Al Qai­da – Tex­te des Ter­rors (IV)

  • Abu Mus’ab al-Zar­qa­wi

Gilles Kepel / Jean-Pierre Milleli: Al-Qaida - Texte des Terrors

Gil­les Ke­pel / Jean-Pierre Mil­le­li: Al-Qai­da – Tex­te des Ter­rors


Mit nur rund 50 Sei­ten ist der Kom­plex über al-Zar­qa­wi der knapp­ste im Buch. Al-Zar­qa­wi gilt als „Ver­tre­ter“ Al-Qai­das im Irak. Auf sein Kon­to ge­hen nicht nur zahl­rei­che Ent­füh­run­gen, bei de­nen er teil­wei­se per­sön­lich die Op­fer be­stia­lisch exe­ku­tiert ha­ben soll, son­dern auch zahl­lo­se An­schlä­ge im gan­zen Land, die die Sta­bi­li­tät un­ter­gra­ben sol­len.

Jean-Pierre Mi­lel­li hat nur sehr dürf­ti­ges Ma­te­ri­al über den 1966 in Jor­da­ni­en ge­bo­re­nen al-Zar­qa­wi zur Ver­fü­gung. Si­cher ist, dass er we­der ei­ne ho­he Schul­bil­dung, noch re­li­giö­se Stu­di­en vor­zu­wei­sen hat. Die Si­tua­ti­on der Pa­lä­sti­nen­ser und der „Kampf“ der PLO hat ihn sehr schnell po­li­ti­siert. Ein ideo­lo­gi­scher Über­bau oder ein be­son­ders re­li­giö­ser Im­pe­tus kann man al-Zar­qa­wi den­noch nicht nach­sa­gen; auch wenn sei­ne Bot­schaf­ten na­tür­lich or­tho­dox-is­la­mi­sche Kon­no­ta­tio­nen ent­hal­ten, sind sie spi­ri­tu­ell nicht rich­tungs­wei­send.

Mil­le­li sieht al-Zar­qa­wi als Prot­ago­nist ei­ner „neu­en“ Ge­ne­ra­ti­on. 1989 dürf­te er ak­tiv an Kämp­fen in Af­gha­ni­stan teil­ge­nom­men ha­ben. 1994 wur­de er in Jor­da­ni­en we­gen il­le­ga­len Waf­fen­be­sit­zes und Fäl­schung von Rei­se­päs­sen zu 15 Jah­ren Ge­fäng­nis ver­ur­teilt, kam aber 1999 im Rah­men ei­ner Am­ne­stie von Kö­nig Ab­dul­lah II. wie­der frei. Al-Zar­qa­wi agier­te ab 2001 aus dem ira­ki­schen Kur­di­stan und Sy­ri­en her­aus und ver­such­te mit An­schlä­gen, die al­le im Vor­feld schon schei­ter­ten, Jor­da­ni­en zu de­sta­bi­li­sie­ren.

Im Fe­bru­ar 2003 dien­ten al-Zar­qa­wis Ak­ti­vi­tä­ten im Irak Co­lin Powell als ei­ner der Recht­fer­ti­gungs­grün­de, um ge­gen den Ter­ro­ris­mus in den Irak ein­zu­mar­schie­ren, da er be­reits da­mals ei­ne Ver­bin­dung zwi­schen Bin La­den und al-Zar­qa­wi aus­mach­te.

Der Text von al-Zar­qa­wi, aus dem zi­tiert wird, Brief an Bin La­den und al-Za­wa­hi­ri wur­de im Ja­nu­ar 2004 bei der Fest­nah­me des Pa­ki­sta­ni Hassan Guhl auf ei­ner CD-Rom ge­fun­den. Er be­inhal­tet ge­gen En­de ei­ne Treue­er­klä­rung an Bin La­den, die al­ler­dings mit ei­nem sehr selbst­be­wuss­ten Zu­satz ver­se­hen ist:

Wenn Ihr Euch un­se­ren Plan zu ei­gen macht und von der Idee, die hä­re­ti­schen Sek­ten zu be­kämp­fen, über­zeugt seid, wer­den wir Euch als all­zeit be­rei­te Sol­da­ten die­nen, uns Eu­rer Fah­ne an­schlie­ssen und Euch Ge­hor­sam und Treue schwö­ren [...]. Falls ihr je­doch an­de­rer Mei­nung seid, lasst uns ein­fach Brü­der blei­ben, und kein Streit wird uns aus­ein­an­der­brin­gen kön­nen. Wir wer­den uns nach be­sten Kräf­ten ge­gen­sei­tig un­ter­stüt­zen und im Dschi­had ein­an­der Hil­fe­stel­lung ge­ben.

