Wel­ten und Zei­ten XIV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Zwei Bü­cher über die Trau­er. Nicht ir­gend­ei­ne Trau­er, son­dern die Trau­er nach dem Tod ei­nes ge­lieb­ten Men­schen. Das ei­ne ist ein Ro­man, das an­de­re läßt sich gen­re­mä­ßig kaum zu­ord­nen, läuft aber chro­no­lo­gisch, da­bei mehr­schich­tig, wie ein Ta­ge­buch ab. Bei­de Bü­cher wur­den un­ge­fähr zur glei­chen Zeit ge­schrie­ben und ver­öf­fent­licht; der Ro­man stammt von Sa­bi­ne Gru­ber, das Trau­er­ta­ge­buch, fast ei­ne Art An­ti-Ro­man, von Ol­ga Mar­ty­n­o­va. Hier ein klei­ner Ent­wick­lungs­ro­man, der er­zählt, wie je­mand durch die Pha­sen der Trau­er geht und die Trau­er letzt­lich über­win­det. Dort die Ge­schich­te ei­ner Ver­wei­ge­rung, in­so­fern die Be­trof­fe­ne in ih­rer Trau­er als in ei­nem Zu­stand zwi­schen Tod und Le­ben ver­harrt und die­sen im Grun­de gar nicht ver­las­sen will.

Die bei­den Bü­cher sind al­so trotz des ge­mein­sa­men The­mas gar nicht ver­gleich­bar. Viel­leicht kann man so­wie­so kei­ne Bü­cher ver­glei­chen, aber ne­ben­ein­an­der­stel­len kann man sie wohl: mit­ein­an­der be­kannt­ma­chen. Nicht Er­kennt­nis, nicht Be­kennt­nis, son­dern Be­kannt­nis.

Ol­ga M. hat mich ein­mal nach dem shis­ho­setsu ge­fragt, ja­pa­nisch für »Ich-Ro­man»1. Ob ich so et­was schrei­ben wür­de? Ich ha­be im­mer noch kei­ne Lust, dar­auf zu ant­wor­ten, aber die Fra­ge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich ver­su­che, mich schrei­bend von mei­nem Ich zu lö­sen, doch es ge­lingt nie­mals. Es kann nicht ge­lin­gen, das weiß ich, und ver­su­che es trotz­dem, im­mer wie­der: Si­sy­phus auf dem Pla­teau. An­ders ge­sagt: ein über sich selbst re­flek­tie­ren­der Si­sy­phus. Da ist kein Berg, kein im­mer schnel­ler wer­den­der Stein oder Schnee­ball, nur ei­ne end­lo­se Ebe­ne, wei­te­ster Ho­ri­zont, mit stram­men Grä­sern und Sin­nes­täu­schun­gen, aben­teu­er­lich wie die Pam­pa. Aben­teu­er der Phan­ta­sie, des Ritts über den Bo­den­see.

Ich woll­te nicht von mir er­zäh­len, we­nig­stens jetzt nicht. Sträu­ben wir uns ge­gen den Ich-Ro­man. Das Er­leb­te, das ei­nem na­he­geht, und tief­geht, kann man durch Fik­tio­na­li­sie­rung nur lä­cher­lich ma­chen, aber nicht ver­ste­hen, schon gar nicht über­win­den. Man muß ihm in die Au­gen se­hen, wie es ist. Des­halb hat der Ro­man aus­ge­dient, ein­schließ­lich der so­ge­nann­ten Au­to­fik­ti­on. Der Ro­man bleibt nicht auf der Hö­he der rea­len Er­fah­run­gen und Ge­füh­le, er kann die­se nur ab­schwä­chen, und wenn es um den Tod geht, wür­de ich so­gar das Wort wa­gen: ent­wei­hen.

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  1. Musterbeispiel ist für mich Eine persönliche Erfahrung von Kenzaburō Ōe, der in diesem Roman von den Tagen um die Geburt seines, wie sich herausstellt, schwer behinderten Sohnes erzählt. 

Wel­ten und Zei­ten XIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»Road mo­vie« ist ein ge­läu­fi­ger Be­griff der Ci­ne­phi­lie, je­der Ki­no­ge­her könn­te so­fort ein paar Bei­spie­le da­für auf­zäh­len. Aber »Rei­se­ro­man« sagt man ge­wöhn­lich nicht, ob­wohl es sehr vie­le Rei­se­ro­ma­ne gibt. Road no­vels. Vie­le Ro­man­hel­den be­we­gen sich gern, sind nicht seß­haft, ver­spü­ren Wan­der­lust wie wei­land Ei­chen­dorffs Tau­ge­nichts.

