Fortgesetzt von hier
-
Die Texte Bin Ladens
Die authentischen Texte sind von einer recht perfiden, offenbar ungeheuer wirksamen Demagogie; textlich für jeden verständlich, sich stringent an den (politischen) „Fehlern“ des Feindes orientierend (die dieser mit fortschreitender Zeit immer bereitwilliger zu machen scheint), um dann am Ende metaphernreich die Einheit der Umma, der Gemeinschaft der Muslime beschwörend und dann dem Feind drohend. (Über den eminent wichtigen, illustrativen Charakter seiner Videobotschaften ist schon eingegangen worden.)
Im Gegensatz zu Abdullah Azzam und Ayman al-Zawahiri, die zu ihrer jeweiligen Zeit religiöse (also auch ideologische) Vordenker waren (hierüber wird noch zu sprechen sein), ist Bin Laden eher der „Marketingmanager“, der, die Religiosität implizit voraussetzend, mit der Zeit seine Botschaften als Lagebeschreibungen im „Heiligen Krieg“ inszeniert, stets rekurrierend auf dem den Mudschaheddin ausschliesslich zugeschriebenen Sieg in Afghanistan, der die Vertreibung der sowjetischen Truppen bewirkte.
Zwar hält Bin Laden die klassischen Regeln muslimischer Rhetorik ein (Einleitung mit dem Lob Gottes und des Propheten, Zitat von Gedichten und Koranversen und dem Schluss mit einer Bitte), aber der Kern ist Propaganda fürs Volk, Aufzeigen der Niederlagen, die den Ungläubigen bereits zugefügt wurden, Durchhalteparolen, Zukunftsversprechen, Drohungen und Siegesbeschwörungen – also „Public Relations“ (so nenne man das inzwischen, wie ich neulich belehrt wurde).
Es gibt noch einen anderen Unterschied Texten Azzams und al-Zawahiris. Während diese auch deutlich missionarische Komponenten propagieren, den „Heiligen Krieg“ zur persönlichen Pflicht jeden Muslims postulieren, um am Ende den Glauben auch weiter zu verbreiten, so verwendet Bin Laden häufig die Rhetorik der Verteidigung gegen den Kreuzzug gegen die muslimische Welt oder zitiert andere Gelehrte: Was den Verteidigungskampf anbetrifft, so ist am nötigsten von allen, und den zurückzuschlagen, der die Ehre und die Religion angreift, ist nach einhelliger Meinung Pflicht.
Insgesamt werden acht Texte Bin Ladens vorgestellt. Der erste, 1991 erstmals erschienen, ist ein Monolog Bin Ladens, der die Historie des Krieges in Afghanistan aus seiner Sicht darstellt. Zwei andere sind Interviews (eines mit Peter Arnett [1997, also ein Jahr vor dem „offziellen“ ersten Terroranschlag von Al-Qaida] und eines mit Al-Dschasira [im Dezember 1998; es sind eher Monologe über sein bisheriges Leben und die Ziele, die er verfolgt: Unser Ziel ist es deshalb, das Land des Islam vom Unglauben zu befreien und das Gesetz Gottes (gelobt und gepriesen sei Er!) anzuwenden]).
In den frühen Texten Bin Ladens werden zwei Punkte, die ihn antreiben, immer wieder herausgestellt: Die Stationierung der amerikanischen Truppen im „Land der beiden Heiligen Stätten“ (inakzeptabel für ihn: das Verhalten der Frauen in der US-Armee) und der seit Jahrzehnten andauernde Konflikt um Palästina.
Zwar zeigt Bin Laden, dass er sich sehr gut in der Welt auskennt, was die „Unterdrückungen“ oder „Ungerechtigkeiten“, die Muslimen in der Welt zugefügt werden, beispielsweise in Tadschikistan, Birma, den Philippinen, Kaschmir, Assam, Eritrea, Bosnien, Somalia, Tschetschenien – aber dies dürften nur Nebenschauplätze für ihn sein, zumal etliche der oben genannten Konflikte, die Bin Laden in einer Botschaft von 1996 aufzählt, oft genug Konflikte mit eher sezessionistischem Charakter waren bzw. sind.
Im Laufe des Jahres 1998 kommt noch der Boykott der Vereinten Nationen gegen den Irak dazu, den er auch noch erwähnt. Dabei muss unbedingt berücksichtigt werden, dass dies nicht mit einer „Bruderschaft“ Bin Ladens mit Saddam Hussein einher geht; den irakischen Ex-Diktator lehnte Bin Laden alleine schon wegen seines protzigen Laizismus ab. Aber der Boykott, einer der „Spätfolgen“ des Feldzugs der USA im Irak 1991, passte natürlich exakt ins Konzept Bin Ladens, zumal die Überwachung der Flugverbotszone u. a. vom Stützpunkt der US-Truppen in Saudi-Arabien geschah.
