as­mier­ten, teil­wei­se fu­tu­ri­stisch oder an­ders­wie ideo­lo­gisch be­ein­fluss­ten Fort­schritts­gläu­bi­gen und –hö­ri­gen he­te­ro­ge­ne Ge­gen­be­we­gun­gen her­vor­tre­ten, die in ei­ner Mi­schung zwi­schen hi­sto­risch ar­gu­men­tie­ren­dem Ge­schichts­pes­si­mis­mus, ver­zwei­fel­ten Re­stau­ra­ti­ons­be­mü­hun­gen (ins­be­son­de­re der Ro­man­ti­ker, die Jed­lin­ki als Ge­gen­auf­klä­rer be­greift und mit de­nen er ver­gleichs­wei­se scharf ins Ge­richt geht) und ni­hi­li­sti­schen Welt­un­ter­gangs­pro­phe­zei­un­gen das mehr oder we­ni­ger bal­di­ge En­de der Zi­vi­li­sa­ti­on und/oder Kul­tur be­fürch­ten (ge­le­gent­lich auch her­bei zu be­schwö­ren schei­nen).

Der »Dis­kurs über die Kri­se« be­ginnt mit der Auf­klä­rung

Zwar wird auf ho­hem Ni­veau die prak­tisch seit Exi­stenz der Schrift­kul­tur mess­ba­re Zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­tik in vie­len (west­li­chen) Kul­tu­ren er­läu­tert, Jedlicki plä­diert aber nach­drück­lich für ei­ne kla­re zeit­li­che Ab­gren­zung des Dis­kur­ses über die Kri­se. Von dem Zeit­punkt an, als die Men­schen auf den Ge­dan­ken kom­men und das Be­wusst­sein ent­wickeln selbst ih­re Ge­schich­te [zu] ma­chen, al­so in dem Mo­ment, als die Ver­ant­wor­tung des Men­schen­ge­schlechts oder zu­min­dest sei­ner auf­ge­klär­ten Füh­rer für die­se Zi­vi­li­sa­ti­on und für Eu­ro­pa an­er­kannt wird, be­ginnt das, was er zu­sam­men­ge­fasst Degeneration…der Fort­schritts­idee nennt.

Die­se be­ginnt al­so mit der Auf­klä­rung (und dem da­mit ver­bun­de­nen suk­zes­si­ven Zu­rück­wei­chen der Re­li­gio­nen) En­de des 18./Anfang des 19. Jahr­hun­derts. Sie ist un­wei­ger­lich mit der zu­neh­men­den, spä­ter ra­sant sich ent­wickeln­den In­du­stria­li­sie­rung ver­bun­den, dem me­cha­ni­schen Zeit­al­ter, und wird durch sie be­feu­ert. Ei­ner der er­sten, die im Men­schen das »ent­ar­te­te Tier« sa­hen, war Rous­se­au. Auch für Schil­ler galt die »gei­sti­ge Auf­klä­rung« be­reits als Ver­derb­nis. Für an­de­re war der Mensch des Fort­schritts ei­ne »mo­ra­lisch recht pri­mi­ti­ve Spe­zi­es« mit »schier un­glaub­li­chem« – pri­mär de­struk­tiv emp­fun­de­nen – »Po­ten­ti­al«.