Schon die Wil­helm Mei­ster-Ro­ma­ne sind road no­vels; die Thea­ter­trup­pe, der sich Wil­helm an­schließt, ist ei­ne Wan­der­trup­pe. Rei­sen birgt Ge­fah­ren und die Chan­ce auf Aben­teu­er. Ge­hen wir noch wei­ter zu­rück: Don Qui­jo­te, der, wie oft ge­sagt wird, er­ste eu­ro­päi­sche Ro­man, ist ein Rei­se­ro­man, das Gen­re de­fi­niert sich zu­nächst als ei­nes der Be­weg­lich­keit, erst spä­ter, im 19. Jahr­hun­dert, meh­ren sich die häus­li­chen Ro­ma­ne, von wel­chen Bud­den­brooks ei­nen Kul­mi­na­ti­ons­punkt dar­stellt. Das Haus Bud­den­brook und sei­ne Re­prä­sen­tan­ten., die Er­ben von Ver­mö­gen und Ver­ant­wor­tung. Da­ge­gen sind Don Qui­jo­te und sei­ne Nach­fah­ren bis hin zu den Ro­man­ti­kern No­ma­den.

Ein Gut­teil der Ro­ma­ne Pe­ter Hand­kes sind Rei­se­ro­ma­ne. Der kur­ze Brief zum lan­gen Ab­schied so­wie­so, ein Ame­ri­ka­ro­man, wie Lang­sa­me Heim­kehr, wo der Weg in die um­ge­kehr­te Rich­tung führt. Spä­ter die Hei­mat Nie­mands­bucht, wo der Er­zäh­ler sie­ben Rei­se­be­rich­te von Freun­den emp­fängt: mul­ti­ple road no­vel. Aber auch spä­te Wer­ke wie Die Obst­die­bin.

Oder Ro­ber­to Bo­la­ños Wil­de De­tek­ti­ve, wo die me­xi­ka­ni­sche Rei­se im ame­ri­ka­ni­schen Stra­ßen­kreu­zer als Quest der jun­gen Dich­ter und Le­bens­künst­ler an­ge­legt ist.

(Ne­ben­bei be­merkt: Ad­ven­ture-Vi­deo­ga­mes fol­gen fast im­mer dem mit­tel­al­ter­li­chen Sche­ma der Quest. Er­zähl­tech­nisch al­so nichts Neu­es. Nur me­di­en­tech­nisch. Ei­ne Quest, was oder wen im­mer du auch suchst, macht je­de Ge­schich­te span­nend. Amen!)

Wie­der­lek­tü­ren ste­hen ei­nem al­ten Mann bes­ser an als Neulek­tü­ren. War­um? Weil vom Neu­en bei ihm nicht viel hän­gen bleibt; weil es ihn nicht tief be­rührt und je­den­falls sei­ne Per­sön­lich­keit nicht mehr prä­gen kann. Von neu­en Bü­chern, die ich jetzt le­se, mer­ke ich mir bei wei­tem nicht so viel wie von Bü­chern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jet­zi­gen Lek­tü­ren sen­ken sich nicht in die Tie­fe mei­nes We­sens. Klingt pa­the­tisch, ist aber ein­fach so. Der­zeit le­se ich Wil­helm Mei­sters Lehr­jah­re wie­der, und par­al­lel da­zu Tor­qua­to Tas­so (kein Ro­man, son­dern ein sehr klas­si­sches Dra­ma). Da den­ke ich ein ums an­de­re Mal: Aha, ge­nau, so ist er, die­ser Wil­helm, die­ser Tas­so! Ich ken­ne sie, mei­ne Pap­pen­hei­mer. Dann wie­der Er­in­ne­rungs­blit­ze: Ach, das hat­te ich ganz ver­ges­sen! Ich se­he man­che Fi­gu­ren, Si­tua­tio­nen, ge­dank­li­chen Im­pli­ka­tio­nen neu, auch das kommt vor. Ei­ni­ges hat­te ich viel­leicht vor vier­zig Jah­ren nicht be­grif­fen. Aber ins­ge­samt hat­te ich viel, viel mehr be­grif­fen, als ich jetzt bei ei­ner Erst­lek­tü­re be­grei­fe. Mein Ge­hirn ist nicht mehr das, was es war. In man­cher Hin­sicht ist es jetzt viel­leicht so­gar bes­ser: kon­nek­ti­ver, manch­mal auch schnel­ler, weil ge­schult. In an­de­rer Hin­sicht ist es schwä­cher, trä­ger: be­gei­ste­rungs­trä­ge.

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Wel­ten und Zei­ten XII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Tschechows Ge­wehr. Wenn zu Be­ginn ei­ner Er­zäh­lung ein Ge­wehr an der Wand hängt, muß es ir­gend­wann los­ge­hen, sei es auch erst auf der letz­ten Sei­te. Die­ser Satz wird oft als Re­gel pro­pa­giert. Öko­no­mi­sches Er­zäh­len, jahr­zehn­te­lang das li­te­ra­tur­kri­ti­sche Ide­al und Heil­mit­tel des deut­schen Feuil­le­tons. Bloß nichts Über­flüs­si­ges in die Ge­schich­ten!

