Treffpunkt: eine Art Unort. Ein Café, eingerichtet eher wie ein Wirtshaus, an einem samstags ungeheuer belebten Markt an der städtischen Peripherie von Wien. Im halbdunklen Raum des Cafés während der zwei Stunden kaum Gäste: andere Welt, in der sich gut reden – und schreiben läßt, denn Xaver Bayers Bücher entstehen handschriftlich an Orten wie diesem. Wohnen tut er im Zentrum, in einer von der Großmutter übernommenen Wohnung mit einem Mietzins, der so niedrig ist, daß ihn die Besitzer hassen, weil er immer noch nicht ausgezogen ist. Mit diesem Gedanken spielt er, weil er die hyperkommerzialisierte Innenstadt zunehmend unerträglich findet. Aber der Mietzins ist heute auch an der Peripherie zu hoch. Eine luxuriöse und zugleich bescheidene Existenz führt der Dichter, nicht asketisch, aber am Minimum entlang. Das Wort »Luxus« gebraucht Bayer öfters, immer mit entschuldigender Geste. Und als Dichter erscheint er mir, seit ich ihn kenne, obwohl er in erster Linie ein Erzähler ist. Morgens nach dem Aufstehen, erzählt er, liest er eine ganze Weile Gedichte. So beginnt in der Regel sein Tag.
Sogenannte Postings, also meist pseudonym formulierte Kommentare von Informationskonsumenten im Internet, haben keine Bedeutung, auch wenn sich die sogenannten Poster, wenn sie mit ihren Meinungen und Gefühlen in die Öffentlichkeit gehen, wichtig vorkommen mögen. Aus diesem Grund ist es mir ziemlich egal, wenn eines meiner Postings zensuriert wird. Die Zensur, die man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für überholt hielt, ein historisches Phänomen, ist im 21. Jahrhundert wiedergekehrt. In der Regel wird sie automatisch vorgenommen, also von Maschinen, die den Inhalt der Texte nicht wirklich verstehen können, sondern auf Reizwörter und deren Kombinationen reagieren.
Meine Kommentare werden öfters am öffentlichen Erscheinen gehindert, und in der Regel vergesse ich den Vorfall gleich wieder. Neulich aber setzte sich die erlittene Zensur in meinem Kopf fest, weil sie mir vielsagend schien. Es ging im sogenannten Forum, das den altehrwürdigen römischen, auf die griechische Demokratie zurückverweisenden Namen nicht verdient, um Pädophilie, ein Thema, das im Internet kaum je mit Vernunftgründen besprochen wird. Den Wortlaut meines Postings habe ich nicht in Erinnerung, aber ich erwähnte unter Klarnamen – die Ano- und Pseudonymität lehne ich für mich persönlich ab – meine Erfahrung, daß sich meine kleine Tochter für meinen Penis interessiert. Ich bin überzeugt, daß ähnliche Erfahrungen die meisten Väter machen, ausgenommen die besonders verschämten, die sich ihren Kindern niemals nackt zeigen. Nur diese eine Tatsache habe ich im Posting kurz, ohne Emotionalisierung und ohne »schmutzige Wörter«, erwähnt. Nicht geschrieben habe ich, daß ich gegebenenfalls Berührungen meines Geschlechtsteils durch meine Tochter zulasse und daß meine Empfindung dabei ambivalent ist: zunächst gar nicht unangenehm, in einer zweiten, vermutlich moralgeleiteten Reaktion dann aber doch. Mein Körper reagiert dabei nicht so, wie er bei der Berührung durch meine Frau reagiert. Das erleichtert mich grundsätzlich und bestätigt: Ich bin nicht pädophil und habe keine Neigung zum Inzest. Ich bin aber auch froh, daß ich das in Erfahrung bringen konnte – empirisch überprüfen, würde ein Wissenschaftler sagen. Alles, was mich umgibt, macht mich neugierig; neugierig wie meine Tochter, von der ich immer wieder einiges lernen kann.