Die Zi­ta­te, die Jedlicki von den nach­fol­gen­den Ka­ta­stro­phi­sten und Uto­pi­sten, den Apo­ka­lyp­ti­kern mit ih­ren ne­ga­ti­ven Ob­ses­sio­nen, den Kri­ti­kern von Öko­no­mie und In­du­stria­li­sie­rung bringt, sind teil­wei­se der­art »ak­tu­ell«, dass sie – mit klei­nen Ab­än­de­run­gen – auch heu­te noch mü­he­los in ka­pi­ta­li­stisch-kul­tur­kri­ti­sche Feuil­le­tons über­nom­men wer­den könn­ten. Ein Hö­he­punkt die­ser Ideen­ge­schich­te ist na­tür­lich Os­wald Speng­ler und des­sen »Un­ter­gang des Abend­lan­des«. Hier ver­band sich das schwül­sti­ge, groß­spre­che­ri­sche Pa­thos der deut­schen Ge­schichts­ro­man­tik – de­ren har­ter, nietz­schea­ni­scher Va­ri­an­te jeg­li­che Sen­ti­men­ta­li­tät ab­ging – mit dem pro­phe­ti­schen Grö­ssen­wahn ei­nes Man­nes, der ab­so­lut da­von über­zeugt schien, sein Werk lö­se al­le Rät­sel der Mensch­heits­ge­schich­te. Jedlicki greift hier ei­ne der we­ni­gen Ma­le wer­tend ein. Er sieht den (kurz­zei­ti­gen [wirk­lich?]) Er­folg des Bu­ches so­wohl in dem Mo­ment der er­sten Ver­öf­fent­li­chung (der er­ste Band er­schien 1918) als auch in ei­ner Mi­schung ei­nes My­thos vom Un­ter­gang des Abend­lan­des, ei­ner Be­schwö­rung preussische[r] Här­te und mitreissende[m] Stil – kann aber mit dem Re­sul­tat we­nig an­fan­gen und hält das Buch letzt­lich für ek­lek­ti­zi­stisch an al­te The­sen an­dockend, die ent­spre­chend poin­tiert vor­ge­bracht wur­den.

Ein kul­tu­rel­ler Wert in sich: un­ab­läs­si­ge Selbst­kri­tik

Als Ré­su­mé des Auf­sat­zes »Drei Jahr­hun­der­te Ver­zweif­lung« er­greift Jedlicki dann em­pha­tisch Par­tei für die Zweif­ler und Grüb­ler – oh­ne das Ge­schäft der Hy­ste­ri­ker be­trei­ben zu wol­len: Die wie auch im­mer de­fi­nier­te Kri­se der Kul­tur ist nicht die Aus­nah­me, son­dern ihr Normalzustand…Das ist auch gut so – er­wächst doch je­der Fort­schritt aus Un­glück, Ent­set­zen und Auf­leh­nung. Aus der Auf­leh­nung ge­gen die Hilf­lo­sig­keit der Men­schen an­ge­sichts der Pest ent­stand die Me­di­zin. Aus dem Ent­set­zen, dass sich un­ser Glo­bus in ei­ne stin­ken­de Kloa­ke ver­wan­delt, ent­stan­den die Um­welt­be­we­gung und ih­re Er­fol­ge. Aus dem Ein­spruch ge­gen Un­ter­drückung und Er­nied­ri­gung ent­stan­den die Men­schen­rech­te und die Hu­ma­ni­tät der Straf­ge­setz­ge­bung. Aus dem Ge­fühl der Wer­te­kri­se ent­steht der Wil­le zur Ver­tei­di­gung die­ser Wer­te, der nur dann zu ei­ner Be­dro­hung wird, wenn er nach Per­fek­ti­on strebt. Hier­für ent­wickelt Jedlicki den To­pos der se­gens­rei­chen Kri­se.

Wei­ter: Die­ser kon­ti­nu­ier­li­che Dis­put über die Ge­bre­chen des Jahr­hun­derts, die mo­ra­li­schen Män­gel der Mo­der­ne, die gei­sti­ge Lee­re der tech­no­lo­gi­schen Ge­sell­schaft [mag] zwar ge­le­gent­lich mo­no­ton, na­iv, vol­ler Kli­schees und Ste­reo­ty­pe sein, ist je­doch – laut Jedlicki – ein kul­tu­rel­ler Wert in sich. Frei­lich ver­wirft er ei­ne Re­gres­si­on in ei­nen »Hoff­nungs­glau­ben« aus Re­li­gio­nen. Das wä­re erst recht der Tod der eu­ro­päi­schen Kul­tur, zu de­ren schön­sten und hof­fent­lich un­ver­äu­sser­li­chen Ei­gen­schaf­ten ih­re un­ab­läs­si­ge Selbst­kri­tik ge­hört.