Was, wenn das Ge­wehr nicht los­geht? In ei­nem Film kann es mehr oder we­ni­ger zu­fäl­lig an der Wand hän­gen, ein ver­ges­se­nes Re­likt, ir­gend­wer hat es ir­gend­wann dort auf­ge­hängt. Doch der Schrift­stel­ler muß es wil­lent­lich und ei­gen­hän­dig be­schrei­ben oder we­nig­stens evo­zie­ren, al­so gleich­sam selbst auf­hän­gen, sonst ist es nicht da. Der Schrift­stel­ler wählt im­mer aus, selbst wenn er Rea­li­en in gro­ßer Fül­le liebt, die Fül­le der Nich­tig­kei­ten. Er ent­schei­det – si­cher oft un­be­wußt, aber in ei­nem fort –, was zur Exi­stenz kommt und was nicht. Das­sel­be gilt für Ma­ler, nicht aber für Pho­to­gra­phen. Gött­li­che Dich­ter!

2002 sag­te ein ame­ri­ka­ni­scher Film­kri­ti­ker im Ge­spräch mit Ha­yao Mya­za­ki, dem Zeich­ner und Re­gis­seur zahl­rei­cher Zei­chen­trick­fil­me, er lie­be die »gra­tui­tous mo­ti­on«, die un­mo­ti­vier­ten Be­we­gun­gen – schwer zu über­set­zen – in des­sen Fil­men. Grund- und zweck­lo­se klei­ne Sze­nen, oh­ne Be­grün­dung oder not­wen­di­ge Funk­ti­on im Er­zähl­ver­lauf. Din­ge, die sind, weil sie sind, und sich ein­fach nur ih­rer Exi­stenz er­freu­en (oder zu ihr ver­dammt sind). Und den Be­trach­ter er­freu­en (oder be­un­ru­hi­gen), weil sie exi­stie­ren. Hin und wie­der sitzt ei­ne Fi­gur bloß da oder seufzt oder schaut auf ei­nen da­hin­flie­ßen­den Fluß, oder tut zu­sätz­lich ir­gend­was, das die Hand­lung nicht wei­ter­bringt, »ein­fach nur, um ein Ge­fühl für die ver­ge­hen­de Zeit und für den Ort, an dem sie ge­ra­de sind, zu ver­mit­teln.« Adal­bert Stif­ter hat das auch ge­macht, fast ein biß­chen ex­zes­siv in sei­nem letz­ten gro­ßen Werk, dem Wi­ti­ko. Er­zäh­len – und Le­sen, viel­leicht so­gar noch mehr als Er­zäh­len – heißt auch, sich in Ge­duld zu üben. Ei­ne wich­ti­ge Übung, auf die wir nicht ver­zich­ten soll­ten. Ja, ja, lie­be Tik­To­ker!

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Wel­ten und Zei­ten XI

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Herz­klap­pen von John­son & John­son von Va­le­rie Frit­sch: ein Buch, das ich gern mö­gen und als »neu­ar­tig« her­vor­he­ben wür­de. Ganz oh­ne Dia­lo­ge, auch oh­ne in­ne­re Mo­no­lo­ge, ganz ge­schrie­be­ne Spra­che, ge­feilt und aus­ge­feilt, des­halb im­mer (nur?) schön. An­de­rer­seits ist die Ge­schich­te frag­wür­dig, sie wird ver­nach­läs­sigt, un­ernst er­zählt. Der Groß­va­ter im Krieg als Mör­der, wirk­lich? Al­le die­se la­tent oder auch ma­ni­fest vor­wurfs­vol­len Kriegs­ge­schich­ten, auf­ge­spürt und aus­ge­gra­ben von En­keln und Ur­en­keln, die von der Ge­schich­te, die sich ih­nen ver­wei­gert, be­trof­fen sein wol­len. Je­der Sol­dat ein Mör­der? Ja, si­cher, aber das müß­te man dann kon­se­quent so schrei­ben und nicht den ei­nen Groß­va­ter an­kla­gen. Sol­da­ten sind Mör­der, von den Vor­ge­setz­ten und letzt­lich vom Staat zum Mord ver­pflich­tet. Wei­gern sie sich zu tö­ten, wer­den sie selbst ge­tö­tet.

Und die Mut­ter der Er­zäh­le­rin ist auch was Be­son­de­res, näm­lich Schlaf­wand­le­rin. Der Va­ter kommt fast gar nicht vor, viel­leicht zu nor­mal? Die Ka­pi­tel set­zen die Fi­gu­ren kaum mit­ein­an­der in Be­zie­hung, viel­mehr wid­met sich je­des je­weils ei­ner Fi­gur, der Rei­he nach, wie Wä­sche auf der Lei­ne. Und dann blei­ben sie mehr oder we­ni­ger aus dem Buch fort. Ein­fa­cher ge­sagt: Die Ge­schich­te ist nicht durch­ge­hal­ten. Auch der Lieb­ha­ber der Er­zäh­le­rin und spä­te­re Ehe­mann bleicht aus. Und der schmerz­un­emp­find­li­che Emil. Gibt es das über­haupt, Men­schen, die gar kei­nen Schmerz emp­fin­den? An­schei­nend ja, sehr sel­ten. An­al­ge­sie heißt das. Laut Wi­ki­pe­dia sind bis­her drei­ßig da­von be­trof­fe­ne Per­so­nen be­kannt. Drei­ßig welt­weit, oder wo? Steht nicht in dem Ar­ti­kel. Nach der Lek­tü­re des Buchs kann ich mir die­sen Zu­stand nicht vor­stel­len. Kei­ne Bo­den­haf­tung, die Er­zäh­le­rin stellt sie nicht her.