Ge­mäss Kom­men­ta­tor wird die­ser Treue­schwur von Bin La­den am 27. De­zem­ber 2004 an­ge­nom­men, nach­dem er im Ok­to­ber 2004 über das In­ter­net noch ein­mal (in ähn­li­cher Form) von al-Zar­qa­wi for­mu­liert wur­de.

Das Buch schliesst mit der sehr in­ter­es­san­ten Fra­ge: Be­deu­tet dies, dass auch Bin La­den sich end­gül­tig für die­se Stra­te­gie ent­schei­den hat?

Al-Zar­qa­wis Stra­te­gie wird in dem Schrei­ben – ne­ben ei­ner aus­führ­li­chen (ge­le­gent­lich ba­na­len) La­ge­be­schrei­bung des Irak zum Jah­res­wech­sel 2003/2004 – dar­ge­stellt und ent­hält ei­ne Men­ge Zünd­stoff: Im Ge­gen­satz zu der bis­he­ri­gen Hand­lungs­wei­se von Al-Qai­da, die auf die Ein­heit al­ler mus­li­mi­schen Kräf­te ge­gen den äu­sse­ren Feind setz­te, und in­ne­re Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten be­wusst erst ein­mal aus­ge­blen­det hat­te, greift al-Zar­qa­wi fron­tal die Schii­ten an, re­kur­riert auf das is­la­mi­sche Schis­ma zwi­schen Schii­ten und Sun­ni­ten und ru­bri­ziert die Schii­ten, die für sei­ne Ver­hält­nis­se mit der Ame­ri­ka­nern zu sehr ko­ope­rie­ren, als die gröss­ten und ge­fähr­lich­sten Ver­rä­ter, die es phy­sisch zu be­kämp­fen gel­te: Sie sind „Hä­re­ti­ker“, was ei­ne noch schlim­me­re Be­lei­di­gung dar­stellt, als je­man­den als „Un­gläu­bi­gen“ zu be­zeich­nen.

Al-Zar­qa­wi ent­wirft ei­ne „Li­ste“ der Be­völ­ke­rungs­grup­pen im Irak; ei­ne Rang­fol­ge, nach der letzt­lich von ihm ent­schie­den wird, ob Men­schen ster­ben müs­sen oder nicht: Die Kur­den sei­en tro­ja­ni­sche Pfer­de (der Lai­zis­mus der Kur­den ist ihm na­tür­lich ein Dorn im Au­ge); die Schii­ten sind die „Hä­re­ti­ker“, ins­be­son­de­re, weil sie be­gin­nen, in die Ad­mi­ni­stra­ti­on der Po­li­zei und Ver­wal­tung des Irak ein­zu­drin­gen – dies be­deu­tet für al-Zar­qa­wi na­tür­lich Ver­rat, weil es un­ter An­lei­tung der Ame­ri­ka­ner und Bri­ten ge­schieht; die Sun­ni­ten, die nicht der or­tho­dox-is­la­mi­schen Leh­re an­hän­gen – auch sie fin­den bei ihm kei­ne Gna­de; die aus­län­di­schen Kämp­fer, die er je­doch als über­ra­schend harm­los dar­stellt, weil sie zah­len­mä­ssig we­ni­ge sind und en Tod fürch­ten.

Am En­de plä­diert al-Zar­qa­wi für die Un­aus­weich­lich­keit ei­nes Re­li­gi­ons­kriegs und be­tont die Ei­le, be­vor man den Wett­lauf mit der De­mo­kra­tie viel­leicht doch noch ver­lie­re. Im Text al-Zar­qa­wis schwingt auch Angst mit; Angst da­vor, wie­der (wie­der?) ver­trie­ben zu wer­den. Da­her Zer­stö­rung und De­struk­ti­on um je­den Preis. Die zi­tier­ten Su­ren sind oft will­kür­lich ge­wählt – ein­mal be­dient er sich ei­nes Ko­ran-Ver­ses, um das Schis­ma zu recht­fer­ti­gen, ob­wohl es zu der Zeit, als die­ser Vers ge­schrie­ben wur­de, of­fen­sicht­lich noch kei­ne Re­li­gi­ons­tren­nung gab.