Und in dem Es­say »Das ne­ga­ti­ve Ste­reo­typ des We­stens«, in dem Jedlicki die In­ter­de­pen­den­zen zwi­schen der eng­li­schen und fran­zö­si­schen Mo­der­ne auf der ei­nen Sei­te und der Ab­leh­nung die­ser durch gro­sse Tei­le der pol­ni­schen In­tel­li­genz auf der an­de­ren Sei­te un­ter­sucht (man be­kommt hier und in dem Bei­trag »Der Pro­zeß ge­gen die Stadt« sehr schön auf knapp­stem Raum ei­ne Über­sicht über die pol­ni­sche Ge­müts­la­ge re­kur­rie­rend aus den hi­sto­ri­schen Trau­ma­ta und gip­felnd noch heu­te in zy­klisch auf­tre­ten­den an­ti­mo­der­ni­sti­schen und na­tio­na­li­sti­schen Pha­sen) steht am En­de, dass un­ab­läs­si­ge Selbst­kri­tik und Selbst­zwei­fel kon­stan­te Merk­ma­le der west­li­chen Kul­tur sind. Seit fast drei­hun­dert Jah­ren (hier wi­der­spricht sich der Au­tor ein biss­chen) neh­men die Zeit­ge­nos­sen (und nicht nur die Hi­sto­ri­ker) ih­re Zeit auch als ei­ne Epo­che der Kri­se, der fun­da­men­ta­len Er­schüt­te­rung der ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung und der mo­ra­li­schen Wer­te wahr. Man kann sa­gen, so Jedlicki, dass die per­ma­nen­te Kri­se der Ag­gre­gat­zu­stand der neu­zeit­li­chen wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Zi­vi­li­sa­ti­on ist, die nie­mals ei­nen Zu­stand des Gleich­ge­wichts oder der Sta­bi­li­sie­rung ih­rer In­sti­tu­tio­nen, Theo­rien und Prak­ti­ken er­reicht.

Op­ti­mis­mus und Angst

Sehr in­for­ma­tiv dann der be­reits an­ge­spro­che­ne, um­fang­rei­che Bei­trag über die »De­ge­ne­ra­ti­on d’an­g­lai­se«. Jedlicki be­schreibt von An­fang des 19. Jahr­hun­derts be­gin­nend chro­no­lo­gisch und de­zi­diert die un­ter­schied­li­chen, kul­tur­kri­ti­schen Strö­mun­gen haupt­säch­lich Eng­lands – mit klei­nen Aus­flü­gen auf das fran­zö­si­sche Fest­land. Selbst auf dem Hö­he­punkt des vik­to­ria­ni­schen Fort­schritts­op­ti­mis­mus wucht­erten die Äng­ste und Ob­ses­sio­nen. Par­al­lel zum En­thu­si­as­mus wach­sen­der In­du­stria­li­sie­rung wuch­sen die Ab­nei­gun­gen ge­gen die­se Ent­wick­lun­gen (die Wor­te be­gan­nen fast al­le mit »De und sie wer­den akri­bisch auf­ge­zählt).