Vö­gel schau­en zum Fen­ster her­ein, und die Men­schen schau­en hin­aus. Die Vö­gel woh­nen drau­ßen, des­halb schau­en sie manch­mal her­ein; die woh­nen her­in­nen, des­halb schau­en sie hin­aus. Nein, die Vö­gel flie­gen so­fort weg, wenn sie se­hen, daß sich et­was be­wegt. Aber das Bild von den her­ein­schau­en­den Vö­geln ist hübsch. Die Ge­fähr­dung Emils, des Schmerz­un­emp­find­li­chen, wird ei­ne Zeit­lang aus­gie­big be­schrie­ben, dann kommt es zu ei­ner Au­to­rei­se nach Ka­sach­stan, die meh­re­re Wo­chen dau­ert, das al­les kur­so­risch er­zählt, zu­sam­men­fas­send, por­trät­haft um­grei­fend. Aber, Fra­ge des Le­sers mit sei­ner Wirk­lich­keits­sor­ge: Ist das nicht völ­lig ver­ant­wor­tungs­los, auf ei­ner Rei­se in ein fer­nes Land, na­he an Kriegs­ge­bie­ten, wo kei­ne ärzt­li­che Ver­sor­gung zu er­war­ten ist – ist es nicht ge­fähr­lich, ja, ver­ant­wor­tungs­los, ein sol­cher­art ge­fähr­de­tes Kind mit­zu­neh­men? Ei­nen An­al­ges­iker! Die Fra­ge platzt aus dem Rea­li­täts­be­wußt­sein in die Fik­ti­on her­ein. Die Schrei­be­rin stellt sie nicht (mehr). Und die Tei­le der Ge­schich­te grei­fen nicht (mehr) in­ein­an­der.

Die­ses Buch bie­tet ei­ne Va­ri­an­te des Um-je­den-Preis-ori­gi­nell-sein-Müs­sens. Die­se be­son­ders au­ßer­ge­wöhn­li­chen Fi­gu­ren, mit be­son­ders ge­schärf­ten oder auch, an­ders­rum, feh­len­den Sin­nen. Va­ri­an­ten der Be­müht­heit. Und dann ver­ebbt der Schwung, reicht nicht aus bis zum Schluß. Kei­ne Dra­ma­tik. An­ge­neh­mes Da­hin­schnur­ren der Er­zäh­lun­gen, man liest sie gern. Wenn man sich nicht ge­ra­de über ein De­tail är­gert, ein, zwei Mal pro Sei­te. Da­hin­schnur­ren – Är­gern – Da­hin­schnur­ren – Är­gern…

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Wel­ten und Zei­ten X

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Die Ent­ste­hung ei­nes Schrift­stel­lers. Er oder sie ent­deckt für sich die Li­te­ra­tur, mit Hil­fe von El­tern oder Groß­el­tern oder der Bi­blio­thek des Va­ters oder der Schul­bi­blio­thek, meist früh­zei­tig, liest Bü­cher, son­dert sich ab, ver­sucht selbst zu schrei­ben, man braucht da­zu nur ei­nen Blei­stift, Pa­pier, ei­ne Schreib­ma­schi­ne. Ta­len­tiert oder stüm­per­haft, in je­dem Fall ehr­gei­zig, wird sie oder er lang­sam bes­ser (au­ßer Rim­baud, der war von An­fang an – aber nur für drei Jah­re – der, der er war), ei­ne Zeit­schrift oder Zei­tung oder heu­te er selbst, im In­ter­net, ver­öf­fent­licht sei­nen er­sten Text.

Ganz an­ders Tho­mas Bern­hard. In sei­ner Ju­gend schwer er­krankt, mit dem Über­le­bens­kampf aus­ge­la­stet, dann Mu­sik, Ge­sang, Jour­na­lis­mus. Ei­ge­nes Schrei­ben re­la­tiv spät, und zwar Ge­dich­te. Die wur­den ver­öf­fent­licht, im Ot­to Mül­ler Ver­lag. Wir schrei­ben 1957, 1958, im da­ma­li­gen Kon­text klin­gen sei­ne Ge­dich­te et­was al­ter­tüm­lich, sie rie­chen nach Ge­org Tra­kl (des­sen Werk eben­falls im Ot­to Mül­ler Ver­lag er­schien). In ho­ra mor­tis, ein ba­rocker Ti­tel, la­tei­nisch wie da­mals noch die ka­tho­li­sche Lit­ur­gie, wie sie in Öster­reich in zahl­lo­sen Ba­rock­kirch­lein durch­ge­führt wur­de. Und dann plötz­lich Frost, 1963, et­was ganz an­de­res, ein Ro­man, der al­le sti­li­sti­schen, the­ma­ti­schen und mo­ti­vi­schen Ei­gen­schaf­ten auf­weist, die bis zu­letzt das Werk Bern­hards kenn­zeich­ne­ten. Das In­ter­es­san­te, für mich je­den­falls: Bern­hard hat das ly­ri­sche Früh­werk hin­ter sich ge­las­sen. Es ist, als hät­te Frost ei­ne an­de­re Per­son ge­schrie­ben als der Ver­fas­ser von In ho­ra mor­tis. Zwi­schen bei­den Pha­sen gibt es kei­nen Zu­sam­men­hang.