Der von ihm ent­wickel­te Ar­beits­plan ist, zwei Jah­re nach Er­stel­lung, er­schrecken­de Wirk­lich­keit im Irak ge­wor­den. Die Schii­ten wer­den mit Selbst­mord­at­ten­ta­ten so­wohl im ge­sell­schaft­li­chen als auch im re­li­giö­sen Raum an­ge­grif­fen. Die Ent­füh­run­gen, vor­wie­gend von Aus­län­dern, ge­hen wei­ter, ver­mut­lich um den ver­ein­zel­ten Or­ga­ni­sa­tio­nen Geld zu be­schaf­fen. Ein ge­ord­ne­tes, ver­nünf­ti­ges Le­ben für die Be­völ­ke­rung ist kaum mög­lich; stän­dig muss man auf der Hut vor Ter­ror­an­schlä­gen sein. Der Irak ist der­zeit das ge­walt­tä­tig­ste Land der Welt. Al-Zar­qa­wi ist der Kopf die­ses mon­strö­sen, schreck­li­chen Ter­rors.

  • Re­su­mé

Nach der Lek­tü­re ist man er­nüch­tert und re­ka­pi­tu­liert die Er­eig­nis­se, die in die­se schier aus­weg­lo­se Si­tua­ti­on ge­führt ha­ben.

Lässt man ei­nen Mo­ment den is­rae­lisch-pa­lä­sti­nen­si­schen Kon­flikt au­sser Acht, so ha­ben zwei Er­eig­nis­se den neu­en or­tho­do­xen Is­la­mis­mus be­för­dert, wenn nicht gar er­zeugt:

  • Der Über­fall der So­wjet­uni­on 1979 auf Af­gha­ni­stan.
  • Der Über­fall des Irak Sad­dam Hus­s­eins 1990 auf Ku­wait.

Al­le an­de­ren Er­eig­nis­se sind nur Fol­gen die­ser bei­den.

Rück­wir­kend be­trach­tet, hät­te bis Mit­te der 90er Jah­re die Mög­lich­keit be­stan­den, ra­di­kal-is­la­mi­sti­schen Kräf­ten mit ei­ner kon­zen­trier­ten Po­li­tik der Ver­nunft (nicht des Nach­ge­bens!) Wind aus den Se­geln zu neh­men. Die Be­we­gung, die sich Al-Qai­da nennt, wä­re nicht ver­hin­dert wor­den, hät­te aber nie so leich­tes Spiel ge­habt wie jetzt:

  • Die Ta­li­ban-Re­gie­rung eta­blier­te sich erst Mit­te der 90er Jah­re in Af­gha­ni­stan – bis da­hin wa­ren ei­ne Viel­zahl po­ten­ti­el­ler Dschi­ha­di­sten in den af­gha­ni­schen Bür­ger­krieg ver­strickt.
  • Die Prä­senz der US-ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen in Sau­di-Ara­bi­en war nach dem Sieg 1991 und der Re-Im­ple­men­tie­rung des ne­po­ti­sti­schen, an­ti-de­mo­kra­ti­schen Re­gimes in Ku­wait nicht von emi­nen­ter, stra­te­gi­scher Be­deu­tung.
  • Der Nah­ost-Frie­dens­pro­zess war mit dem Os­lo-Ab­kom­men 1995 gut vor­an­ge­kom­men. Das Schei­tern vom Camp Da­vid II im Jah­re 2000 hat u. a. da­mit zu tun, dass ins­be­son­de­re auf Ara­fat kein po­li­ti­scher Druck aus­ge­übt wur­de, der ihn zur An­nah­me der (sehr weit­ge­hen­den) Ver­ein­ba­run­gen ge­zwun­gen hat. Statt­des­sen be­gann die Zwei­te In­ti­fa­da.