Da gab es die­je­ni­gen, wel­che die Ar­bei­ter als ent­wür­digt und de­gra­diert be­trach­ten (was dann spä­ter im Mar­xis­mus gip­fel­te); die (die­sem Den­ken ver­wand­ten) Äng­ste der Phi­lo­so­phen; die Kri­tik ei­nes Wil­liam Mor­ris, der die Wis­sen­schaft (ge­meint sind die Na­tur­wis­sen­schaf­ten im wei­te­sten Sinn) zur Skla­vin ei­nes wi­der­li­chen Buchhalter‑, Drill- und Zwangs­sy­stems sah; die un­ter­schied­li­chen In­ter­pre­ta­tio­nen des Dar­wi­nis­mus (in­klu­si­ve der Ab­leh­nung des­sel­ben und der »Wei­ter­ent­wick­lung« zum »So­zi­al­dar­wi­nis­mus«); der Vor­be­hal­te selbst ho­no­ri­ger Phi­lo­so­phen, Po­li­ti­ker und In­tel­lek­tu­el­ler ge­gen das all­ge­mei­ne Wahl­recht (die Äng­ste vor dem »Pö­bel«; der Mas­se und de­ren Mit­be­stim­mung); die teil­wei­se hell­sich­ti­gen Pro­gno­sen von John Stuart Mill in Be­zug be­züg­lich Mas­sen­kul­tur und Jour­na­lis­mus (das Auf­kom­men der Bou­le­vard-Pres­se!); Al­dous Hux­leys Kri­tik ei­nes ethi­schen Dar­wi­nis­mus; die An­fän­ge des­sen, was man spä­ter als »Eu­ge­nik« be­zeich­ne­te – der Be­griff, der da­mals je­doch ei­ne ganz an­de­re Kon­no­ta­ti­on hat­te – kurz: Jedlicki fä­chert all die di­ver­gie­ren­den Strö­mun­gen, Ten­den­zen und Äng­ste auf, wid­met sich auch aus­führ­lich der Be­deu­tung des Pro­zes­ses ge­gen Os­car Wil­de und des­sen Lei­den an der Ge­sell­schaft, re­fe­riert über Toyn­bees »neu­em Li­be­ra­lis­mus« (der das Ge­gen­teil des­sen ist, was wir heu­te dar­un­ter ver­ste­hen), zeigt die De­ka­denz und die ge­fühl­te De­ge­ne­ra­ti­on Frank­reichs seit 1870 und streift den auf­kom­men­den An­ar­chis­mus (und die­se kur­so­ri­schen Auf­zäh­lun­gen sind aber­mals nur ein Aus­schnitt).

Ex­em­pla­risch: »Ent­ar­tung« von Max Nord­au

»Ent­ar­tung« hiess das Buch von Max Nord­au (1895 in Eng­lisch er­schie­nen; zwei Jah­re vor­her auf Deutsch), wel­ches Jedlicki zum Bei­spiel aus­führ­lich be­spricht. Nord­au, Arzt, Schrift­stel­ler, Li­te­ra­tur­kri­ti­ker und Pu­bli­zist, in Bu­da­pest ge­bo­ren, leb­te in Pa­ris und schrieb auf Deutsch. Er war ei­ner der Mit­be­grün­der der zio­ni­sti­schen Welt­or­ga­ni­sa­ti­on. Nord­au ist vol­ler Be­wun­de­rung für die Er­fol­ge der Na­tur­wis­sen­schaf­ten und er war der Mei­nung, das »Fin de siècle«-Gefühl sei ei­ne Stim­mungs­la­ge über­sät­tig­ter Grei­se, die die Ju­gend um ih­re Fri­sche und Le­bens­freu­de be­nei­den und da­her ver­su­chen, sie mit ih­rem Pes­si­mis­mus zu ver­gif­ten. Nord­aus Fu­ror rich­tet sich ge­gen al­le Künst­ler, die mit …der Af­fir­ma­ti­on des Fort­schritts in der Kul­tur­phi­lo­so­phie ge­bro­chen hat­ten, be­gon­nen mit Bau­de­lai­re, Gau­tier, Mall­ar­mé, aber auch Ver­lai­ne, Tol­stoi und Wag­ner, Wil­de, Ib­sen, Zo­la, Haupt­mann, und vie­le an­de­re. In die­ser At­mo­sphä­re, so Jedlicki über Nor­aus Buch blüht ei­ne ent­ar­te­te, selbst­ver­lieb­te Kunst – al­le mög­li­chen My­sti­zis­men, Sym­bo­lis­men, Pes­si­mis­men und Dia­bo­lis­men. Nord­au sah ei­ne »gei­sti­ge Volks­krank­heit«, ei­ne »Art schwar­ze Pest von Ent­ar­tung und Hy­ste­rie«, sein Buch sei ei­ne »Wan­de­rung durch das Kran­ken­haus«, wo­bei mit »Kran­ken­haus« die ge­sam­te eu­ro­päi­sche Kul­tur des Jahr­hun­dertendes ge­meint ist.