Wie so oft regt sich auch hier ein: And yet… Und doch. Denn er­stens bleibt der Tod, die Ver­gäng­lich­keit, Hin­fäl­lig­keit, Nich­tig­keit des mensch­li­chen Le­bens und Trei­bens Bern­hards the­ma­ti­sche Quel­le – ich könn­te auch sa­gen: Er­fah­rungs­quel­le –, die über­reich spru­del­te. Auch sei­ne spä­te­re Ko­mik, auf dem Thea­ter wie beim Er­zäh­len, be­zieht dar­aus ih­re Kraft. Und zwei­tens hat Bern­hard auf ra­di­kal­ste Wei­se dich­te­ri­sche Tech­ni­ken auf sei­ne Pro­sa über­tra­gen: An­ti­the­tik, ob­ses­si­ve Wie­der­ho­lung, ver­bun­den mit Stei­ge­rung (die Rhe­to­rik nennt das »am­pli­fi­ca­tio«). Im we­sent­li­chen al­so ge­nau je­ne sprach­sti­li­sti­schen Ver­fah­ren, die Ro­man Ja­kobson dem zu­ord­ne­te, was er als »poe­ti­sche Funk­ti­on« des Spre­chens de­fi­nier­te.

Für mich sind bis heu­te je­ne Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen am an­zie­hend­sten – oder li­te­ra­risch am stärk­sten, falls es denn noch er­laubt ist, äs­the­ti­sche Wer­tun­gen übers Ge­schmäck­le­ri­sche hin­aus zu äu­ßern –, die aus dem sol­cher­art de­fi­nier­ten Poe­ti­schen schöp­fen, sich die­sem im­mer wie­der nä­hern und ei­ne er­zäh­lend poe­ti­sche Spra­che kre­ieren. (»Kre­ieren« wie crea­te, auf deutsch »schöp­fen«; die al­ten Grie­chen, die uns im­mer noch nach­hän­gen, spra­chen von »Poie­sis«.) Na­tür­lich gibt es auch die Kunst des Er­zäh­lens als sol­che, es gibt her­vor­ra­gen­de, schöp­fe­ri­sche münd­li­che Er­zäh­ler, die nie auf die Idee kä­men, et­was vom Er­zähl­ten nie­der­zu­schrei­ben. Aber auch in die­sen spon­ta­nen Er­zäh­lun­gen, die sich um Sprach­li­ches gar nicht be­wußt küm­mern, wirkt und werkt die poe­ti­sche Funk­ti­on. Es ist nicht nur Spra­che, nicht nur Rhe­to­rik, die da­bei zur An­wen­dung kom­men, es ist auch ein Han­tie­ren und Kom­po­nie­ren mit er­zäh­le­ri­schen Ein­hei­ten, Blöcken, klei­ne­ren nar­ra­ti­ven Ele­men­ten. Das al­les wur­de längst be­merkt und er­forscht, im aka­de­mi­schen Raum mit oft wahn­wit­zi­ger, ab­ge­ho­be­ner Be­griff­lich­keit (Gé­rard Ge­net­te!), die mit dem tat­säch­li­chen Er­zäh­len nicht mehr viel zu tun hat und den Er­zäh­lern selbst, soll­ten sie je da­von Kennt­nis er­hal­ten, nichts nützt.

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Spra­che und Macht

Es ge­hört zur rai­son d’être ei­nes Schrift­stel­lers, auf die Spra­che zu ach­ten. Die all­ge­mein im Ge­brauch ste­hen­de eben­so wie sei­ne per­sön­li­che Spra­che liegt ihm am Her­zen. Zu­min­dest mir geht es so, ich will die Spra­che nicht zer­stö­ren (wie einst ei­ni­ge Da­da­isten) oder ver­wahr­lo­sen se­hen, ich will sie er­wei­tern, aus ih­ren Mög­lich­kei­ten schöp­fen, sie not­falls auch schüt­zen. Wohl des­halb bin ich emp­find­lich, wenn aus ideo­lo­gi­schen oder bü­ro­kra­ti­schen Er­wä­gun­gen an ihr ge­mä­kelt, ge­zerrt und ge­rüt­telt wird.