In die­sem Kli­ma der „Wie­der­be­le­bung“ von Ge­walt setz­te Al-Qai­da auf Es­ka­la­ti­on: Die An­schlä­gen des 11. Sep­tem­ber 2001. Für Al-Qai­da hat­te die­se Ope­ra­ti­on Vor- und Nach­tei­le. Die Vor­tei­le la­gen in der un­ge­heue­ren, im Grun­de ge­nom­men bis heu­te an­dau­ern­den me­dia­len Wucht der er­zeug­ten Bil­der, in Ver­bin­dung mit dem di­rek­ten An­griff auf dem Ter­ri­to­ri­um des „Fein­des“. Das war in den USA seit Pearl Har­bor 1941 nicht mehr der Fall ge­we­sen; und auch da muss man hin­wei­sen, dass mit Pearl Har­bor nicht ein Fest­land­po­sten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka an­ge­grif­fen wur­de. Die Welt­macht USA und de­ren Stär­ke wur­de (kurz­fri­stig) re­la­ti­viert.

Nicht we­ni­ge Mus­li­me emp­fan­den beim An­blick der zer­stör­ten Twin Towers auch ei­ne ge­wis­se Ge­nug­tu­ung für die über Jah­re und Jahr­zehn­te emp­fun­de­nen De­mü­ti­gun­gen. Der „Er­folg“ hat­te vie­le Vä­ter – Bin La­den be­rich­tet, wie ihm die Idee be­reits wäh­rend des li­ba­ne­si­schen Bür­ger­krieg ge­kom­men war; al-Za­wa­hi­ri stellt den An­griff in sei­nen Schrif­ten eben­falls als ge­lun­gen dar, merkt je­doch durch­aus selbst­kri­tisch an, dass da­mit – vor­aus­seh­bar – die Ba­sen in Af­gha­ni­stan weg­bra­chen.

Dies ist be­reits der er­ste Nach­teil die­ser Ak­ti­on für Al-Qai­da: Wie zu er­war­ten war, be­gan­nen die USA und Ver­bün­de­te 2001 ei­nen (völ­ker­recht­lich frag­wür­di­gen) Luft­krieg ge­gen das Ta­li­ban-Re­gime in Af­gha­ni­stan, der in kur­zer Zeit und mit Bo­den­un­ter­stüt­zung ge­won­nen wur­de. Ei­ner­seits hat­te Al-Qai­da nun ei­nen ge­wal­ti­gen Exe­tus nicht nur an Per­so­nal zu ver­kraf­ten, son­dern vor al­lem hat­te man al­le Trai­nings­ba­sen ver­lo­ren, die seit Mit­te der 80er Jah­re für Nach­wuchs sorg­ten.

Die­ser Nach­teil konn­te nur teil­wei­se in ei­nen Vor­teil um­ge­münzt wer­den: Die Ideo­lo­gie, dass nach den „Un­gläu­bi­gen“ der UdSSR nun die „Un­gläu­bi­gen“ der USA die­ses Land be­setzt hiel­ten, ver­fing nicht rich­tig (zu­mal Pa­ki­stan als „Sam­mel­becken“ für ei­nen neu­en Kampf weg­fiel und so­gar Ver­bün­de­ter der USA wur­de). Af­gha­ni­stan liegt nun mal geo­gra­fisch an der Pe­ri­phe­rie und et­li­che Re­gie­run­gen der um­lie­gen­den (is­la­mi­schen) Staa­ten wa­ren im Grun­de froh, dass das Ta­li­ban-Re­gime nicht mehr an der Macht war, droh­te doch von dort aus auch ir­gend­wann ein­mal ein Über­schwap­pen der Ta­li­ban-Ideo­lo­gie auf das ei­ge­ne Land.

Die Kriegs­vor­be­rei­tun­gen der USA ge­gen den Irak, ba­sie­rend auf Lü­gen und ge­ziel­ten Des­in­for­ma­tio­nen, le­gi­ti­miert durch an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­ne In­ter­pre­ta­tio­nen der UN-Re­so­lu­tio­nen – DAS war die Ge­burts­stun­de des neu­en Dschi­ha­dis­mus. Der Ein­marsch in den Irak im April 2004 war die Frisch­zel­len­kur für Al-Qai­da.

Al­so: Wo sind die Po­li­ti­ker mit Weit­blick, die mit Em­pa­thie und ei­nem ge­wis­sen Ab­strak­ti­ons­ver­mö­gen die fest­ge­fah­re­ne west­li­che Po­li­tik aus der selbst­ver­schul­de­ten Un­mün­dig­keit her­aus­lö­sen?