Es wird im Jahr 1978 gewesen sein, zu einer Zeit, als an den Universitäten noch ein wenig schöpferische Unruhe zu finden war, da sah ich mich in einer basisdemokratischen Versammlung aufgerufen, meine Stimme für Robert Jungk abzugeben. Der Zukunftsforscher, so wurde er tituliert, sollte eine Professur an der Salzburger Universität erhalten. Natürlich hatte ich von Robert Jungk schon gehört, Bücher wie Der Atomstaat waren den linken Studenten zumindest dem Namen nach bekannt. Hätte ich mich, wie jene Kollegen, die in Bussen von Salzburg nach Zwentendorf gefahren waren, im Widerstand gegen das österreichische Atomkraftwerk engagiert, ich hätte wohl etwas mehr gewußt über den Mann dem weißen Haarschopf, wäre ihm vielleicht sogar über den Weg gelaufen. Aber daß wir uns längst mitten in einer Umweltkrise befanden, die zunehmend dramatisch wurde, war mir damals noch nicht klar. Robert Jungk hingegen war einer der Ersten und Hellsichtigsten, wenn es um ökologische Themen ging. Das weiß ich heute, und genauer weiß ich es auch nur, weil ich unlängst einen Vortrag von Peter Stephan Jungk über seinen Vater gehört habe.
Von Peter Stephan Jungk hatte ich während jener basisdemokratischen Versammlung womöglich ein Buch in der Umhängetasche: Stechpalmenwald, erschienen in der exquisiten Collection S. Fischer. Seltsam, ich kam lange nicht auf den Gedanken, zwischen diesem Autor und dem berühmten Journalisten Robert Jungk einen Zusammenhang herzustellen. Ich glaube tatsächlich, Peter – so nenne ich ihn inzwischen – hatte anscheinend nie mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich einstellen können, wenn der Sohn in die Fußstapfen eines berühmten Vaters tritt. Die beiden verstanden einander sehr gut, Peter bezeichnet den Vater als seinen »besten Freund«, an den er noch heute jeden Tag wenigstens einmal denke, aber die Rede im Friedensmuseum von Hiroshima am 3. März 2014 war die erste öffentliche, schriftlich fixierte Äußerung über Robert, der Freunden und Familienmitgliedern »Bob« gerufen wurde.
Das einstöckige, von einem Park umgebene Friedensmuseum wirkt flach, es paßt sich dem Erdboden an, erhebt sich nur wenig über ihn und mimetisiert so die totale Zerstörung, den ground zero, den die Atombombe am 6. August 1945 hinterlassen hat. Zugleich aber wächst hier etwas, die Zerstörung hat nicht das letzte Wort behalten, es wachsen wunderbare Kusu-Bäume, die man in der ersten Nachkriegszeit gepflanzt hat. Als ich mit Peter über die Brücke in die heutige Innenstadt gehe, deute ich auf das Spital, in dem meine Tochter zur Welt gekommen ist, gleich gegenüber vom Museum, aus dem Zimmer im dritten Stock, wo sie ihre ersten Atemzüge getan hat, streift der Blick über das Museum, die Bäume, die Hochhäuser im Hintergrund und die Lücke, die der Abriß des alten Baseballstadions vor einigen Jahren hinterlassen hat. Ich erwähne den Geburtsort meiner Tochter bei solchen Gelegenheiten gern, weil er mich an einen der stärksten Freudenmomente meines Lebens erinnert. Peter schaut hinüber, nickt, und wir gehen weiter, so soll es sein. Kleine Gesten, kurze Blicke. Wo Tod war, soll Leben sein.