»Sprecher*innen« und »Schreiber*innen« wür­de ich schrei­ben, woll­te ich mich po­li­tisch-mo­ra­lisch kor­rekt ver­hal­ten. Oder »Spre­chen­de und Schrei­ben­de«. Bei­des nicht schön. Zu die­sem The­ma ist schon viel Tin­te ge­flos­sen, ich will nicht mehr als ein paar Trop­fen hin­zu­zu­fü­gen, die deut­sche und die ro­ma­ni­schen Spra­chen be­tref­fend vor al­lem den Hin­weis, dass in so­ge­nann­ter in­klu­si­ver Spra­che auch die Ar­ti­kel und Ad­jek­ti­ve syn­chro­ni­siert und im Ge­nus-Be­zug plu­ra­li­siert wer­den müss­ten, was oft un­ter­bleibt oder in­kon­se­quent durch­ge­führt wird. Wenn aber strikt syn­chro­ni­siert wird, steigt in man­chen Wort­fol­gen die Um­ständ­lich­keit der Äu­ße­rung noch ein­mal an. Kürz­lich war ich bei ei­nem Se­mi­nar li­te­ra­ri­scher Über­set­zer. Der Groß­teil der Teil­neh­mer weib­lich, die Vor­tra­gen­den weib­lich, ab­ge­se­hen vom jun­gen Ein­füh­rungs­red­ner. Er be­gann mit dem Satz: »Ich bin kein stu­dier­ter Literaturwissenschaftler…in.« Das Suf­fix kam erst nach ei­ner kur­zen Pau­se, das Ad­jek­tiv und die Ne­ga­ti­on hät­te er ei­gent­lich an­pas­sen müs­sen, was im Münd­li­chen schwie­rig ist, aber auch schrift­lich: »kein*e studierte*r Literaturwissenschaftler*in«, oder was im­mer man an Schrift­zei­chen auf­bie­ten will.

Ich ha­be fast täg­lich mit Tex­ten in fünf bis sechs Spra­chen Um­gang. Die gen­der­be­wuss­ten Än­de­rungs­wel­len fal­len mir in den mei­sten von ih­nen auf; in ei­ni­gen, be­dingt durch die Struk­tur der Spra­che, mehr, in an­de­ren we­ni­ger. Be­son­ders stö­rend und de­struk­tiv emp­fin­de ich der­lei Än­de­run­gen im Fran­zö­si­schen und im Spa­ni­schen. Im Fran­zö­si­schen kom­men sie mir nur in der On­line-Zei­tung Me­dia­part un­ter, dort aber so mas­siv, dass die Les­bar­keit der Ar­ti­kel im­mer wie­der in Ge­fahr steht. Le Mon­de, sprach­lich kon­ser­va­tiv, brach­te letz­tes Jahr ei­nen Be­richt über ei­nen Ge­set­zes­vor­schlag des fran­zö­si­schen Se­nats, so­ge­nann­te »in­klu­si­ve Spra­che« in of­fi­zi­el­len Do­ku­men­ten zu ver­bie­ten. Der Ar­ti­kel be­gann leicht iro­nisch mit der Be­mer­kung, man kön­ne an die­ser Stel­le von »sé­na­teurs« und »sé­na­tri­ces« spre­chen, aber nicht von »sé­na­teu­rices« – wo­bei die kon­se­quen­te in­klu­si­ve Schreib­wei­se ei­gent­lich »sénat(eur)ices« lau­ten müss­te. Der Se­nat möch­te nicht zu­letzt so­ge­nann­te non-bi­nä­re, in Wör­ter­bü­chern bis­her nicht ent­hal­te­ne For­men wie das pro­no­mi­na­le »iel« (Ver­bin­dung von »il« und »el­le«), »cel­leux« oder »tou­stes« ver­ban­nen, die für mein Ohr tat­säch­lich gro­tesk klin­gen. Das Bil­dungs­mi­ni­ste­ri­um hat­te schon 2021 ei­nen Er­lass aus­ge­sandt, der sol­chen Sprach­ge­brauch an Schu­len un­ter­sagt.

Aber vor sol­chen Gro­tes­ken scheu­en die Ideolog*innen nicht zu­rück. In Spa­ni­en und noch mehr in ei­ni­gen la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern prä­gen sie For­men wie »to­des«, um Per­so­nen zu in­klu­die­ren, die sich we­der als männ­li­che »to­dos« noch als weib­li­che »to­das« er­ken­nen kön­nen. Das er­gibt dann For­men wie »chi­ques« für non-bi­nä­re Jungs/Mädels/X (auch das X kommt mitt­ler­wei­le zu gram­ma­ti­schen Eh­ren), so­dass man sich im Plu­ral nicht nur an »querido.a.s chico.a.s« wen­den wird, son­dern auch an »quer­ides chi­ques«, am be­sten viel­leicht so: »querido.a.e.s chic(qu).a.e.s«. Dass sich so et­was dann nicht mehr le­sen lässt, ver­ste­hen wohl auch je­ne Le­ser, die des Spa­ni­schen nicht mäch­tig sind. In Ar­gen­ti­ni­en ver­sucht die Re­gie­rung von Staats­prä­si­dent Ja­vier Mi­lei in­zwi­schen, in­klu­si­ve Spra­che in den Äm­tern zu ver­bie­ten; das­sel­be tut seit letz­tem Jahr die Lan­des­re­gie­rung in Nie­der­öster­reich. Zwi­schen Kon­ser­va­ti­ven und Pro­gres­si­ven ist in vie­len Tei­len der Welt ein Ping-Pong-Kampf um die Spra­che im Gang. Der Schrift­stel­ler steht am Netz und be­wegt den Kopf hin und her. Schrei­ben wird er wei­ter­hin so, wie er es für gut hält. Wenn ihm nicht sen­si­ti­ve Lektor*innen im Ver­lag dicke Stri­che ins Ma­nu­skript set­zen.