Der Zeit­punkt, den Scha­den für bei­de Sei­ten zu be­gren­zen, scheint im Mo­ment ver­passt; die Si­tua­ti­on ver­fah­ren. Die Es­ka­la­ti­on, die von der neu­en Al-Qai­da-Ge­ne­ra­ti­on wie al-Zar­qa­wi her­bei­ge­bombt wird, macht ein Ver­han­deln mit die­sen Prot­ago­ni­sten un­mög­lich. Zu­mal es sich bei Al-Qai­da kaum noch um ei­nen hier­ar­chi­schen Ver­band han­deln dürf­te (viel­leicht war es auch nie ei­ner), son­dern viel­mehr um ver­schie­de­ne, stark he­te­ro­ge­ne Or­ga­ni­sa­tio­nen, die zwar mit­ein­an­der ver­netzt sind, aber doch re­la­tiv aut­ark han­deln. Bin La­den und al-Za­wa­hi­ri, die in ih­rer Be­weg­lich­keit of­fen­sicht­lich enorm ein­ge­schränkt sind, dürf­ten längst min­de­stens die Kon­trol­le über die Or­ga­ni­sa­tio­nen ver­lo­ren ha­ben – viel­leicht so­gar die Macht.

In ei­ni­gen Re­zen­sio­nen wird die Pri­mi­ti­vi­tät der Pa­ro­len der Al-Qai­da Prot­ago­ni­sten be­klagt. Das ist na­tür­lich ei­ner­seits rich­tig – es er­schrickt schon, mit welch ewig glei­chen Flos­keln dort ein Krieg pro­pa­gan­di­stisch ge­recht­fer­tigt wird. Aber er­stens soll­te man, im Glas­haus sit­zend, nicht Stei­ne wer­fen und zwei­tens scheint die­se sehr simp­le Spra­che zu ver­fan­gen, da sie ex­akt ins Herz der ara­bi­schen Mas­se trifft: Das Ge­fühl der Un­ter­le­gen­heit und ei­ner un­ge­rech­ten Be­hand­lung – im Grun­de ge­nom­men fühlt man sich als Spiel­ball des We­stens; nicht zu un­recht wird der Ab­zug der Ko­lo­ni­al­trup­pen als Be­ginn ei­ner an­de­ren, sub­ti­le­ren Ko­lo­nia­li­sie­rung be­trach­tet (die an der Aus­beu­tung der Öl­quel­len fest­ge­macht wird).

Der »or­tho­do­xe« Is­lam, der hier aus­ge­brei­tet wird, ist si­cher­lich kei­ne di­rekt glo­ba­li­sie­rungs­feind­li­che Be­we­gung, d. h. der Ka­pi­ta­lis­mus wird nicht aus­drück­lich ab­ge­lehnt. Die Stoss­rich­tung ist in der all­ge­mei­nen Kul­tur­he­ge­mo­nie des We­stens zu su­chen. Im­pli­zit ist ei­ne Furcht spür­bar, dass die west­li­che Kul­tur die »Um­ma«, die Ge­mein­schaft der Mus­li­me, zu Gun­sten an­de­rer Ori­en­tie­run­gen aus­höhlt.

In­ter­es­sant ist in die­sem Zu­sam­men­hang auch, dass die evan­ge­li­ka­le Be­we­gung in den USA (de­ren pro­mi­nen­te­ster Ver­tre­ter Bush ist) durch­aus ein ähn­li­ches »Ge­mein­schafts­ge­fühl« pro­pa­giert bzw. ih­re Wer­te­aus­rich­tung auch im We­sten ver­derb­te Struk­tu­ren aus­macht.

Oh­ne ihn über­hö­hen zu wol­len, aber manch­mal er­scheint mir Bin La­den wie ein mo­der­ner Mi­cha­el Kohl­haas, ei­ner der „ent­setz­lich­sten Men­schen sei­ner Zeit“, wie Kleist ihn gleich an An­fang cha­rak­te­ri­sier­te, des­sen „Rechts­ge­fühl“ ihn zum „Räu­ber und Mör­der“ mach­te. So be­rech­tigt Kohl­haas’ An­sprü­che wa­ren – sie wur­den dis­kre­di­tiert durch sei­ne aus­ufern­de Ra­che und blin­de Ge­walt. Ir­gend­wann wur­de in der Kleist-No­vel­le der Zeit­punkt er­reicht, als selbst die Er­fül­lung der ur­sprüng­li­chen For­de­rung nicht mehr die Kämp­fe be­en­den konn­te.