In den Texten nach dem 11.9.2001, die abgedruckt sind, brüstet sich Bin Laden natürlich mit der schönen Operation, die den Mythos vom grossen Amerika zum Einsturz gebracht haben soll. Die danach stattgefundene Beseitigung des Taliban-Regimes in Afghanistans und der Irakkrieg der USA ab 2003 liefern Bin Laden immer neue Rechtfertigungen, die er verwendet, um seinen Anhängern zu zeigen, welche Aggressoren die USA darstellen. Im Oktober 2003 werden die Prioritätn „verlagert“ – vom Heiligen Krieg von der arabischen Halbinsel (Saudi Arabien) hin zur Bekämpfung der Besatzungstruppen und deren Unterstützer im Irak. Das bedeutet allerdings wohl nicht, dass die anderen Schauplätze aus den Augen verloren wurden.
-
»Botschaft an das amerikanische Volk«
Am 30. Oktober 2004, wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, meldet sich Bin Laden erneut. Seine Video-Präsentation war diesmal sehr viel „westlicher“; die Höhle wurde mit dem Schreibtisch vertauscht, es gab kein Maschinengewehr im Bild und die muslimische Rhetorik wurde zu Gunsten der Verständlichkeit für Nicht-Muslime weggelassen bzw. abgeschwächt. Der Text ist noch mehr verteidigend ausgerichtet – fast könnte man sogar sagen, er sei „rechtfertigend“. Etwa, wenn er sagt:
Beim Anblick der zerstörten Türme im Libanon [um die beiden höchsten Türme von Beirut, das „Holiday Inn“ und den „Murr“-Turm, tobte während des libanesischen Bürgerkrieges die „Schlacht der Hotels“ im September 1975] ist mir die Idee gekommen, dem Mörder mit gleicher Münze heimzuzahlen und die Türme in Amerika zu zerstören, damit Amerika ein wenig von dem erleidet, was wir erlitten haben, und aufhört, unsere Frauen und Kinder zu töten. Damals habe ich begriffen, dass es leit langem ein amerikanisches Gesetz ist, absichtlich Frauen und Kinder zu töten: Der Staatsterror heisst Freiheit und Demokratie, und der Widerstand heisst Terrorismus und Opposition. Genauso verhält es sich mit der Ungerechtigkeit und dem Embargo, bis der Tod eintritt, wie es Bush senior im Irak gemacht hat, wo er das grösste Massaker an Kindern verursachte, oder die massiven Bombenangriffe auf Millionen Kinder, wie es Bush junior gemacht hat, um einen alten Verbündeten [Saddam Hussein] zu stürzen und ihn durch einen neuen zu ersetzen, damit er, neben anderen Verbrechen, das irakische Öl stehen konnte.
Vor diesem Hintergrund sind die Ereignisse vom 11. September geschehen als eine Erwiderung auf diese gewaltigen Ungerechtigkeiten, denn kann man dem einen Vorwurf machen, der sich nur verteidigt? Ist es auch Terrorismus, wenn man sich verteidigt und den Unterdrücker bestraft?
In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, dass Bin Laden mit der Verteidigungsrhetorik nicht nur an die Anfänge der Besiedlung der Vereinigten Staaten anknüpft, sondern das noch heute von der sehr einflussreichen Waffenlobby vorgebrachte „Argument“ der „Selbstverteidigung“ aufgreift – eine Formulierung, die also, so vermutlich das Kalkül, auch dem einfachen Durchschnittsamerikaner bekannt sein dürfte.
Bin Laden setzt fort: Wenn es so ist, hatten wir keine andere Wahl.
Die Passage zeigt, mit welchem Geschick Bin Laden offensichtlich nicht nur muslimische Rhetorik beherrscht. Weiter heisst es:
...haben sich die angeblichen Verteidiger der Freiheit im Weissen Haus und die Fernsehsender, die unter ihrer Knute stehen, die Mühe gemacht, sich mit ihnen [den Personen, die Bin Laden Jahre vorher interviewt hatten] zu unterhalten und dem amerikanischen Volk mitzuteilen, was sie über die Gründe des Kampfes, den wir gegen euch führen, erfahren hatten?
Wenn ihr diese Gründe vermeidet, seid ihr auf dem richtigen Weg, um euch wieder der Sicherheit zu erfreuen, die ihr vor dem 11. September 2001 genossen habt. Nun zum Krieg und seinen Gründen.