Man ist schon ge­neigt, die­ses Mach­werk in den Or­kus zu ver­ban­nen, aber Nord­au schloss sei­ne Aus­füh­run­gen mit ei­nem fu­rio­sen Ma­ni­fest, das ihn als Li­be­ra­len al­ten Stils zeigt: »Wir be­son­ders, die es uns zur Le­bens­auf­ga­be ge­macht ha­ben, al­ten Aber­glau­ben zu be­kämp­fen, Auf­klä­rung zu ver­brei­ten, ge­schicht­li­che Rui­nen voll­ends nie­der­zu­rei­ßen und ih­ren Schutt weg­zu­räu­men, die Frei­heit des In­di­vi­du­ums ge­gen den Druck des Staa­tes und der ge­dan­ken­lo­sen Phi­li­ster-Rou­ti­ne zu vert­hei­di­gen, wir müs­sen uns ent­schlos­sen da­ge­gen weh­ren, daß elen­de Stre­ber sich un­se­rer theu­er­sten Lo­sungs­wor­te be­mäch­ti­gen, um mit ih­nen Bau­ern­fän­ge­rei zu trei­ben. Die ‘Frei­heit’ und ‘Mo­der­ni­tät’, der ‘Fort­schritt’ und die ‘Wahr­heit’ die­ser Bursche[n] sind nicht die uns­ri­gen [… ] Dar­an mag Je­der die ech­ten Mo­der­nen er­ken­nen und von den Schwind­lern, die ich Mo­der­ne nen­nen, si­cher un­ter­schei­den: wer ihm Zucht­lo­sig­keit pre­digt, der ist ein Feind des Fort­schritts und wer sein Ich an­be­tet, der ist ein Feind der Ge­sell­schaft. […] Die Eman­zi­pa­ti­on, für die wir wir­ken, ist die des Urt­heils, nicht die der Be­gier­den«.

Nord­aus Buch galt vie­len da­mals als ei­nes der wich­tig­sten Do­ku­men­te des eu­ro­päi­schen »Fin de siè­cle« – und ist heu­te ver­ges­sen, al­ler­dings aus ei­nem Grund: Es ist eben ge­ra­de nicht »gän­gig« fort­schritts­kri­tisch, viel­fach struk­tur­kon­ser­va­tiv und in­di­vi­dua­lis­mus­feind­lich und da­durch nicht ein­deu­tig »zu­zu­ord­nen«. Ein­hun­dert Jah­re spä­ter wa­ren die von Nord­au kri­ti­sier­ten Künst­ler und Schrift­stel­ler ka­no­ni­siert – und der Kri­ti­ker wi­der­legt.

Bit­te­re Ge­nug­tu­ung

Un­ter Zi­ta­ti­on et­li­cher sol­cher nur Ex­per­ten be­kann­ten Wer­ke wird deut­lich, wie dif­fe­ren­ziert und vor al­lem kom­pli­ziert die Ma­te­rie im De­tail ist. Da ist nicht je­der, der das Wort »Ne­ger« be­nutzt au­to­ma­tisch schon ein Ras­sist. Und nicht je­der, der in Wohl­tö­nen den Ka­pi­ta­lis­mus be­singt und die Chan­cen aus­malt (und ver­klärt) per se ein Aus­beu­ter. Tat­sa­che ist: Mo­de­ra­te Kri­ti­ken, wie die von Charles M. Pear­son, die sich kri­tisch aber nicht de­struk­tiv mit der Kul­tur aus­ein­an­der­setz­ten und auch nicht ei­ner ge­wis­sen Ex­al­tiert­heit an­heim fie­len, sind heu­te un­be­kannt – ent­we­der we­gen ih­rer »man­geln­den Ori­gi­na­li­tät«, oder weil sie – für uns heu­te – schlicht­weg auf der »fal­schen Sei­te« stan­den.