Das Buch her­aus­ge­ge­ben von Gil­les Ke­pel und Jean-Pierre Mil­le­li kon­fron­tiert den Le­ser nicht nur mit den Tex­ten aus ei­ner in mehr­fa­cher Hin­sicht an­de­ren Welt, son­dern zeigt auch den Weg in den Ab­grund an, auf den sich bei­de Kul­tu­ren im Mo­ment zu­be­we­gen. Die Lek­tü­re ist ge­le­gent­lich schwie­rig, aber für den in­ter­es­sier­ten Lai­en durch­aus mit Ge­winn ver­bun­den. Als ak­tu­el­le Stu­die ist das Buch in je­dem Fall emp­feh­lens­wert.

Zwar heisst es „Tex­te des Ter­rors“, aber ge­le­gent­lich hät­te man sehr ger­ne auch Aus­zü­ge von Is­lam­ge­lehr­ten ge­le­sen, die an­de­re Ex­ege­sen an­bie­ten. Die Ge­fahr des Bu­ches beim emo­tio­nal auf­ge­wühl­ten Le­ser könn­te dar­in lie­gen, dass der Is­lam ins­ge­samt mit den Prot­ago­ni­sten gleich­ge­setzt bzw. ver­wech­selt wird. In Wahr­heit wird von ei­ner re­la­tiv klei­nen Grup­pe von Dem­ago­gen nichts an­de­res ver­sucht, als die Deu­tungs­ho­heit bei der brei­ten ara­bi­schen Mas­se über den Is­lam mit plat­ten Pa­ro­len zu er­rin­gen. Das Phä­no­men ist im Prin­zip nichts Neu­es. Wer­den die­se Pa­ro­len je­doch mit Jen­seits­ver­spre­chun­gen tran­szen­den­tal un­ter­füt­tert, droht ei­ne Ent­wick­lung, wie sie uns nicht nur fremd, son­dern auch über­wun­den schien.


Tei­le: IIIIII


5 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Grüß­gott, Herr Keu­sch­nig, zu Ih­rem letz­ten Ab­schnitt hier ha­be ich ei­ne er­ste kur­ze Ant­wort hier ein­ge­stellt:

    Bei mir, we­gen der Ver­lin­kun­gen und For­ma­tie­run­gen, da bin ich oh­ne Hil­fe nicht so fit und ich fin­de, in ei­nem Kom­men­tar sieht das gräß­lich aus, wenn man es nicht rich­tig kann.
    Gruß
    BB

  2. Dan­ke
    für den Link. Ob Kom­men­ta­re mit Links gräss­lich aus­se­hen – ich find’s zweit­ran­gig; es kommt mir mehr auf den In­halt an.

    Ih­re »Kurz­fas­sung« ei­nes Vor­tra­ges fand ich sehr in­ter­es­siert.

    Der Sturm auf die gro­sse Mo­schee wird im Buch – wenn ich mich recht er­in­ne­re – nur ein­mal er­wähnt. Auch in den aus­ge­wähl­ten Tex­ten spielt er nur ei­ne un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le. Hier scheint dann die Aus­wahl der Her­aus­ge­ber ent­schei­dend zu sein; die tat­säch­li­che Be­deu­tung scheint wich­ti­ger zu sein.

    Reiz­voll wä­re es, par­al­lel ein an­de­res Buch zu le­sen, wel­ches jetzt auch die Ori­gi­nal-Tex­te von Bin La­den ab­druckt und kom­men­tiert.

    Bei al­lem muss ich be­to­nen, das ich nur in­ter­es­sier­ter Laie bin. Da ich Ih­ren Po­stings ent­neh­me, dass Sie sich u. a. auch in der Re­gi­on sel­ber auf­ge­hal­ten ha­ben, dürf­ten Sie mehr Kennt­nis­se be­sit­zen, als ich. Ge­ra­de des­halb wä­re es für mich in­ter­es­sant, wie Sie mei­ne Re­zen­si­on und die Schlüs­se, die ich hier­aus ge­zo­gen ha­be, be­ur­tei­len.