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Wel­ten und Zei­ten IX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Das Prot­e­i­sche bei Yo­ko Ta­wa­da. Stän­di­ge Ver­wand­lung. Aber bei ihr er­ge­ben sich im­mer wie­der neue Ge­schich­ten, es ist kein Zer­fled­dern und Zer­hacken von vor­lie­gen­dem hi­sto­ri­schem oder bio­gra­phi­schem Ma­te­ri­al. »Das Bett ver­wan­delt sich in ei­nen Schlit­ten, der von schwar­zen Rat­ten durch ei­ne Wü­ste ge­zo­gen wur­de. Den Rat­ten wuch­sen Flü­gel. Sie wur­den zu Fle­der­mäu­sen.« (Das Bad) Das ist na­tür­lich ein biß­chen gar zu flott, aber so er­ge­ben sich bei ihr die Ge­schich­ten, ei­ne aus der an­de­ren.

Die Mul­ti­per­spek­ti­vik des Ge­sell­schafts­ro­mans. Im­mer wie­der führt ei­nen der Er­zäh­ler oder die Er­zäh­lung zu ei­ner an­de­ren Fi­gur, ei­ner an­de­ren Grup­pe, ei­nem an­de­ren Haus. Wie es Tol­stoi so groß­ar­tig vor­ge­macht hat. Be­äng­sti­gend groß­ar­tig, wenn man dar­an denkt, wie der Ro­man ge­macht ist. Frei­lich, als Le­ser soll­ten wir uns ein­fach der Lek­tü­re über­las­sen, die uns hier- und dort­hin führt. Wir sind an vie­len Or­ten gleich­zei­tig, das heißt na­tür­lich nach­ein­an­der, trotz­dem mit dem Ein­druck der Gleich­zei­tig­keit.

Es ist das Ge­gen­teil des Ich-Ro­mans und al­ler zen­trie­ren­den (ego­zen­tri­schen) Er­zäh­lun­gen, ob in er­ster oder drit­ter oder hun­dert­ster Per­son. Schat­ten­froh, ob­wohl so um­fang­reich, ist Ich-Ich-Ich, die Welt mit­samt ih­ren Pro­ble­men ein Ich-Ab­klatsch. Und ich, mein klei­nes be­schei­de­nes Ich, hat die­sel­be Ten­denz. Ei­nen Ro­man kann ich bis­her nur in die­ser, wie mir scheint, »na­tür­li­chen« (?) Ich-Form schrei­ben. Wenn wir le­ben – so­gar wenn wir schla­fen und träu­men und nach in­nen schau­en –, schau­en wir doch un­wei­ger­lich aus un­se­rem Ich-Fen­ster und kei­nem an­de­ren Fen­ster her­aus. Gut, wir kön­nen uns in an­de­re hin­ein­ver­set­zen, und in Er­zäh­lun­gen tue ich das gern und weid­lich, aber der Ro­man soll­te doch das Le­ben, wie es ist, ab- oder um- oder neu- oder sonst­wie bil­den. Das Le­ben im Ich-Haus mit Blick ins Of­fe­ne – aber un­wei­ger­lich durch das Ich-Fen­ster, mit den ent­spre­chen­den Per­spek­ti­ven und Tö­nun­gen und Ein­schrän­kun­gen.

Ein­wand: Li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re ih­re Kö­nigs­dis­zi­plin, ist eben nicht Wie­der­ho­lung von Le­ben. Ist nicht »Ab­bil­dung« oder was im­mer hier an ver­al­te­ten Be­grif­fen her­an­drängt. Wer schreibt, muß sich erst ein­mal – und bis zu­letzt – von sich di­stan­zie­ren. Muß Ab­stand neh­men. Ein an­de­rer wer­den. Vie­le an­de­re. Muß sei­nen Näch­sten ver­ste­hen und auch sei­nen Fern­sten, sei­nen schlimm­sten Feind. Li­te­ra­tur ist per se Ver­wand­lung, al­so prot­e­isch. Nicht Iden­ti­täts­fi­xie­rung. Nicht ein­mal Iden­ti­täts­su­che. Wo­zu Iden­ti­tät su­chen? Man hat sie so­wie­so, sie bleibt dir ein­ge­brannt. Die Kunst be­steht eher dar­in, sie los­zu­wer­den.

Al­so Ich-Ro­man? Ge­sell­schafts­ro­man?

Wie­der­mal bei­des. Das ewi­ge Hin und Her. Auf die Span­nung kommt es an. Geh aus, mein Herz, und su­che Freud: Wo Er, Sie, Es und Wir war, soll Ich wer­den. Und um­ge­kehrt.