Jer­zy Jedlickis zi­tiert aus vie­len un­ter­schied­li­chen Schrif­ten, oh­ne er­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger (au­sser – ge­le­gent­lich ein­mal – bei de­nen, die schon da­mals al­les bes­ser wuss­ten), so dass der Le­ser manch­mal das Ge­fühl ei­ner Art Zeit­rei­se hat. Ei­nes der (vie­len) klei­nen Pre­tio­sen in sei­nem Buch ist die Ana­ly­se des Ro­mans »Die Zeit­ma­schi­ne« des heu­te noch be­kann­ten Ro­man­ciers H. G. Wells.

Und fast am En­de die­ses Es­says heisst es: Der al­te Traum der Li­be­ra­len, die Mas­sen durch Bil­dung und Ver­bes­se­rung der Le­bens­be­din­gun­gen schritt­wei­se auf die Teil­ha­be an Kul­tur und Bür­ger­rech­ten vor­zu­be­rei­ten, [ging] auf iro­ni­sche Wei­se in Er­fül­lung: in Form ei­ner vom Kom­merz ent­wer­te­ten Kul­tur und ei­ner von Dem­ago­gie kor­rum­pier­ten Po­li­tik. Selbst der Sport […] un­ter­lag der Kom­mer­zia­li­sie­rung […]. Die Pro­phe­ten des Nie­der­gang hat­ten ih­re bit­te­re Ge­nug­tu­ung – hat­ten sie es doch schon im­mer ge­wusst.

Al­lei­ne Jedlickis kur­zer Auf­satz über Ge­schich­te und Aus­blick des eu­ro­päi­schen In­tel­lek­tu­el­len wür­de schon die An­schaf­fung des Bu­ches loh­nen. Ins­ge­samt ist »Die ent­ar­te­te Welt« lehr­reich, klug und ver­ständ­lich ge­schrie­ben, da­bei aber kei­nes­falls tri­vi­al. Wohl­tu­end, dass der Au­tor je­dem af­fek­tier­ten Alar­mis­mus ab­schwört, aber im Zwei­fel für den Zwei­fel Par­tei er­greift. Je­der, der sei­ne Welt­un­ter­gangs­pro­phe­zei­un­gen noch »per­fek­tio­nie­ren« möch­te, soll­te hier erst ein­mal nach­schla­gen – es gibt fast nichts, was nicht schon vor ein­hun­dert oder ein­hun­dert­fünf­zig Jah­ren pro­gno­sti­ziert wur­de.


Al­le kur­siv ge­druck­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

11 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Dan­ke, ein sehr span­nen­der Bei­trag. Sa­lopp zu­sam­men­fas­send: Ei­ne mei­ner Grund­über­zeu­gun­gen: Die »Kri­se« ist im­mer da be­son­ders schmerz­haft, wo wir sind – und das ist oft auch gut so, sonst wä­ren wir in­di­vi­du­ell, mi­kro- und ma­kro­so­zio­lo­gisch be­trach­tet auf der Stel­le er­starrt ... wird hier wun­der­bar in Bei­spie­len hi­sto­risch aus­ge­führt auf die ich so nicht ge­kom­men wä­re ... ei­ne per­fek­te Ar­gu­men­ta­ti­ons­hil­fe ...;

    Oder ganz kurz: Nur aus wahr­ge­nom­me­ner Kri­se oder an­ti­zi­pier­tem Kri­sen­po­ten­ti­al ent­steht Be­we­gung ... manch­mal al­ler­dings lei­der auch ne­ga­ti­ve ..

  2. Nun, Kri­sen­ge­schrei hin oder her: es könn­te doch auch sein, daß der schon so oft pro­gno­sti­zier­te Un­ter­gang in den Au­gen de­rer, die ihn pro­gno­sti­zier­ten, längst statt­ge­fun­den hat, wir al­so (wie­der in den Au­gen der Pro­gno­sti­zie­ren­den) be­reits in ei­ner post­apo­ka­lyp­ti­schen Zeit le­ben. Es kommt im­mer dar­auf an, was man un­ter dem Un­ter­gang ver­steht, wel­che Er­eig­nis­se und Ver­än­de­run­gen be­reits die­sen Ti­tel ver­die­nen.