  3. Kohl­haas
    Der Kohl­haas­ver­gleich ist stark, auch be­rech­tigt? Im­mer­hin star­te­te Kohl­haas auf dem Fun­da­ment des Recht­ha­bens, wähl­te nur die fal­schen Mit­tel. Hat­te Bin La­den ur­sprüng­lich ei­ne mo­ra­lisch le­gi­ti­mier­te Ba­sis? Aus dem Text le­se ich das nicht raus, da der mög­li­cher­wei­se als Ar­gu­ment wir­ken­de An­griff der Rus­sen auf Af­gha­ni­stan eher An­lass als Ur­sa­che zu sein scheint.

  4. Die Achil­les­ver­se
    mei­nes Bil­des (zur Eh­ren­ret­tung der Au­toren­schaft des be­spro­che­nen Bu­ches: es ist „mei­ne“ Me­ta­pher)- im Grun­de ge­nom­men die Fra­ge: War Bin La­den ir­gend­wann ein­mal auch der »recht­schaf­fen­de« Mensch (als den ihn Kleist ja auch cha­rak­te­ri­siert)?

    Geht man da­von aus, dass Af­gha­ni­stan als sou­ve­rä­ner Staat in ei­nem im­pe­ria­len Akt mi­li­tä­risch an­ge­grif­fen wur­de, so kann man (mit viel Wohl­wol­len) dies als An­lass be­wer­ten. Ich set­ze zu­nächst ein­mal vor­aus, dass Bin La­dens An­sin­nen au­then­tisch und nicht pri­mär macht­po­li­ti­schen Über­le­gun­gen zu­zu­ord­nen war. Das ist na­tür­lich ei­ne An­nah­me. Merk­wür­dig mu­tet das In­ter­es­se für ein Land an, wel­ches geo­gra­phisch eher am Rand liegt.

    Üb­ri­gens trotz der Be­sat­zung Af­gha­ni­stans durch die So­wjet­uni­on und dem jah­re­lan­gen Krieg in Tsche­tsche­ni­en ist die Rhe­to­rik, was den Feind des Is­lam an­geht ge­gen­über (dem heu­ti­gen) Russ­land deut­lich re­du­zier­ter als hin­sicht­lich der USA. Ob dies an der Aus­wahl der vor­ge­stell­ten Tex­te liegt oder tat­säch­lich der Fall ist, ver­mag ich lei­der nicht zu sa­gen.

    Man könn­te na­tür­lich auch an­neh­men, dass der Jahr­zehn­te an­dau­ern­de Pa­lä­sti­na-Kon­flikt (nebst den di­ver­sen Krie­gen) der Ur­sprung al­ler an­de­ren Kon­flik­te dar­stellt. In­so­fern ist es für die mus­li­mi­sche Welt schwer nach­voll­zieh­bar, dass es gül­ti­ge UN-Re­so­lu­tio­nen gibt, die sich ge­gen be­stimm­te Hand­lun­gen Is­ra­els aus­spre­chen, die je­doch nicht „um­ge­setzt“ wer­den (näm­lich not­falls mit Ge­walt), wie es der We­sten meh­re­re Ma­le seit 1990 im Irak (und Ku­wait) vor­ex­er­ziert hat. Dies wi­der­spricht dem Rechts­ge­fühl der Mas­sen.

    In­wie­fern die or­tho­do­xe Aus­le­gung der Re­li­gi­on nur vor­ge­scho­ben ist, ver­mag ich nicht zu be­ur­tei­len. Die Aus­füh­rung vie­ler Ter­ror­an­schlä­ge legt den Schluss na­he, dass der re­li­giö­se Im­pe­tus beim aus­füh­ren­den „Krie­ger“ sehr wohl stark vor­han­den ist.

    Bin La­dens Bot­schaft an das ame­ri­ka­ni­sche Volk von 2004 ha­be ich als ver­steck­tes „An­ge­bot“ ge­le­sen. Al­ler­dings ist dies kaum mehr mög­lich. Der We­sten hat zwar mehr­fach höch­ste Fle­xi­bi­li­tät ge­zeigt, als es ging, um des Frie­dens wil­len mit Mör­dern und Ter­ro­ri­sten zu ver­han­deln (z. B. Ara­fat; Kö­nig Hus­sein; Be­gin; Scha­ron; in Eu­ro­pa: IRA), aber die Ta­ten der Al-Qai­da Rie­ge sind zu mon­strös.

    Es geht wohl schon län­ger nicht mehr um die Pfer­de des Mi­cha­el Kohl­haas.