Jer­zy Jedlicki: Die In­tel­lek­tu­el­len als eu­ro­päi­sche Spe­zi­es

Der Grund­zug der neu­en Zeit ist nicht die Fe­stig­keit der Über­zeu­gun­gen – da­von hat­ten wir im­mer mehr als ge­nug -, son­dern im Ge­gen­teil ei­ne Un­ge­wiss­heit, die selbst je­ne Den­ker nicht ver­schont, die mit dem Ab­so­lu­ten auf ver­trau­tem Fuss ste­hen, die aber wis­sen, dass hei­li­ge Ge­bo­te nur sehr ver­schwom­me­ne Hin­weis ge­ben, wie man in kon­flikt­träch­ti­gen und un­über­sicht­li­chen Si­tua­tio­nen zu ur­tei­len und zu han­deln ha­be. Die Ethik der Er­kennt­nis heisst uns grö­sse­ren Re­spekt vor ehr­lich ein­ge­stan­de­nen Zwei­feln als vor un­zu­rei­chend be­grün­de­ten Über­zeu­gun­gen zu ha­ben. So kann der Re­spekt vor der Wahr­heit pa­ra­do­xer­wei­se zu ei­ner Schwä­chung un­se­rer mo­ra­li­schen Ent­schlos­sen­heit im han­deln füh­ren.


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Da­her wird die Her­aus­bil­dung ei­nes neu­en Ty­pus des In­tel­lek­tu­el­len – sen­si­bel ge­gen­über Lei­den und Un­recht, be­reit zum Pro­test ge­gen Ver­fol­gun­gen und Un­ge­rech­tig­keit, da­bei aber In­di­vi­dua­list und Skep­ti­ker, der nie­mals als Apo­stel der Ei­nen Wahr­heit auf die Fä­hig­keit zum kri­ti­schen Den­ken und Zwei­feln ver­zich­tet – ganz ge­wiss ein schwie­ri­ger Wand­lungs­pro­zess, der un­ter dem Be­schuss der An­wäl­te di­ver­ser hei­li­ger Wer­te ver­lau­fen wird. Sie wer­den die­ser Hal­tung mo­ra­li­schen Re­la­ti­vis­mus vor­wer­fen und nach­zu­wei­sen ver­su­chen, wie nutz­los sol­che Weich­ei­er sei­en, die sich auf Vor­be­hal­te und Zwei­fel, auf all die­se ver­schie­de­nen »Aber« spe­zia­li­siert hät­ten, wo die Men­schen doch vor al­lem des Ge­fühls ei­nes kol­lek­ti­ven Sin­nes be­dürf­ten – und des­sen Quel­len könn­ten al­lein Glau­be und Tra­di­ti­on sein. .

Jer­zy Jedlicki »Die ent­ar­te­te Welt«; Den­ken und Wis­sen – Ei­ne pol­ni­sche Bi­blio­thek – Suhr­kamp 2008, S. 293f