  3. Er­in­nert mich an den be­lieb­ten Spruch – ’ «Ge­stern stan­den wir noch vor dem Ab­grund – heu­te sind wir schon ei­nen Schritt wei­ter« ‚) (und plumps ;) .. al­les ei­ne Fra­ge der Defintion/Perspektive ...

  4. Das ist na­tür­lich ein we­sent­li­cher Be­stand­teil des Kri­sen­dis­kur­ses: Nicht nur die Pro­gno­se, son­dern das Be­schrei­ben des ak­tu­el­len Zu­stands. Frei­lich le­ben die Un­ter­gangs­pro­phe­ten von ei­ner Droh­ku­lis­se, d. h. es wird im­mer noch »schlim­mer« kom­men, als es jetzt ist.

    In die­sem Zu­sam­men­hang ist in­ter­es­sant, dass lang­fri­stig die Prag­ma­ti­ker, d. h. die­je­ni­gen, die zwar u. U. ei­ne ge­wis­se Kri­sen­haf­tig­keit er­kannt ha­ben, aber im­ma­nent ge­gen­steu­er­ten, den Apo­ka­lyp­ti­kern und auch den »Ro­man­ti­kern« über­le­gen sind. Al­ler­dings nicht in der öf­fent­li­chen Wahr­neh­mung – da wird der Dis­kurs im­mer von den je­wei­li­gen An­ti­po­den do­mi­niert.

  5. .. me­di­en­so­zio­lo­gisch ist das das klas­si­sche News­wert-The­ma: Je über­ra­schen­der ei­ne Neu­ig­keit die den­noch auf ei­nem be­kann­ten The­ma auf­setzt (wei­ter­ge­dacht gilt das auch für: je ex­tre­mer ei­ne Theo­rie), um so grö­ßer die Wahr­schein­lich­keit, dass sie es schafft, aus dem The­men­dschun­gel auf­zu­tau­chen und Auf­merk­sam­keit auf sich zu zie­hen ... + (zy­nisch ich ge­be es zu) die Pro­vo­ka­tio­nen las­sen sich in Schlag­zei­len und Slo­gans fas­sen, bei den prag­ma­ti­schen Stand­punk­ten muss man im­mer so »lä­stig« viel er­klä­ren ... ‚)

  6. Das mein­te ich nicht. Im Au­gen­blick, da sie die Wirk­lich­keit des Un­ter­gangs er­ken­nen, schwei­gen die von mir an­ge­spro­che­nen Pro­go­sti­zie­rer. Es gibt ja nichts mehr zu War­nen, es bleibt nur der (aus­sichts­lo­se) Pro­test. Was ich mein­te ist: Daß es Un­ter­gän­ge gibt, die, au­ßer in den Au­gen der Pro­phe­ten, un­sicht­bar blei­ben, oder nicht als Un­ter­gän­ge er­kenn­bar wer­den.

  7. Jedlicki meint al­ler­dings – wenn ich ihn rich­tig in­ter­pre­tie­re -, dass die pro­gno­sti­zier­ten Un­ter­gän­ge (der Mo­der­ne) eher nicht statt­ge­fun­den ha­ben. Das ist zum Teil ein Ver­dienst des Kri­sen­dis­kur­ses, der ge­wis­se Ent­wick­lun­gen an­ti­zi­pier­te.

  8. Selbst­kri­tik vs. Kri­tik
    Geht es Jedlicki ei­gent­lich nur um Selbst­kri­tik, oder um Kri­tik im all­ge­mei­nen? Selbst­kri­tik be­darf doch im­mer der Er­gän­zung durch die Kri­tik eines/der an­de­ren, sonst läuft sie in Ge­fahr blin­de Flecken zu über­se­hen. War­um al­so nicht: un­ab­läs­si­ge Kri­tik als kul­tu­rel­ler Wert an sich.