Die Palmen haben ihre Köpfe wirklich an der Himmelsdecke und zeigen mit den zahllosen starren Fingern ihrer vielen Hände nach unten, wo sich zwischen Erdlöchern Hasen und Menschen tummeln. Die Hochleitungsstrommasten auf Anhöhen und Gipfeln machen Männchen, während sie einander an Seilen, die vom Schwimmbecken aus betrachtet wie Spinnfäden aussehen, über die Inseln der Meeresbucht leiten. Die Häuser, die sich einst in die Vegetation fügten oder ihr trotzten, sind verschwunden, Opfer der Kriegsfabriken und Aussichtstürme, der Lagerplätze und Rampen und Bunker, die ihrerseits verschwunden sind, nicht ganz zwar, die Reste Ruinen Fundamente sind von Schlingpflanzen Büschen Spinnweben umhüllt, von Hasen bewohnt wie auch der Shinto-Schrein, der mit Beginn der Kriegsproduktion hierherkam, weil das zusammengehören mußte: Tenno, Shinto und Krieg.
Postskriptum »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Seit ich diesen berühmten Definitionssatz zum ersten Mal las, und das ist nun schon ziemlich lange her, frage ich mich immer aufs Neue, inwiefern die von Kant konstatierte Unmündigkeit denn selbstverschuldet sei. Ich habe bis heute keine Antwort gefunden. Mit einer zusätzlichen Definition erläutert ...
Unabweisbar ist die Strukturähnlichkeit zwischen dem digitalen Windowing und jener Modekrankheit, die man abkürzend und von den Dingen ablenkend als ADHS bezeichnet. Leute aus meinem Bekanntenkreis, die an systematischen Aufmerksamkeitsstörungen und zugleich an Hyperaktivität leiden, gehen in ihrem Alltag häufig an einen Ort (zum Beispiel in der Küche oder auf dem Balkon) und erinnern sich, wenn sie ankommen, nicht mehr, was sie dort eigentlich wollten. Notgedrungen gehen sie weiter an den nächsten Ort, aber dort geschieht ihnen das gleiche. Sie können sich nicht an das erinnern, was sie vorhatten, und oft auch nicht an das, was sie kurz zuvor getan haben. Auch das Vergessen eines Plans oder Planelements ist im Grunde genommen ein Vergessen von seit kurzem Vergangenem. Ganz ähnlich verhalten wir uns, wenn wir »surfen«: Ziemlich rasch vergessen wir, wohin wir »eigentlich« wollten und was wir dort zu suchen hatten. Wer vorsätzlich surft, etwa zu Unterhaltungszwecken, strebt diese Art des Vergessens an. Für Menschen, die unter ADHS leiden, sind diese Symptome allerdings kein Vergnügen, sondern eben Störungen, die sie an einem halbwegs befriedigenden Leben hindern können.
Das Wort »Modekrankheit« ist ungerecht, es klingt verächtlich. Besser, ich nehme es zurück. Anscheinend hat aber jede Zeit bestimmte Krankheiten, die ihre gesellschaftlichen Widersprüche und Gebrechen auf individueller Ebene ausdrücken. Insofern wird man vielleicht behaupten können, daß ADHS die Krankheit des digitalen Zeitalters sei.
Vergessen Friedrich Nietzsche, der seine Laufbahn als Historiker des griechischen Altertums begann, schrieb eine Abhandlung über den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Das individuelle wie auch das kollektive Gedächtnis, so lautet seine These, werde in bestimmten Phasen der Menschheitsentwicklung hypertroph und beginne, das Leben einzuschränken, am Ende sogar zu vernichten. Es komme ...
Genial! Die kakanische Welt, die der Mann ohne Eigenschaften beschreibt, ist eine gelähmte. Zwar wird behauptet, ein großes Ereignis sei im Entstehen, aber dann geht nie etwas weiter. Die gehemmten Akteure verhalten sich im wesentlichen nicht anders als Ulrich, auch wenn ihnen dessen geistige Souveränität, seine Ironie und Spottlust fehlen. In den ersten Kapiteln des ...