Die Folgen sind, dem allmächtigen Gott sei Dank, höchst positiv, sie übersteigen jede Erwartung und jedes Mass, und zwar aus mehreren Gründen. Wir wussten genau, wie die Regierung Bush zu behandeln war, denn sie ähnelt den Regimen in unseren Ländern, die zur Hälfte von Militärs regiert werden und zur anderen Hälfte von Königssöhnen oder Präsidenten. Wir kennen sie gut, denn beide Arten zeichnen sich aus durch Hochmut und Arroganz, Gier und Korruption.
[...] Darum hat er [Bush sen.] den Despotismus und die Verachtung der Freiheiten auf seinen Sohn übertragen, der daraus ein „patriotisches Gesetz“ gemacht hat unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen.
Bush senior ist es gelungen, seine Söhne an die Spitze von Bundesstaaten zu bringen mit Hilfe von Wahlbetrug, der für schwierige Zeiten von uns nach Florida exportiert wurde.
Bin Laden zeigt sich über die Politik der USA informiert und formt nebenbei die Wahrheit so, wie sie ihm passt, wie auch bei dieser Verspottung von Bush jr.:
...es wäre uns niemals in den Sinn gekommen, das der oberste Chef der amerikanischen Streitkräfte 50.000 Mitbürger in den Türmen mit ihrer Qual allein lassen würde in dem Augenblick, als sie ihn am dringendsten brauchten, weil er lieber einem kleinen Mädchen zuhörte, das von seiner Ziege und ihren Hörnerstössen erzählte, als sich um die Flugzeuge und ihre Hörnerstösse gegen die Wolkenkratzer zu kümmern...
Zurecht wird im Kommentar auf Michael Moores Film „Fahrenheit 9/11“ verwiesen, den Bin Laden sicherlich gesehen hat.
Es wurde seinerzeit in den Medien kolportiert, dass Bin Laden mit diesem „Beitrag“ Partei für Kerry ergriffen habe. Dabei wird Kerrys Name wird nur einmal genannt:
Wisst, dass es besser ist, zum Guten zurückzukehren, als im Irrtum zu verharren, und dass vernünftige Leute weder ihre Sicherheit noch ihr Geld, noch ihre Kinder für den Lügner im Weissen Haus vernachlässigen.
Zum Schluss sage ich euch in aller Offenheit, dass eure Sicherheit nicht in den Händen von Kerry, Bush oder Al-Qaida liegt; eure Sicherheit liegt in euren Händen, und jeder Staat, der unsere Sicherheit nicht vernachlässigt, sorgt für seine Sicherheit.
Kurz vorher eine andere Drohung: Ich will euch nur daran erinnern, dass jeder Aktion eine Reaktion nach sich zieht.
-
Zwischenbilanz
Das Buch vermeidet eine Bewertung der Texte Bin Ladens; die Kommentare versuchen, sachliche Erläuterungen zu Begriffen, historischen Daten oder Personen zu geben (auch kleinere Interpretationen von Koran-Zitaten), was grösstenteils gelingt.
Nach dieser Lektüre scheint klar zu sein, dass es ein grosser Fehler der Bush-Administration war nach dem 11. September vom „Krieg gegen den Terrorismus“ und sogar – am Anfang – vom „Kreuzzug“ zu sprechen. Damit wurde nicht nur die Rhetorik von Al-Qaida, die, wie sich noch zeigen wird, mindestens seit Mitte der 90er Jahre vom Heiligen Krieg und dessen Pflicht spricht, übernommen, sondern den Predigten der Vordenker des Terrorismus nachträglich Wasser auf die Mühlen gegeben.
Desweiteren war die Besatzung des Irak und Beseitigung von Saddam Hussein in Wirklichkeit ein Rekrutierungsprogramm für Al-Qaida (wie sich noch zeigen wird, dürfte die „Einheit der Muslime“, die Bin Laden in seinen Texten beschwört, vermutlich bald zu Gunsten einer sunnitisch dominierenden Glaubensrichtung „abgelöst“ werden, was nicht ohne Probleme vor sich abgehen dürfte).
Kann es im übrigen sein, dass das Ansprechen niederer Instinkte, das Auslassen, Zurechtbiegen und Fälschen von Wahrheiten, die unheimlichen Drohgebärden, die wahnwitzigen Verschwörungstheorien, die falschen Versprechungen, die scheinbar nicht mehr aufzuhaltenden Gewalteskalationen – kurz, dass sich beide Seiten mit zunehmender Dauer immer ähnlicher werden?