  9. Ich glau­be,
    die Gren­zen zwi­schen Selbst­kri­tik und Kri­tik sind flie­ssend, wo­bei viel­leicht Selbst­kri­tik eher schon ei­ne ge­wis­se Ak­zep­tanz im­pli­ziert. Die rei­ne Kri­tik an der Mo­der­ne, der »Zi­vi­li­sa­ti­on«, kommt bei Jedlickis Be­trach­tun­gen na­tür­lich auch vor, ins­be­son­de­re, was die re­stau­ra­ti­ven Kräf­te an­geht oder die Apo­ka­lyp­ti­ker.

  10. Jedlickis Buch, vor al­lem der an­ge­spro­che­ne Auf­satz über Ge­schich­te und Aus­blick der eu­ro­päi­schen In­tel­lek­tu­el­len er­scheint mir auch aus post­mo­der­ner Per­spek­ti­ve ei­ne viel­ver­spre­chen­de Lek­tü­re. Ich su­che ge­le­gent­lich, aber schon seit län­ge­rem im­mer wie­der Par­al­le­len zwi­schen der selbst­läh­men­den Ab­leh­nung »gro­ßer Er­zäh­lun­gen« und ob­jek­ti­ver Er­kennt­nis­se ei­ner­seits und der kul­tur­pes­sim­si­ti­schen Rück­zugs­hal­tung der frz. Dé­ca­dence an­de­rer­seits. Aus bei­dem – vor al­lem den post­mo­der­nen Va­ria­tio­nen – kann ich stel­len­wei­se nicht mehr als in­tel­lek­tu­el­len Re­ak­tio­nis­mus her­aus­le­sen. Jedlickis Re­la­ti­vie­rung die­ser Kri­tik un­ter dem Be­griff der se­gens­rei­chen Kri­se, die man dem ge­fühl­ten Un­ter­gang ge­sell­schaft­li­cher Eli­ten ge­gen­über­stel­len kann, ist da ein sehr schö­ner, fein­füh­li­ger Zug. Und doch fra­ge ich mich, ob Jedlickis sei­nen Ho­ri­zont nicht doch zu eng ab­ge­steckt hat. Die dra­ma­ti­sier­ten Un­ter­gangs­stim­men wa­ren und sind eu­ro­päi­sche Stim­men, die über Eu­ro­pa la­men­tie­ren. Die un­voll­ende­te Pro­jek­te der Auf­k­läung und Mo­der­ne – samt ih­rer be­fürch­te­ten Ab- und Um­brü­che – ha­ben al­ler­dings auch weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen für die Neu­ord­nung der Welt au­ßer­halb Eu­ro­pas be­deu­tet – Kon­se­quen­zen wie den Im­pe­ria­lis­mus, die wohl kaum je­mand als se­gens­reich be­zeich­nen dürf­te. Die­se post­ko­lo­nia­le Per­spek­ti­ve, die­se wei­ter­rei­chen­de Re­la­ti­vie­rung eu­ro­päi­scher Äng­ste ge­gen­über der tat­säch­li­chen Reich­wei­te Eu­ro­pas fehlt mir hier, oder ir­re ich mich?

  11. Zu eng ge­steckt?
    Schwer zu sa­gen. Na­tür­lich be­schränkt sich Jedlicki in der Dar­stel­lung pri­mär der eng­li­schen und ein biss­chen der fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phie und Po­li­tik der da­ma­li­gen Zeit. Ge­le­gent­lich fliesst ein biss­chen Nietz­sche und na­tür­lich Speng­ler ein. Ich ver­mag die­se Fo­kus­sie­rung nur dann je­man­dem vor­zu­wer­fen, wenn er den An­spruch er­he­ben wür­de, ein um­fas­sen­des Bild zeich­nen zu wol­len – das ne­giert Jedlicki al­ler­dings aus­drück­lich.

    In­so­fern ist die­se Be­trach­tungs­wei­se na­tür­lich ein biss­chen eu­ro­zen­tri­stisch.