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Wel­ten und Zei­ten VIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Auf­leuch­ten­de De­tails von Pé­ter Ná­das: ein un­ver­gleich­li­ches Buch. Kann man es mit ei­nem an­de­ren ver­glei­chen? Mir kommt Ca­na­le Mus­so­li­ni in den Sinn, der Do­ku­men­tar­ro­man des Ita­lie­ners An­to­nio Pen­n­ac­chi. Bei­de Bü­cher sind nicht pri­mär Fik­ti­on, bei­den geht es um kol­lek­ti­ve und in­di­vi­du­el­le Er­in­ne­rung, bei bei­den ist die Fa­mi­lie des Au­tors in­vol­viert, aber Fa­mi­li­en­ro­ma­ne im her­kömm­li­chen Sinn sind sie auch nicht. Es wur­de be­strit­ten, daß es so et­was wie kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung über­haupt ge­ben kön­ne: Er­in­nern kön­ne man sich nur an et­was, was man selbst er­fah­ren, was ei­nem per­sön­lich zu­ge­sto­ßen sei. Als ich mit dem Ar­gu­ment das er­ste Mal kon­fron­tiert war, schien es mir über­zeu­gend, mach­te mir aber Un­be­ha­gen, weil ich die Er­in­ne­run­gen, die ich aus Bü­chern, von Leh­rern, Groß­el­tern und an­de­ren Per­so­nen, aus den Me­di­en, nicht zu­letzt auch aus der Li­te­ra­tur, ob Fik­ti­on oder nicht, be­zo­gen ha­be, nicht ein­fach als Il­lu­si­on ab­tun und auf­ge­ben woll­te. Na­tür­lich gibt es ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis, und al­so auch kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung. Ob sie »zu­trifft«, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis ist Ver­än­de­run­gen un­ter­wor­fen, wie das in­di­vi­du­el­le Ge­dächt­nis auch. Nur funk­tio­niert das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis an­ders als das in­di­vi­du­el­le. Aus ein­zel­nen Be­rich­ten wer­den öf­fent­li­che Er­zäh­lun­gen ge­bil­det, de­nen gro­ße Tei­le der Be­völ­ke­rung – nicht aber sämt­li­che In­di­vi­du­en – Glau­ben schen­ken. Wie bei fik­tio­na­len Tex­ten kommt es auch bei hi­sto­ri­schen, das heißt: Ge­schich­te kon­sti­tu­ie­ren­den Tex­ten auf ih­re Glaub­wür­dig­keit an.

Den Auf­leuch­ten­den De­tails eig­net, we­nig­stens für mich, ein ho­her Grad an Glaub­wür­dig­keit, und Pen­n­ac­chis Ca­na­le Mus­so­li­ni auch. War­um? Bei­de sind her­vor­ra­gend er­zählt und ge­schrie­ben. Ein we­sent­li­cher Wert sol­cher Ro­ma­ne liegt in ih­rer Zeu­gen­schaft, was viel­leicht ein bes­se­res Wort ist als »Do­ku­men­ta­ti­on«. Die Ro­man­haf­tig­keit, wohl auch die Not­wen­dig­keit, die Form des Ro­mans zu ver­wen­den, liegt in der Kom­ple­xi­tät des­sen, was es zu be­rich­ten gilt, und auch in der Viel­zahl der Stim­men, die zu Ge­hör ge­bracht wer­den müs­sen. Ná­das geht in sei­ner ti­ta­ni­schen Er­in­ne­rungs­tä­tig­keit von sich selbst aus, von ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, geht dann aber weit über sein in­di­vi­du­el­les Ge­dächt­nis hin­aus und gibt die münd­li­chen Er­zäh­lun­gen zahl­rei­cher Ver­wand­ter wie­der, ar­bei­tet dar­über hin­aus mit Ar­chiv­ma­te­ri­al, Ta­ge­bü­chern u. dgl. und setzt – das merkt man je­dem Satz an – sein ge­wal­ti­ges Vor­stel­lungs­ver­mö­gen ein. Pen­n­ac­chi hat da­ge­gen die Ge­schich­ten, von de­nen er er­zählt, gar nicht selbst er­lebt, ver­mut­lich aber Fa­mi­li­en­mit­glie­der und Be­kann­te be­fragt, Be­rich­te und Bü­cher ge­le­sen, denn er selbst, 1950 ge­bo­ren, war in La­ti­na auf­ge­wach­sen, der Haupt­stadt der Pon­ti­ni­schen Sümp­fe, die un­ter Mus­so­li­ni ur­bar ge­macht wur­den. Im Ver­gleich zu Auf­leuch­ten­de De­tails liest sich Ca­na­le Mus­so­li­ni mehr wie ein Ro­man mit Fi­gu­ren, die in dem ge­sell­schaft­li­chen und land­schaft­li­chen Raum le­ben, den er auf­baut, oh­ne daß man sich dau­ernd die Fra­ge stel­len müß­te, ob das al­les ei­ner Wirk­lich­keit ent­spre­che – ob­wohl die­se Sor­ge, der Wirk­lich­keit ge­recht zu wer­den, si­cher auch ein An­trieb für Pen­n­ac­chi war, viel­leicht so­gar der we­sent­li­che.

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